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Chloroquin und Hydroxychloroquin

Bei Covid-19 tatsächlich schädlich?

Eine »Lancet«-Beobachtungsstudie zum Einsatz von Hydroxychloroquin bei Covid-19 hatte den Hoffnungsträger stark beschädigt. Laufende klinische Studien wurden gestoppt. Nun ist die Studie selbst in die Kritik geraten.
AutorKontaktTheo Dingermann
AutorKontaktAnnette Rößler
Datum 04.06.2020  09:58 Uhr

Chloroquin und Hydroxychloroquin galten als aussichtsreiche Wirkstoffe für die Behandlung von Covid-19-Patienten. Eine am 22. Mai im Fachjournal »The Lancet« publizierte Beobachtungsstudie dämpfte aber die Hoffnungen, da sie für die Substanzen keinen Vorteil, aber eine möglicherweise erhöhte Sterblichkeit identifizieren konnte. Aufgrund der Ergebnisse setzte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) den Hydroxychloroquin-Arm ihrer randomisierten klinischen Studie Solidarity bei Covid-19 vorübergehend aus.

An der Beobachtungsstudie wurde nun Kritik laut: 146 Wissenschaftler und Ärzte listen in einem offenen Brief an deren Autoren und an den Chefredakteur von »The Lancet« ihre Bedenken auf. Auf diesen am 28. Mai auf der Open-Science-Website »Zenodo« veröffentlichten Brief folgte nun auch eine »Expression of Concern«-Notiz des Journals selbst .

Die Bedenken der Kritiker

Die Unterzeichner des offenen Briefs, ein internationales Kollektiv aus Klinikern, Statistikern und Ethikern um den Statistiker Dr. James Watson, kritisieren die Studie und die Konsequenzen, die aus ihr gezogen wurden. Sie werfen den Autoren der Originalarbeit vor, bestimmte Aspekte, die möglicherweise zu anderen Schlüssen aus ihrer Analyse hätten führen können, nicht ausreichend berücksichtigt zu haben.

Zu diesen Aspekten zählen die Kritiker zum Beispiel, dass es keine adäquate Anpassung für bekannte und gemessene Störfaktoren gegeben habe, darunter die Schwere der Krankheit, zeitliche Effekte sowie verwendete Wirkstoffdosen. Auch hätten die Autoren sich nicht an die Standardpraktiken beim Einsatz künstlicher Intelligenz sowie der Statistik gehalten. So seien beispielsweise die verwendeten Algorithmen und die Originaldaten nicht veröffentlicht worden. Ferner seien Informationen zu den Krankenhäusern und zu den Ländern, in denen Daten erhoben wurden, nicht erwähnt und ihre Beiträge nicht gewürdigt worden. Außerdem gebe es Unstimmigkeiten bei Daten aus Australien, die nicht mit Daten in Regierungsberichten übereinstimmten. Insgesamt umfasst die Liste der Kritikpunkte zehn konkrete Vorwürfe.

»Diese Publikation hat sich wirklich negativ auf klinische Studien ausgewirkt«, sagte Erstunterzeichner Watson, Statistiker an der Mahidol-Oxford-Forschungsstelle für Tropenmedizin in Thailand, der Nachrichtenseite »Medscape«. »Viele Urteile [über Hydroxychloroquin] wurden auf der Grundlage sehr schlechter Beweise gefällt. Dieses Medikament kann schädlich sein, es kann nützlich sein, es kann auch absolut gar nichts bewirken, aber wir brauchen eine randomisierte Studie«, so Watson.

Basis der »Lancet«-Studie

Die Studie von Mandeep R Mehra und Kollegen basiert auf Daten des medizinischen Dienstleistungsunternehmens Surgisphere. Ausgewertet wurden Daten von mehr als 96.000 Patienten, die mit der Diagnose Covid-19 zwischen dem 20. Dezember und dem 14. April in einem Krankenhaus behandelt worden waren. Alle Patienten waren bis zum 21. April entlassen worden, sofern sie bis dahin nicht verstorben waren. Die Mehrheit der Teilnehmer (81.144) hatte keinen der Malariawirkstoffe erhalten. Bei den übrigen knapp 15.000 Patienten wurde innerhalb von 48 Stunden nach der Diagnose eine Therapie mit Chloroquin oder Hydroxychloroquin, entweder allein oder in Kombinatione mit einem Makrolid-Antibiotikum, begonnen.

Nach kritischer Wertung zahlreicher Faktoren wie Alter, Ethnie, Geschlecht und Komorbiditäten wie Herz-Kreislauf- und Lungenerkrankungen kamen die Autoren zu dem Schluss, dass Patienten, die Chloroquin oder Hydroxychloroquin erhalten hatten, doppelt so häufig im Krankenhaus verstarben wie Patienten, die keinen der beiden Wirkstoffe erhalten hatten (18 Prozent Sterblichkeit bei Patienten, die Hydroxychloroquin erhielten, 16,4 Prozent bei Chloroquin, 9,3 Prozent in der Kontrollgruppe). Bei Patienten, die zusätzlich mit einem Antibiotikum behandelt wurden, lagen die Sterblichkeitsraten noch höher (23,8 beziehungsweise 22,2 Prozent).

Reaktion der Autoren und der WHO

Den Argumenten der Kritiker begegnen die Studienautoren, dass sie 35 potenzielle Störfaktoren berücksichtigt hätten und daher voll hinter den Ergebnissen ihrer Arbeit stünden. Dennoch erkennen auch sie Limitationen hinsichtlich der Aussagekraft der Arbeit. Prinzipiell sehen sie ebenfalls die Notwendigkeit, das Bild zur Bewertung von Chloroquin und Hydroxychloroquin durch randomisierte klinische Studien zu schärfen.

Tatsächlich scheint die Beobachtungsstudie mit heißer Nadel gestrickt worden zu sein, wie das heute so oft zu beobachten ist. Bereits in der Phase, in der die Publikation auf dem Preprintserver PubPeer einsehbar war, gab es Kritikpunkte. Und am vergangenen Wochenende veröffentlichte »The Lancet« auch erste Korrekturen, die jedoch nicht zu Änderungen der Schlussfolgerungen geführt hätten, so die Autoren. Das werden jedoch nicht die letzten Korrekturen sein, wie jetzt bekannt wurde. Mehras Team hat weitere Fehler aufgedeckt, die demnächst als Korrektur in »The Lancet« publiziert werden.

Unterdessen hat die WHO ihre eigene Überprüfung der Sicherheitsbedenken abgeschlossen und will den Hydroxychloroquin-Arm Solidarity-Studie wie geplant fortsetzen. Man sehe auf Basis der verfügbaren Daten zur Mortalität keinen Anlass, das Studienprotokoll zu ändern, sagte WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus am 3. Juni bei einem Pressebriefing. Im Rahmen der multinationalen Solidarity-Studie werden vier verschiedene Therapieregime bei Covid-19 mit einer Standardbehandlung verglichen.

Kritik auch in »Nature«

Auch das Fachjournal »Nature« widmet sich auf seiner Nachrichtenseite dem Problem (DOI: 10.1038/d41586-020-01599-9). »Es gibt so viel Wirbel um die beiden Malariawirkstoffe, dass zwischenzeitlich keiner mehr an Studien zu den Wirkstoffen teilnehmen will«, sagte Professor Dr. David Smith zu »Nature«. Smith ist Spezialist für Infektionskrankheiten an der Universität von Kalifornien in San Diego. »So kann es sein, dass diese offene Frage nicht wissenschaftlich beantwortet wird«, so Smith.

Frühe Studien hatte angedeutet, dass Chloroquin und Hydroxychloroquin die Replikation von SARS-CoV-2 stören könnten. Allerdings waren Versuche am Menschen bisher nicht schlüssig. In der Zwischenzeit hat die Fürsprache von Politikern wie dem US-Präsidenten Donald Trump, der nicht nur die Verwendung von Hydroxychloroquin befürwortet, sondern auch eine prophylaktische Einnahme propagiert, die öffentliche Wahrnehmung des Medikaments getrübt.

Nach wie vor werden dringend Ergebnisse aus einer Reihe randomisierter, kontrollierter klinischer Studien erwartet, in denen Hydroxychloroquin als Covid-19-Behandlung getestet wird. Die »Lancet«-Studie war keine solche Studie. Stattdessen handelte es sich hier um eine Beobachtungsstudie, mit der nun kommuniziert wird, dass die Wirkstoffe nicht nur keinerlei Nutzen haben, sondern vielmehr mit einer beunruhigend höheren Sterblichkeitsrate assoziiert sein sollen.

Aus methodischen Gründen verbietet es sich aber, solche Aussagen aus einer Beobachtungsstudie abzuleiten. Daten aus Beobachtungsstudien könnten nützlich sein, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie sich ein Medikament unter weniger stark kontrollierten Bedingungen als im Rahmen einer klinischen Studie verhalte. Beobachtungsstudien könnten aber auch anfällig für Verzerrungen in der realen Welt sein, so der Kommentar in »Nature«.

Im aktuellen Fall führten die Daten einer Beobachtungsstudie zu weitreichenden Konsequenzen, indem die WHO die Rekrutierung von Patienten für eine internationale Studie stoppte. Auch die britische Arzneimittel- und Gesundheitsbehörde MHRA (Medicines and Healthcare Regulatory Agency) reagierte in ähnlicher Weise. Und in Frankreich wurde es sogar Ärzten verboten, Chloroquin oder Hydroxychloroquin außerhalb von klinischen Studien für Covid-19-Patienten zu verschreiben.

Letztlich bleibt ein fader Beigeschmack, der kein gutes Licht auf die aktuelle Forschung wirft. Man mag nicht viel Sympathie für die beiden Wirkstoffe Chloroquin und Hydroxychloroquin hegen, auch deshalb nicht, weil sie zum Spielball politischer Aktionen wurden. Aber für eine »Vorverurteilung« reicht das nicht, auch nicht auf Basis einer Studie, die dank der kritischen Überprüfung von Detailaspekten mehr Fragen hinterlässt als Antworten liefert.

Mehr Studien, mehr Unsicherheit

Dass es unter den aktuellen Umständen durchaus schwierig ist, eine aussagekräftige Studie mit Hydroxychloroquin aufzulegen, zeigt eine weitere Publikation, die jetzt im »New England Journal of Medicine« erschien (DOI: 10.1056/NEJMoa2016638). Eine Gruppe um Professor Dr. David Boulware von der University of Minnesota untersuchte darin in einem randomisierten, doppelblinden, placebokontrollierten Design, ob Hydroxychloroquin bei Personen, die ohne Mund-Nasen-Schutz mindestens zehn Minuten lang im Abstand von weniger als 6 Fuß (1,8 m) Kontakt mit einem SARS-CoV-2-Infizierten hatten, eine Covid-19-Erkrankung verhindert.

Die Teilnehmer, die vorwiegend über soziale Medien rekrutiert worden waren, sollten die Hydroxychloroquin- oder Placeboeinnahme innerhalb von vier Tagen nach einem solchen Kontakt beginnen. Im Laufe der folgenden 14 Tage entwickelten 49 von 414 Probanden in der Verumgruppe Covid-19-artige Symptome (11,8 Prozent) und in der Placebogruppe 58 von 407 (14,3 Prozent). Der absolute Unterschied von 2,4 Prozentpunkten war nicht statistisch signifikant, weshalb die Autoren den Schluss ziehen, dass diese Form der Postexpositions-Prophylaxe mit Hydroxychloroquin keinen Schutz vor einer Covid-19-Erkrankung bietet.

Damit sind jedoch bei Weitem noch nicht alle offenen Fragen zum präventiven Einsatz von Hydroxychloroquin beantwortet, betont Professor Dr. Myron Cohen von der University of North Carolina at Chapel Hill in einem begleitenden Editorial (DOI: 10.1056/NEJMe2020388). Neben methodischen Schwächen der Untersuchung, die deren Autoren selbst eingeräumt hätten, sei auch fraglich, ob das Malariamittel in dieser Studie nicht ganz einfach zu spät gegeben worden sei. Cohen verweist auf eine kleine Studie mit Mäusen, in der Hydroxychloroquin durchaus eine Infektion oder auch eine schwere Covid-19-Erkrankung verhindert habe, aber nur, wenn es kurz nach oder sogar noch vor einer Infektion gegeben worden sei. Die Ergebnisse von Boulware und Kollegen seien »eher provokant als definitiv« und das wahre Potenzial des Arzneistoffs für die Prävention von Covid-19 somit weiter ungeklärt, schließt Cohen.

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