Das sind die neuen Empfehlungen |
Kerstin A. Gräfe |
13.01.2023 16:00 Uhr |
Ärzte können der aktualisierten Leitlinie zufolge Migränepatienten, die auf »klassische« Schmerzmittel und Triptane nicht ansprechen oder bei denen Kontraindikationen vorliegen, bald zwei neue Substanzen als Alternative verordnen. / Foto: Adobe Stock/Agenturfotografin
Die beiden großen Fachgesellschaften DGN (Deutsche Gesellschaft für Neurologie) und DMKG (Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft) haben die aus dem Jahr 2018 stammende S1-Leitlinie »Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne« vollständig überarbeitet und aktualisiert. Was sich geändert hat, wurde am 11. Januar bei einer virtuellen Pressekonferenz der DMKG vorgestellt.
Die größte Neuerung gab es im Bereich der Akuttherapie: Hier gibt es zwei neue Substanzklassen: die Ditane und die Gepante. Mit Lasmiditan (Rayvow®) und Rimegepant (Vydura®) ist bereits je ein Vertreter in der EU zugelassen. Beide Wirkstoffe sind allerdings noch nicht verfügbar, ihre Markteinführung in Deutschland wird aber zeitnah erwartet.
»Vielen Migränepatienten, vor allem wenn sie wenige Attacken haben, helfen die freiverkäuflichen Analgetika bei akuten Attacken gut«, betonte Privatdozent Dr. Charly Gaul vom Kopfschmerzzentrum Frankfurt am Main, der zugleich Generalsekretär und Pressesprecher der DMKG ist. Triptane sollten erst im nächsten Schritt bei mittel- bis schweren Migräneattacken und bei fehlendem Ansprechen auf Schmerzmittel zum Einsatz kommen.
Welche Vorteile bieten die neuen Substanzklassen gegenüber den etablierten Triptanen? Die Leitlinie empfiehlt Ditane für Menschen mit einem Risiko für Schlaganfall oder Herzinfarkt. Bei dieser Patientengruppe sind Triptane kontraindiziert. Die Ditane zeichnen sich durch einen neuartigen Wirkmechanismus aus: Sie docken zwar wie Triptane an Serotonin-Rezeptoren an, adressieren aber einen anderen Subtyp. Triptane wirken an den Subtypen 5-HT1B und 5-HT1D und verhindern dadurch die Ausschüttung des Neuropeptids Calcitonin-Gene-Related-Peptide (CGRP). CGRP gilt als ein wichtiger, aber nicht alleiniger Auslöser bei Migräne.
Dagegen greifen Ditane selektiv am Serotonin-Rezeptor-Subtyp 5-HT1F an. »Dessen Aktivierung führt im Gegensatz zur Aktivierung von 5-HT1B und 5-HT1D zu keiner Vasokonstriktion«, informierte Gaul. Damit seien sie auch für Herz-Kreislauf-Patienten geeignet.
Mit Lasmiditan steht ein erster Vertreter dieser neuen Wirkstoffklasse vor der Markteinführung. Das Medikament ist zugelassen zur Akutbehandlung von Migräneattacken mit oder ohne Aura bei Erwachsenen. Die Standard-Initialdosis beträgt 100 mg peroral, die Maximaldosis 200 mg innerhalb von 24 Stunden.
»Die Substanz kann zu zentralen Nebenwirkungen wie Benommenheit, Schwindel und Müdigkeit führen«, erläuterte Gaul. In der Fachinformation stehe daher der Hinweis, dass die Patienten bis acht Stunden nach der Einnahme kein Kraftfahrzeug führen und keine Maschinen bedienen dürfen. Für schwer Betroffene stelle sich diese Frage allerdings ohnehin nicht.
Der Wirkmechanismus der neuen Gepante ähnelt dem der monoklonalen CGRP-Antikörper. Ähnlich wie Erenumab docken Gepante spezifisch am CGRP-Rezeptor an und blockieren dadurch die Effekte des Neurotransmitters. Es gibt jedoch einige wichtige Unterschiede: Im Gegensatz zu den CGRP-Antikörpern sind Gepante oral verfügbar und auch als Akutmedikation geeignet. Allerdings können Gepante im Gegensatz zu den nicht ZNS-gängigen Antikörpern zu zentralen Nebenwirkungen führen. Zudem besteht bei ihnen ein Interaktionspotenzial (CYP3A4, p-Glykoprotein).
Gaul bezeichnete die Gepante als neue Option für Patienten, bei denen Analgetika oder Triptane keine Wirksamkeit zeigen, diese nicht vertragen werden oder Kontraindikationen bestehen: »Es gibt erste Hinweise, dass wir einen Teil von Patienten haben, denen bisher nichts geholfen hat und die von dieser neuen Substanzklasse profitieren.«
Als erster Vertreter ist Rimegepant als 75-mg-Schmelztablette zugelassen. »Das Besondere an dieser Substanz ist, dass sie sowohl zur Akuttherapie als auch zur Prophylaxe eingesetzt werden kann«, sagte Gaul. Die empfohlene Dosis zur Prävention von episodischer Migräne bei Erwachsenen beträgt alle zwei Tage 75 mg und zur Akuttherapie der Migräne mit oder ohne Aura einmal täglich 75 mg. Von Vorteil sei eine insgesamt gute Verträglichkeit, so der Kopfschmerzexperte. Erste Studien weisen zudem auf ein geringes Risiko für die Entwicklung eines Kopfschmerzes bei Medikamentenübergebrauch hin.
Wie steht es um die Wirksamkeit von Lasmiditan und Rimegepant im Vergleich zu Triptanen? Direkte Vergleiche fehlen bislang. Gaul stellte indirekte Daten zur Wirksamkeit von Sumatriptan, Eletriptan, Lasmiditan und Rimegepant vor, betonte aber, dass man hier Äpfel mit Birnen vergleiche. Eine Betrachtung sei dennoch zulässig, da die Studien zumindest einen harten Endpunkt aufwiesen — die Schmerzfreiheit gemessen zwei Stunden nach der Einnahme.
Dem indirekten Vergleich zufolge ist Lasmiditan ähnlich gut wirksam wie Triptane: Mit 40 mg Eletriptan, 100 mg Sumatriptan oder 100 mg Lasmiditan ist etwa jeder dritte Migränepatient nach zwei Stunden frei von Kopfschmerzen (Eletriptan: 35 Prozent, Sumatriptan: 32 Prozent, Lasmiditan: 31 Prozent).
Rimegepant scheint weniger gut wirksam zu sein als Triptane: Nach der Einnahme von 75 mg Rimegepant berichtete nur jeder Fünfte (20 Prozent) von einer Schmerzfreiheit nach zwei Stunden. »Wichtig ist hier, den einzelnen Patienten im Blick zu haben. Es gilt, das eine Präparat zu finden, das dem jeweiligen Betroffenen individuell hilft«, relativierte Gaul.
Eine entscheidende Änderung gibt es bei der Prophylaxedauer. Die Leitlinie bricht erstmals mit dem Dogma, dass eine medikamentöse Prophylaxe nach nur sechs bis neun Monaten überprüft werden müsse und maximal zwölf Monate dauern dürfe. Vielmehr soll die Prophylaxedauer von der Schwere und Dauer der Erkrankung sowie von den aktuellen persönlichen Lebensumständen abhängig gemacht werden.
»Natürlich soll die Indikation für eine Prophylaxe auch weiterhin überprüft werden, aber es gibt keinerlei wissenschaftliche Evidenz dafür, dies regelhaft nach neun oder zwölf Monaten zu tun«, sagte Privatdozent Dr. Tim Jürgens, Präsident der DMKG und Facharzt für Neurologie, Güstrow. Vor allem Patienten mit einer chronischen Migräne oder solche, die sich in einer besonders belastenden Lebensphase befänden, seien besonders schwer betroffen und verschlechterten sich oft, wenn die Therapie bereits nach einem Jahr beendet werde. Hier könne es gerechtfertigt sein, die Dauer einer Prophylaxe auf zwei Jahre auszuweiten.
Neben den unspezifischen Medikamenten zur Migräneprophylaxe wie Betablocker oder Amitriptylin standen zur Migräneprophylaxe mit Erenumab (Aimovig®) Fremanezumab (Ajovy®) und Galcanezumab (Emgality®) bereits drei monoklonale Anti-CGRP-Antikörper zur Verfügung. Neu in der Leitlinie ist der seit 2022 zugelassene Anti-CGRP-Antikörper Eptinezumab (Vyepti®). »Als erster monoklonaler Antikörper wird er intravenös gegeben und erreicht daher schnell den therapeutischen Wirkstoffspiegel«, sagte Jürgens.
Neu ist zudem der Verordnungsalgorithmus für die Antikörper. Als einziger von ihnen kann Erenumab seit dem 1. April 2022 ohne Vortherapien zulasten der Gesetzlichen Krankenversicherung verordnet werden Die Rationale lieferte die HER-MES-Studie, in der sich Erenumab als wirksamer und verträglicher erwies als das ebenfalls in der Prophylaxe eingesetzte Topiramat, woraufhin der Gemeinsame Bundesausschuss Erenumab einen beträchtlichen Zusatznutzen attestierte.
Auch bei den nicht medikamentösen Behandlungen gibt es neue Erkenntnisse. Empfohlen wird neuerdings eine nicht invasive Neurostimulation bei akuten Migräneattacken. Bei Cefaly® werden Klebeelektroden auf der Stirn und über den Augenhöhlen angebracht, über die der überreizte Trigeminusnerv stimuliert und beruhigt werden soll. In einer randomisierten Studie an 538 Patienten waren mit aktiver Stimulation 25,5 Prozent nach zwei Stunden schmerzfrei, verglichen mit 18,3 Prozent mit Scheinstimulation.
»Gerade für Betroffene, bei denen aufgrund häufiger Schmerzmitteleinnahme die Gefahr eines Medikamenten-Übergebrauchs-Kopfschmerzes besteht, kann das Verfahren eine gute Option sein,« sagte Privatdozentin Dr. Stefanie Förderreuther, Fachärztin für Neurologie und spezielle Schmerztherapie aus München und eine der Leitlinien-Koordinatorinnen. Eine Kostenübernahme durch die Krankenkassen erfolge derzeit aber nicht. Eine klare Absage erteilte Förderreuther unter anderem der invasiven Neurostimulation, Homöopathie, Nahrungsergänzungsstoffen sowie Probiotika und Diäten zur Elimination von Allergenen.
Aktualisiert beziehungsweise ergänzt wurden in der Leitlinie zudem Hinweise zu unterstützenden Maßnahmen. So werden zum Beispiel bestimmte Smartphone-Applikationen und telemedizinische Angebote zur Unterstützung von Diagnostik und Therapie grundsätzlich empfohlen.
Allerdings liegen die Ergebnisse laufender randomisierter kontrollierter Studien zur klinischen Effektivität beziehungsweise Verbesserung der Versorgungsqualität durch diese Apps derzeit noch nicht vor, sodass die Leitlinienautoren keine abschließende Aussage zum Evidenzgrad treffen konnten.