Das Gehirn hört mit |
Laute Musik kann das Gehör schädigen. Lärmschutz-Stöpsel mit speziellen Filtern machen alles leiser ohne zu dumpf zu klingen. / Foto: Shutterstock/LightField Studios
Das ist neu für unsere Ohren: Nicht mehr durchschnittlich 46,6 (Männer) und 52,5 Jahre (Frauen) wie noch um 1900 sollte uns unsere Hörfähigkeit erhalten bleiben, sondern durchschnittlich 78 beziehungsweise 83 Jahre. Gleichzeitig sind der Grundlärmpegel und damit auch die Belastung für unser Gehör gestiegen. Das zeigt sich nicht nur daran, dass Singvögel in Städten heute lauter zwitschern müssen, um sich mit ihren Artgenossen zu verständigen. Sogar bei den ohnehin lauten Signalhörnern der Einsatzwagen musste die Lautstärke erhöht werden, damit diese auch im Lärm der Städte rechtzeitig wahrgenommen werden können.
Ein Lid für die Ohren, um dem Lärm auf Wunsch entgehen zu können, wünscht sich Mancher daher nicht ohne Grund. Doch nicht nur Lärm belastet, sondern auch, wenn Gespräche, Musik und das Summen der Bienen nicht mehr wie gewohnt wahrgenommen werden können. Dem können unterschiedliche Ursachen zugrunde liegen, und es kann vielfältige Folgen nach sich ziehen. Am 3. März, dem Welttag des Hörens, mahnen die Organisatoren daher zu frühzeitigen und regelmäßigen Kontrollen der Hörfähigkeit und raten zu frühzeitigen Hörhilfen.
Ein wesentlicher Teil beim Vorgang des Hörens findet in der Hörschnecke statt. Auf der dortigen Basilarmembran befinden sich rund 16.000 Haarzellen pro Ohr. Sind sie zerstört, wachsen sie – ebenso wie Zähne – nicht nach. Anders als Zähne lassen sie sich jedoch nicht ersetzen. Dass man einen so großen Vorrat besitzt, hilft hierbei kaum, denn die Haarzellen arbeiten hoch spezialisiert: Jeweils vier Haarzellen – drei äußere und eine innere – sind für eine Frequenz zuständig. Haarzellen für die hohen Töne befinden sich dabei am Eingang der Hörschnecke, an ihrem Ende diejenigen für die tiefen Töne. Sind Haarzellen zerstört, können die betroffenen Frequenzen nicht mehr wahrgenommen werden. Unter anderem erklärt dies, dass man auf unterschiedliche Weise schlecht hören kann.
Wird etwa das Ohr plötzlich einem sehr lauten Geräusch ausgesetzt, entsteht häufig bei 6 kHz ein Hörverlust, das sogenannte Knalltrauma. Eine Lärmschwerhörigkeit findet sich oft bei 4 kHz, beispielsweise durch langes Arbeiten mit lauten Maschinen oder durch laute Musik. Menschen mit einer Altersschwerhörigkeit können meist hohe Töne nicht mehr so gut wahrnehmen; hierbei handelt es sich vermutlich um eine Verschleißerscheinung, denn die entsprechenden Haarzellen befinden sich am Eingang der Hörschnecke. Jede Schallwelle – auch der tiefste Bass – muss zunächst an ihnen vorbei, auch wenn nicht jede Haarzelle jeden Impuls weiterleitet.
»Das Ohr sendet aber nicht nur Impulse an das Gehirn, es erhält vom Gehirn sogar mehr Impulse als umgekehrt«, berichtet Buchautor und Ex-DJ Thomas Sünder im Gespräch mit der PZ aus den Recherchen zu seinem neuen Buch »Ganz Ohr«. Was wir hören, was wir verstehen und wie wir es empfinden, hängt sehr stark von diesem Austausch ab. Ist das Hören beeinträchtigt, weil etwa bestimmte Haarzellen keine Informationen mehr liefern, nehmen auch nachgeschaltete Funktionen Schaden. So weisen aktuelle Studien darauf hin, dass Hörstörungen einer der wichtigsten Risikofaktoren zur Entstehung von Demenzerkrankungen sind. Die Mechanismen sind noch nicht im Detail geklärt. Man geht jedoch davon aus, dass entsprechende Strukturen im Gehirn dann nicht mehr beansprucht werden und sich mit der Zeit zurückbilden – ähnlich wie die Muskulatur eines eingegipsten Beines.
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Für die Entscheidung, ob ein aktueller Lärm als krank machend eingestuft werden muss, stellt das Ohr selbst jedoch kein geeignetes Mess- und Warninstrument dar: Während mancher bereits einen tropfenden Wasserhahn als Lärmbelästigung empfindet, versetzt andere Musik in Kampfjet-Tiefflieger-Lautstärke so richtig in Partystimmung. Natürlich muss es die »richtige« Musik sein. Bereits dies zeigt, wie eng Hören und Fühlen miteinander verbunden sind. »Wichtig zu wissen ist außerdem, dass sich die Belastungen addieren«, betont Sünder. »Wer zwei Stunden den Rasen gemäht hat, sollte anschließend nicht auch noch laute Musik hören.«
Der Autor weiß nicht zuletzt aus Erfahrung, worüber er spricht und schreibt. Nach einem Hörsturz im Jahr 2013 entwickelte sich bei ihm eine starke Hörminderung auf einem Ohr. Lange Zeit habe er dies verdrängt. Ein Fehler, sagt er heute. Erst zwei Jahre später hat er sich zu einem Hörgerät entschlossen. Nicht nur, wieder an Gesprächen teilnehmen, sondern auch Naturgeräusche wieder hören zu können, wie Vogelzwitschern, den Wind in den Bäumen und das Rauschen von Meereswellen, sei ein unglaublicher Gewinn.
Anders als bei einem Hörsturz verschlechtert sich bei der Altersschwerhörigkeit das Hörvermögen meist schleichend. Viele Betroffene haben daher durch Gewöhnung und Ausgleichsmechanismen auch nicht das Gefühl, schlechter zu hören. Sie müssen sich jedoch viel stärker als zuvor konzentrieren, um alles richtig zu verstehen. »Das Gehirn muss viel mehr Arbeit leisten, um die fehlende Hör-Information zu ergänzen«, erläutert Sünder. Hat das Gegenüber »Klang« oder »lang« gesagt, »Vitamin D« oder »Vitamin B«? Statt die Information einfach zu hören, müssen Betroffene sie sich aus dem Kontext erschließen. Das strengt an, kostet Zeit, und die Möglichkeit für Fehler ist hoch. Betroffene fühlen sich daher besonders nach dem Zusammensein mit anderen Menschen oft erschöpft. Zuhören, das Gehörte durchdenken, darauf antworten, sich eine eigene Meinung bilden, sie vertreten und begründen – das sind komplexe und anspruchsvolle Vorgänge. Nicht selten ziehen sich daher Betroffene mit Hörstörungen von anderen zurück.
Ältere Menschen merken häufig nicht, dass ihr Gehör schlechter wird. / Foto: Fotolia/Alexander Raths
Sich bei Bedarf frühzeitig zu einem Hörgerät zu entschließen, erleichtert nicht nur das Hören und die Kommunikation, sondern trägt dazu bei, die komplizierten Strukturen, die unter anderem für das Hören und Verstehen erforderlich sind, zu erhalten. Zudem fällt dann die Eingewöhnung nicht so schwer. »Wer ein Hörgerät bekommt, hört zunächst – je nach Geräteeinstellung – ziemlich ungefiltert alles, also auch unangenehme Geräusche«, berichtet Sünder. »Das ist, als würde man eine Sonnenbrille abnehmen: Man ist erst einmal geblendet – umso mehr, je länger man die Brille getragen hat.«
Er selbst hat anfangs wegen eines Dauerrauschens im Hörgerät an einen Gerätedefekt gedacht. Es handelte sich aber um den ganz normalen Hamburger Großstadt-Lärm, den er zwei Jahre lang – zwischen Hörsturz und Hörgerät – nicht mehr wahrgenommen hatte und den er nun plötzlich wieder hören konnte. »Mein Gehör funktionierte mit dem Hörgerät sofort wieder, nicht aber die Filterfunktion des Gehirns, die nun alle Geräusche ungebremst durchließ. Das muss man wissen, wenn man ein Hörgerät bekommt, sonst erschrickt man. Noch besser ist es, wenn man es schon vorher weiß. Denn je länger man wartet, umso weiter baut sich dieser Filter ab und muss sich dann erst wieder neu entwickeln.«
Doch wie schützt und pflegt man sein Gehör, damit es möglichst viele Jahre gut funktioniert? Alles, was zu einem gesunden Leben gehört, dient auch dem Gehörsinn. Bewegung und Sport fördern die Durchblutung, auch in den feinsten Kapillaren des Innenohres. Ausreichend Schlaf benötigt der Körper für seine Reparaturvorgänge, und auch das Ohr kann sich dabei erholen. Eine gesunde Ernährung versorgt auch Ohr und Nerven mit den erforderlichen Mikronährstoffen. Zudem sollte man sein Gehör vor großem Lärm schützen. Dazu zählt auch laute Musik auf Konzerten oder in Clubs. Gewöhnliche Ohrstöpsel eigneten sich dazu jedoch nur bedingt. Sünder rät zu Lärmschutz-Stöpseln mit speziellen Filtern, die alles leiser machen ohne dumpf zu klingen. Da man eine abnehmende Hörfähigkeit häufig nicht unmittelbar spürt, sollte man sie regelmäßig testen lassen, etwa beim Hals-Nasen-Ohrenarzt oder bei einem Akustiker. Einen ersten einfachen Test kann man bereits zu Hause durchführen, denn auch im Internet oder als App gibt es verschiedene Hörtests.
Der Welttag des Hörens findet alljährlich am 3. März statt. In diesem Jahr steht er unter dem Motto »Check your Hearing!«. Die Weltgesundheitsorganisation WHO wirbt mit der Kampagne für regelmäßige Hörtests und frühzeitige Intervention im Falle einer Hörminderung. Aus gutem Grund: So zeigen Studien, dass nicht einmal jeder Zweite einen Zusammenhang zwischen einer unbehandelten Hörminderung und weiteren gesundheitlichen Einschränkungen vermutet, zum Beispiel Demenz, Depressionen oder Schlafstörungen.