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Grunderkrankungen, die die Sturzgefahr erhöhen, erfordern eine adäquate Behandlung. Die Auswahl passender Arzneimittel kann jedoch eine Herausforderung sein. Nur bedingt geeignet, wenn nicht gar ungeeignet sind für Senioren die »Fall risk increasing drugs« (FRID). »Als FRID gelten hauptsächlich psychotrope Arzneimittel wie Anxiolytika, Antipsychotika und Antidepressiva, aber auch andere Medikamentenklassen wie Antidiabetika oder Antihypertensiva«, sagt der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG), Professor Dr. Hans Jürgen Heppner, im Gespräch mit der Pharmazeutischen Zeitung (PZ).
Eine aktuelle Liste mit FRID-Arzneimitteln wird derzeit von der European Geriatric Medicine Society (EuGMS) erarbeitet (2). Apotheker und Ärzte sollten bis dahin die bekannten Listen wie Forta, Beers oder Priscus nutzen. Die Forta-Liste (Fit fOR The Aged) liegt als erste Positiv-Negativ-Bewertung von Arzneimitteln zur Behandlung älterer Patienten auch in digitaler Version vor (www.umm.uni-heidelberg.de/klinische-pharmakologie/forschung/forta-projekt-deutsch, Stand 2018).
Die US-amerikanische Beers-Liste rät von Antikonvulsiva, trizyklischen Antidepressiva, selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (Selective Serotonin Reuptake Inhibitors, SSRI), Benzodiazepinen und Z-Substanzen ab, da diese die Sturzgefahr erhöhen können (9). Die Priscus-Liste benennt bei bedingt geeigneten oder ungeeigneten Arzneimitteln Alternativen und gibt Empfehlungen für die klinische Praxis, beispielsweise Monitoring-Parameter oder Dosisanpassungen (10, 11).
Mit dem Alter nimmt die Multimorbidität zu, was oft zur Polypharmazie führt. Die Vielzahl von Medikamenten erhöht das Risiko von Interaktionen und unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW). Weithin sind bei Senioren die veränderte Pharmakokinetik und -dynamik zu beachten.
Ältere Menschen reagieren deutlich empfindlicher auf Arzneistoffe, die am zentralen Nervensystem ansetzen (Tabelle 2). Typische Beispiele sind beruhigend wirkende Substanzen wie Benzodiazepine, die Z-Substanzen Zopiclon und Zolpidem oder sedierende Antidepressiva oder Antihistaminika. Betagte Menschen nehmen diese Medikamente oft dauerhaft gegen Unruhe, Schlaflosigkeit oder Angst ein.
Stoffklasse | Beispiele |
---|---|
Benzodiazepine | Chlordiazepoxid, Diazepam, Alprazolam |
Antidepressiva | Amitriptylin, Nortriptylin, Fluoxetin |
Antipsychotika | Fluphenazin, Chlorpromazin, Haloperidol, Risperidon |
Antiepileptika | Phenytoin, Phenobarbital |
Anticholinergika | Diphenhydramin, Tolterodin, Oxybutynin |
Hypnotika | alle Barbiturate, Zolpidem, Zopiclon |
Muskelrelaxanzien | Methocarbamol |
Herz-Kreislauf-Medikamente | Diuretika, Doxazosin, Terazosin, Clonidin, Digoxin |
Antidiabetika | Sulfonylharnstoffe |
Foto: Adobe Stock/Nattakorn
Verschiedene PIM-Listen (Priscus-, Beers- und die Forta-Liste) raten davon ab, Antihistaminika der ersten Generation bei Menschen über 65 Jahren einzusetzen. Apotheker kennen diese Substanzen vor allem zur symptomatischen Kurzzeitbehandlung von Schlafstörungen sowie zur Prophylaxe und symptomatischen Therapie von Übelkeit, Erbrechen und Reisekrankheit. Der Einsatz als Antiallergikum hat weitgehend an Bedeutung verloren, da es nebenwirkungsärmere Alternativen gibt.
Die Wirkstoffe sind gut ZNS-gängig und wirken sedierend. Für die unerwünschten Wirkungen (UAW) sind neben den sedierenden auch die anticholinergen Eigenschaften verantwortlich. Mögliche UAW sind eingeschränkte Kognitionsfähigkeit, Schläfrigkeit, Schwindel, Muskelschwäche, Kopfschmerzen, Seh-, Gleichgewichts- und Gangstörungen, Verwirrtheit und daraus resultierend eine erhöhte Sturzgefahr.
Der Sachverständigen-Ausschuss (SVA) für Verschreibungspflicht votierte auf seiner 82. Sitzung am 23. Januar 2020 dafür, die als Schlafmittel eingesetzten Substanzen Doxylamin und Diphenhydramin bei Erwachsenen ab dem 65. Lebensjahr der Verschreibungspflicht zu unterstellen. Die Priscus-Liste empfiehlt als Alternative hoch dosierte Baldrianpräparate; zudem kann das Apothekenteam zur Schlafhygiene beraten. Für Dimenhydrinat entschied der SVA am 26. Januar 2021, dass der Wirkstoff auch für Ältere weiterhin rezeptfrei bleiben soll. Die Experten begründeten ihr Votum damit, dass Dimenhydrinat vorwiegend als Antiemetikum und dann meist nur für wenige Tage genommen wird.
Bei allen Antihistaminika der ersten Generation gilt, dass sie bei Menschen ab 65 Jahren einschleichend und so niedrig dosiert wie möglich gegeben werden sollen.
Zu beachten ist, dass die Nutzen-Risiko-Bedenken zum großen Teil auf Expertenmeinungen basieren. Die Datenlage aus Studien ist unzureichend. Auch aus Nebenwirkungsmeldungen lassen sich Probleme wie eine mögliche Sturzassoziation bislang nicht eindeutig ableiten.
»Benzodiazepine haben im Alter eine längere Halbwertszeit als bei jüngeren Menschen. Am nächsten Tag kann noch eine Restmenge Wirkstoff im Körper vorhanden sein, wenn bereits die neue Dosis kommt. Der Körper gewöhnt sich an die steigenden Mengen und die Dosis muss immer weiter erhöht werden«, sagt Heppner, Chefarzt der Klinik für Geriatrie und Lehrstuhlinhaber für Geriatrie der Universität Witten/Herdecke. Mit steigenden Wirkspiegeln nehmen Sedierung, Tagesmüdigkeit und Schläfrigkeit zu, Aufmerksamkeit und Reaktionsvermögen sind beeinträchtigt. Auch UAW wie Muskelschwäche, Mattigkeit, Ataxie, Verwirrtheit, Depression und Schwindel erhöhen das Sturzrisiko.
Wenn Benzodiazepine überhaupt indiziert sind, sollten Ärzte mittellang oder besser kurz wirksame Substanzen wählen und diese nicht länger als vier bis sechs Wochen verschreiben. Die angegebenen Tageshöchstdosen eignen sich nicht für geriatrische Patienten (12).
»Gelingt es Patienten, die Medikation auszuschleichen, also die Dosis immer weiter zu verringern, bis die Tabletten ganz weggelassen werden können, wirkt sich das positiv auf ihr Sturzrisiko aus«, berichtet der DGG-Präsident. Beim Ausschleichen sind Rebound- und Entzugssymptome zu erwarten, die ihrerseits das Sturzrisiko erhöhen.
Rebound-Symptome halten wenige Tage an und sind eine Gegenregulation mit akutem und verstärktem Auftreten der ursprünglichen Krankheitssymptomatik (Unruhe, Angst, Schlafstörungen). Zu den Entzugssymptomen gehören Störungen wie vermehrte Angst, innere Unruhe, erhöhte Irritabilität, Schlaflosigkeit, Herzrasen, Blutdrucksteigerung, Übelkeit und Erbrechen, Schwitzen, Tremor, Kopfschmerzen und Muskelverspannungen. Auch Verwirrtheit, psychotische Zustände, Delirien, ängstlich-depressive Syndrome sowie Krampfanfälle sind möglich.
Als Faustregel gilt: Der Entzug sollte in Monaten so lange dauern, wie die Einnahme in Jahren erfolgt ist (12). Beim Absetzen ist eine enge Zusammenarbeit von Arzt und Apotheker Erfolg versprechend, wie 2013 das Modellprojekt »Ambulanter Entzug Benzodiazepin-abhängiger Patientinnen und Patienten in Zusammenarbeit von Apotheker und Hausarzt« zeigte. Hier konnten 46 Prozent der Patienten bis zur Karenz begleitet werden und 28 Prozent konnten ihre Dosis auf im Mittel 3,4 mg Diazepam-Äquivalente reduzieren (13).