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Arzneimittelabhängigkeit

Diese Wirkstoffe haben Suchtpotenzial

Der Übergang von einer sachgerechten Arzneimittelanwendung hin zu Missbrauch oder Abhängigkeit ist mitunter fließend und nicht immer leicht zu erkennen. Ein Überblick über ausgewählte Wirkstoffe und Mechanismen.
Maria Pues
14.06.2022  12:30 Uhr

Benzodiazepine/Z-Substanzen und Barbiturate, aber auch Stimulanzien und Opiate/Opioide gehören unter den verschreibungspflichtigen Arzneimitteln zu den häufig missbräuchlich verwendeten Wirkstoffen. Im Blick behalten sollten Apotheker aber auch Patienten, die häufig nach rezeptfreien Schmerzmitteln, H1-Antihistaminika der ersten Generation oder abschwellenden Rhinologika fragen. Auch hier können erwünschte Wirkungen und Wege in einen Fehlgebrauch eng beieinanderliegen. Über diese und weitere Substanzen informiert der Band »Medikamenten-Abhängigkeit« der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen.

Benzodiazepine/Z-Substanzen

Bereits nach zwei bis vier Monaten regelmäßiger Anwendung von Benzodiazepinen oder deren Analoga (Z-Substanzen) in therapeutischen Dosen kann sich eine Abhängigkeit entwickeln, in hohen Dosen schon nach etwa vier Wochen. Arzneistoffe aus diesen Gruppen wirken unter anderem sedierend und schlaffördernd sowie angstlösend und muskelentspannend. Nach längerer Anwendung können beim Absetzen allerdings genau die Symptome auf­treten, gegen die sie ursprünglich verschrieben worden waren. Von Betroffenen wird dies oft nicht als Entzugssymptomatik gedeutet, sondern als Zeichen für eine zu kurze Behandlungsdauer und ein Weiterbestehen der ursprünglichen Beschwerden. Im Verlauf der (zu langen) Anwendung kann es zu Dosissteigerungen kommen, häufig ist dies jedoch nicht der Fall. Mediziner sprechen dann von einer Niedrigdosis-Abhängigkeit (Low-Dose-Dependency). Das gesamte Spektrum an möglichen Nebenwirkungen einer Langzeitanwendung beschreibt das Fünf-Phasen-Modell. Bei der Verschreibung sollte daher auf die 4-K-Regel geachtet werden:

Benzodiazepine und Z-Substanzen binden als Agonisten an den GABAA-Rezeptor im Gehirn. Dabei handelt es sich um einen liganden­gesteuerten Chloridkanal: Infolge der Bindung von γ-Aminobuttersäure (GABA) öffnet sich der Kanal und Chlorid strömt ein. Da­raus resultiert eine hemmende Wirkung auf die entsprechende Nervenzelle. Benzodiazepine verstärken diese Wirkung des physiologischen Transmitters GABA, der wiederum – anders als bei Barbituraten – seinerseits die Wirkung des Benzodiazepins/der Z-Substanz begrenzt.

Barbiturate

Barbiturate binden ebenfalls an Untereinheiten des GABAA-Rezeptors, öffnen anders als Benzodiazepine den Chloridkanal jedoch direkt. Als Schlaf- oder Beruhigungsmittel finden sie aufgrund der höheren Sicherheit der Benzodiazepine/Z-Substanzen keine Verwendung mehr. Zudem greifen sie stärker als diese in die Schlafarchitektur ein, indem sie die REM-Phasen unterdrücken, was beim Absetzen zu einem REM-Rebound führen kann. Eingesetzt werden sie heute als Antikonvulsiva.

Bei anhaltender missbräuchlicher Anwendung kann es in geringen Dosierungen paradoxerweise zu einer leichten Euphorie kommen, Barbiturat-Abhängige fühlen sich dann wacher und lebhafter. In höherer Dosierung tritt die sedierende und hypnotische Wirkung in den Vordergrund. Bei länger dauernder Anwendung induzieren Barbiturate CYP-Enzyme und damit ihren eigenen Abbau, was eine Toleranzentwicklung fördern kann.

Opiate/Opioide

Opiate/Opioide werden zur Linderung starker Schmerzen, etwa nach Opera­tionen oder bei Tumorerkrankungen, eingesetzt. Ihre zentralen Wirkungen kommen dabei über µ-, κ- und δ-Opioid­rezeptoren zustande. Schmerzimpulse werden unterdrückt, Schmerzen nicht mehr als so quälend wahrgenommen. Daneben wirken die Substanzen sedierend, hemmen Angstgefühle und können die Stimmungslage des Patienten verändern (sowohl positiv als auch negativ). Eine Toleranzentwicklung und Abhängigkeit, die aus einer Anwendung in großen Mengen, über längere Zeit und ohne Indikation resultieren kann, wird über µ-Rezeptoren vermittelt.

Stimulanzien

Methylphenidat ist der wohl am häufigsten angewendete Wirkstoff aus der Gruppe der Stimulanzien. Er wird zur Behandlung von Aufmerksamkeitsdefizit- beziehungsweise Aufmerk­samkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADS beziehungsweise ADHS) und von Narkolepsie angewendet. Methyl­phenidat wird als Wiederaufnahme-Hemmer von Noradrenalin und Dopamin in das präsynaptische Neuron angesehen und erhöht die Freisetzung dieser Monoamine in den extraneuronalen Raum. Der Wirkmechanismus bei der ADHS ist nicht bekannt. Im Kontext einer Suchtentwicklung ist eine Unterscheidung wichtig: So haben Jugendliche mit ADHS ein erhöhtes Risiko für Sucht­erkrankungen. Dieses sinkt jedoch durch eine adäquate Therapie.

Davon zu unterscheiden ist die missbräuchliche Anwendung für nicht medizinische Zwecke, etwa bei der Gewichtsabnahme (appetithemmender Effekt), Leistungssteigerung (»Hirndoping«) oder als Wachmacher, die in eine Abhängigkeit münden können. Werden Psychostimulanzien abgesetzt, kommt es häufig zu Schlaffheit und einem Katergefühl, das oft zu einem weiteren Missbrauch dieser Substanzen führt.

Kopfschmerzmittel

Rezeptfreie Schmerzmittel aus der Gruppe der nicht steroidalen Antirheumatika wie Acetylsalicylsäure, Ibuprofen oder Diclofenac sowie Paracetamol werden häufig bei Spannungskopfschmerz oder Migräne, aber auch bei Fieber angewendet. Sie sollten nicht häufiger als drei Tage hintereinander und maximal 15 Tage im Monat eingenommen werden, da andernfalls ein medikamenteninduzierter Kopfschmerz entstehen kann, der zu weiteren Einnahmen führt – ein Teufelskreis. Als mögliche Ursache wird angenommen, dass es dabei zu einer Absenkung der Schmerzschwelle kommt, also das Schmerzempfinden früher einsetzt.

H1-Antihistaminika

H1-Antihistaminika der ersten Generation erreichen, anders als spätere Vertreter dieser Substanzklasse, neben den beabsichtigten peripheren auch zentrale H1-Rezeptoren und besitzen daher neben der antiallergischen auch eine sedierende Wirkung. Daher werden sie auch als Ein- und Durchschlafmittel eingesetzt. In hohen Dosierungen wird eine Toleranzentwicklung vermutet. Zu beachten ist außerdem, dass es beim Absetzen nach längerer Einnahme zu Unruhe und Schlafstörungen kommen kann. In der Selbstmedikation sollten sie daher nicht länger als zwei Wochen angewendet werden.

Vasokonstriktorische Rhinologika

Auch wenn es sich nicht um eine klassische Abhängigkeit handelt: Nicht länger als fünf bis sieben Tage sollten abschwellende Nasensprays oder -tropfen angewendet werden. Sie wirken agonistisch an α-Adrenozeptoren und bewirken so eine Vasokonstriktion der Blutgefäße in der Nasenschleimhaut. Werden sie länger als empfohlen angewendet, kommt es zu einer Gegenregulation des Körpers, neue Gefäße werden gebildet und/oder kleinere Gefäße geweitet: Die Nase verstopft erneut. Man spricht dann von einem Rebound-Phänomen und einer Rhinitis medicamentosa Bei weiterer dauerhafter Anwendung kann es zu einer Atrophie der Nasenschleimhaut kommen.

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