Die große Unbekannte |
| Annette Rößler |
| 10.06.2020 11:16 Uhr |
Auf deutschen Intensivstationen mussten glücklicherweise deutlich weniger Covid-19-Patienten versorgt werden als zu Beginn der Pandemie befürchtet. / Foto: Shutterstock/sfam_photo
»Covid-19 eine Multisysteminfektion: Krankheitsverlauf, Komplikationen und Abgrenzung zu anderen Erkrankungen« hieß der Vortrag von Dr. Holger Neb, der als Intensivmediziner an der Universitätsklinik in Frankfurt am Main arbeitet. Dort wurden seit Ausbruch der Pandemie insgesamt 82 Covid-19-Patienten behandelt – weit weniger, als zunächst erwartet worden waren. Auch andernorts in Deutschland seien die Intensivstationen mittlerweile so leer, dass die Kliniken ihre eigens für die Pandemie eingerichteten Bereiche wieder zurückführen, berichtete Neb. Für den Fall einer zweiten Infektionswelle könnten die Kapazitäten jedoch schnell wieder aufgebaut werden.
Andere Länder hatten und haben bekanntlich weitaus größere Probleme. Doch trotz einer beispiellosen Flut an Veröffentlichungen, mittels derer Ärzte und Forscher ihre Beobachtungen und Erfahrungen mit der Erkrankung mit Kollegen in aller Welt teilen, müsse man sagen: »Verstanden haben wie die Erkrankung noch lange nicht.« In einigen Fällen hätten sich die Einschätzungen auch schon grundlegend geändert, sobald neue Erkenntnisse hinzugekommen seien.
Obwohl Dr. Holger Neb bei seinem Pharmacon-Vortrag mit technischen Problemen bei der Tonübermittlung zu kämpfen hatte, bekam er viele Likes. / Foto: PZ/Siebenand
Beispiel ACE-Hemmer: Von diesen Arzneistoffen war zu Beginn der Pandemie vermutet worden, dass sie mit einem erhöhten Risiko für Infektionen mit SARS-CoV-2 und/oder einem schweren Covid-19-Verlauf assoziiert sein könnten, da das Pandemievirus den ACE2-Rezeptor nutzt, um in menschliche Zellen einzudringen. Dieser Verdacht hat sich bislang nicht bestätigt. Obwohl eine der entlastenden Studien zurückgezogen werden musste, gelten ACE-Hemmer als entlastet – und werden aufgrund ihrer antifibrotischen Wirkung mittlerweile sogar als mögliche therapeutische Option bei Covid-19 diskutiert. »Hier hat eine Kehrtwende um 180 Grad stattgefunden«, sagte Neb.
Eine Beobachtung aus der Praxis ist, dass die Erkrankung in Schüben verläuft. Vom Beginn der Symptome an dauere es etwa eine Woche, bis der Patient Atemnot entwickele, berichtete Neb. Bemerkenswert sei, dass die Sauerstoffsättigung des Bluts in der Regel bereits vorher abgenommen habe. Diesen stillen Sauerstoffmangel bemerkten die Patienten nicht; er sei aber von außen erkennbar, da die Betroffenen blaue Lippen hätten. Erst wenn durch eine fortschreitende Schädigung des Lungengewebes das Abatmen von CO2 behindert sei, klagten die Patienten über »Probleme mit dem Atmen«.
Danach vergehe noch einmal etwa eine Woche, bis die Patienten ins Krankenhaus kämen und von da an noch einmal anderthalb Wochen, bevor sie künstlich beatmet werden müssten. »Diese Verschlechterung ist aber kein Muss«, betonte Neb. Nur etwa 10 Prozent der Infizierten würden schwer krank und etwa 5 Prozent intensivpflichtig.
Eine weitere Besonderheit bei Covid-19-Patienten sei, dass sie fast immer kalte Hände und Füße hätten, auch bei hohem Fieber. Zudem sei die Rekapillarisierungszeit verlängert. Diese bestimmt man, indem man an einem Finger den Nagel für einige Sekungen gegen das Nagelbett drückt, sodass dieses hell wird. Lässt man den Finger los, soll sich das Nagelbett sofort wieder rosa färben. Tut es das nicht, ist die Rekapillarisierungszeit verlängert – ein Zeichen für eine gestörte Mikrozirkulation, ebenso wie die kalten Hände und Füße der Patienten.
Eine wahrscheinliche Erklärung hierfür habe ein Züricher Forscherteam im Fachjournal »The Lancet« geliefert, das im Gefäßendothel große Mengen von SARS-CoV-2 nachgewiesen habe (DOI: 10.1016/S0140-6736(20)30937-5). Wenn das Gefäßendothel durch das Virus geschädigt werde, resultiere daraus die beobachtete Mikrozirkulationsstörung, die auch für die Schäden an anderen Organen verantwortlich sein könnte, so Neb. Hierzu passe auch das bei einigen Kindern mit Covid-19 beobachtete Kawasaki-ähnliche Syndrom, da es sich dabei auch um eine Gefäßentzündung handele.
Der diesjährige Pharmacon Meran vom 7. bis 12. Juni musste aufgrund der Corona-Pandemie abgesagt werden. Als Ersatz bietet die Bundesapotheker fünf kostenlose Live-Vorträge mit begrenzter Teilnehmerzahl an. Das kurz nach Absage der Präsenzveranstaltung entworfene Format pharmacon@home war sehr schnell ausgebucht. Die gute Nachricht: Die Vorträge werden aufgezeichnet und allen Interessierten vom 13. bis 22. Juni 2020 kostenlos auf der Kongress-Website www.pharmacon.de zur Verfügung gestellt. Alle PZ-Berichte zum Pharmacon Meran beziehungsweise pharmacon@home finden Sie dauerhaft hier.
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.