Eine potenziell gefährliche Kombi |
Trotz der bekannten Risiken verschiedener Arzneistoffe bei Hitze fehlt es an konkreten Hinweisen zum Umgang mit diesen, sowohl in der individuellen Beratung und Dispensierung als auch in der Verordnung. Das Projekt ADAPT-HEAT zielt darauf ab, solche Hinweise strukturiert wissenschaftlich zu erarbeiten.
Initiiert durch das Institut für Allgemeinmedizin der Universität zu Köln, wird das Projekt seit Januar 2024 gemeinsam mit der PMV Forschungsgruppe der Universität zu Köln und dem Institut für Allgemeinmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover umgesetzt. Dr. Maxie Bunz und Professor Dr. Beate Müller leiten das Projekt.
Die im Projekt entwickelte Calor-Liste (lateinisch: calor = Hitze) soll eine Übersicht über relevante Risikomedikamente geben. Sie soll das Fachpersonal in Apotheken, Krankenhäusern und Arztpraxen bei der Beratung zu Medikamenten in Hitzeperioden unterstützen, ebenso bei der Entscheidungsfindung rund um eine (vor)sommerliche Medikamentenanpassung.
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In transdermalen therapeutischen Systemen (TTS) liegt der Wirkstoff suspendiert vor und wird aus dem Arzneistoffreservoir entweder direkt (matrixgesteuert) oder durch eine Membran (membrangesteuert) freigesetzt. Damit ein Wirkstoff transdermal appliziert werden kann, muss er eine ausreichende Hautpermeabilität aufweisen. Dazu tragen eine Molekülmasse unter 500 Dalton und eine hohe Lipophilie bei. Über subkutane Blutgefäße gelangt der Wirkstoff in den systemischen Kreislauf.
Eine gesteigerte Schweißproduktion kann die Haftfähigkeit des Pflasters beeinträchtigen. Darüber hinaus kann eine erhöhte Temperatur die Wirkstofffreisetzung beschleunigen und die stärkere Hautdurchblutung die Absorptionsgeschwindigkeit erhöhen. Dies zeigte sich auch in Forschungsarbeiten. Die Freisetzungsrate von Fentanyl, Diclofenac und Lidocain aus TTS stieg bei Erwärmung an. Fentanyl erreichte eine bis zu dreimal höhere Maximalplasmakonzentration und In-vitro-Untersuchungen konnten bei 40 °C gegenüber 32 °C eine doppelt so hohe Permeationsrate des Wirkstoffes innerhalb von 24 Stunden nachweisen. Damit steigt die Gefahr einer Überdosierung, die zu Übelkeit, Sedierung oder sogar zum Atemstillstand führen kann.
Bei der Untersuchung von topischem Lidocain stieg die Plasmakonzentration nur während der ersten zwei Stunden der Erhitzung an und normalisierte sich danach. In-vitro-Studien zeigten auch für diesen Wirkstoff eine zweieinhalb- bis dreifach höhere Freisetzung aus dem TTS unter Hitze. Symptome einer Überdosierung von Lidocain können Hypotonie, Schwindel und Krampfanfälle sein.
Für Granisetron oder Estradiol/Levonorgestrel zeigte sich in vivo keine erhöhte Freisetzungsrate (17).
Um die Calor-Liste zu erstellen, wurde zunächst eine umfassende Literaturrecherche in verschiedenen Literaturdatenbanken durchgeführt. Eine Best-Practice-Recherche – mit Fokus auf Ländern mit heißem Klima wie Australien, Italien und Spanien – ergänzte die Hinweise aus der Literatur durch Veröffentlichungen von Gesundheitsämtern, Ministerien und Fachverbänden.
Aus den Rechercheergebnissen wurden mehr als 70 Hinweise kondensiert. In einem sogenannten Delphi-Verfahren bewerteten mehr als 30 Expertinnen und Experten für Arzneimittelversorgung und/oder für die Auswirkungen von Hitze auf die Gesundheit deren Inhalte und Formulierungen. Dabei lag der Fokus darauf, die Relevanz und Umsetzbarkeit im Stations-, Apotheken- und Praxisalltag einzuschätzen.
Zusätzlich wurde anhand von GKV-Abrechnungsdaten und Wetterdaten der vergangenen Jahre untersucht, wie relevant der Einfluss der identifizierten Wirkstoffe auf die Gesundheit während Hitzewellen ist. Dabei wurden neben der Verordnungshäufigkeit auch gesundheitliche Auswirkungen wie Hospitalisierungen untersucht und mit Kontrollzeiträumen ohne Hitzewellen verglichen.
Ein aktueller Entwurf der Calor-Liste wird während der Sommermonate bundesweit in neun Apotheken, zwölf Arztpraxen und sechs Krankenhäusern getestet. Anschließend wird die Liste mithilfe der Rückmeldungen aus diesen Testeinrichtungen finalisiert und Fachkreisen ab dem Sommer 2026 zur Verfügung gestellt. Zudem sind Informationsmaterialien für Patienten geplant.
Auswirkungen bei Hitze | Wichtige Wirkstoffgruppen und Beispiele |
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Dehydratation, Elektrolytstörung | Diuretika, Laxanzien |
Einfluss auf die zentrale Thermoregulation | selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI), Antipsychotika, zentrale Sympathomimetika wie Methylphenidat, Opioide oral und als TTS |
verminderte Körperwahrnehmung aufgrund von Sedierung | Benzodiazepine, Z-Substanzen, sedierendeH1-Antagonisten, sedierende Antidepressiva |
verstärkte Wirkung durch rascheres Anfluten des Wirkstoffs | organische Nitrate, Testosteron, Nikotin, Opioide als TTS |
vermindertes Schwitzen | H1-Antagonisten, besonders der 1. Generation: Diphenhydramin, Doxylaminzentrale a-2-Agonisten: Clonidin, MoxonidinAntiepileptika: Topiramat, Zonisamid, CarbamazepinAntipsychotika: Olanzapin, Quetiapin, Butyrophenone: Melperon, Pipamperon oder HaloperidolAnticholinergika: Procyclidin |