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Zirkadiane Kontrolle

Das tägliche Auf und Ab des Immunsystems

Die Aktivität des Immunsystems variiert stark in Abhängigkeit von der Tageszeit. Das weiß man schon seit den 1960er-Jahren. Aber erst jüngst wurden molekulare Faktoren identifiziert, die die zirkadianen Immunrhythmen steuern. Auf Basis dieses Wissens entwickelt sich jetzt das rasch wachsende Gebiet der zirkadianen Immunologie.
Theo Dingermann
09.06.2022  07:00 Uhr

Dass die Aktivität des angeborenen Immunsystems tageszeitabhängig oszilliert, wurde erstmals 1960 entdeckt. Zehn Jahre später konnte man zeigen, dass dies auch für Komponenten des adaptiven Immunsystems gilt. Und mit der Zeit wurde immer offensichtlicher, dass nahezu alle Funktionen des Immunsystems von der zirkadianen Uhr gesteuert werden.

Die erstaunlichen Konsequenzen des oszillierenden Verhaltens des für die Gesundheit so wichtigen Immunsystems wurden nun in einer Übersichtsarbeit in »Science Immunology« von Chen Wang und Kollegen von der Abteilung für Pathologie und Immunologie der Universität Genf, Schweiz, zusammengefasst.

Wenig überraschend ist, dass das System komplex gesteuert ist. Im Zentrum stehen ganz bestimmte Transkriptionsfaktoren. Diese tragen die Akronyme BMAL1 (brain and muscle aryl hydrocarbon receptor nuclear translocator (ARNT)-like 1), CLOCK (circadian locomotor output cycles kaput), PER1/2/3 (period circadian protein homologs) und CRY1/2 (cryptochromes 1/2). Für Experten ist dies eine Fundgrube für die Aufdeckung extrem komplexer Regulationskreisläufe. Für Nicht-Immunologen hingegen sind andere Konsequenzen dieser rhythmischen Regulation von Bedeutung.

Für viele sicherlich überraschend sind Daten, die zeigen, dass es besser ist, sich morgens impfen zu lassen als am Nachmittag oder Abend. Dies wurde mit drei Impfregimen gezeigt. Zum einen untersuchten Forscher die Immunisierung mit dem BCG-Impfstoff, mit dem früher gegen Tuberkulose geimpft wurde, den die Ständige Impfkommission (STIKO) seit 1998 allerdings nicht mehr empfiehlt. Die beiden anderen Impfstoffe, mit dem die zirkadiane Reaktion des Immunsystems analysiert wurde, waren ein Influenza-Impfstoff und einer zum Schutz vor SARS-CoV-2.

In allen drei Fällen sprechen Patienten besser auf die Impfung an, wenn sie morgens geimpft werden, verglichen mit Impfungen am Nachmittag oder am Abend. Dieses bessere Ansprechen äußert sich in einer stärkeren Antikörperreaktion, einer verbesserten Kurzzeitimmunität mit einer gesteigerten Zytokinproduktion (IFN-γ, TNF-α und IL-1β) sowie einer gesteigerten Langzeitimmunität mit höheren Konzentrationen an Gedächtnis-B-Zellen.

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