Im Dickicht der Regelungen |
16.12.2008 15:55 Uhr |
Im Dickicht der Regelungen
Von Bettina Sauer, Berlin
Viele gesetzliche Regeln im deutschen Gesundheitssystem verstärken sich, konkurrieren miteinander oder hebeln sich aus. Zu diesem Ergebnis gelangt ein Gutachten, das der Verband Forschender Arzneimittelhersteller (VFA) in Auftrag gegeben hat.
Mit nahezu jeder Gesundheitsreform wächst die Regulierungsdichte im deutschen Arzneimittelmarkt. Diese Einschätzung äußerte Cornelia Yzer, Hauptgeschäftsführerin des Verbandes Forschender Arzneimittelhersteller (VFA), bei einem Pressegespräch vergangene Woche in Berlin. Allein die beiden jüngsten Reformgesetze, das Arzneimittelversorgungs-Wirtschaftlichkeitsgesetz (AVWG) und das Wettbewerbsstärkungsgesetz der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-WSG), hätten eine Reihe neuer Instrumente gebracht: Kosten-Nutzen-Bewertung, Erstattungshöchstbeträge, Zweitmeinungsverfahren, erweiterte Zwangsrabatte, Zuzahlungsbefreiungen, kassenindividuelle Rabattverträge. Yzer sagte: »Im Ergebnis finden sich heute im Fünften Sozialgesetzbuch (SGB V) mehr als 20 verschiedene Regelungsinstrumente, die auf Preis, Menge und Qualität der verordneten Arzneimittel Einfluss nehmen.«
Flickenteppich statt Mosaik
»Diese Regelungsvielfalt steht in der Kritik«, ergänzte der Mediziner und Jurist Professor Dr. Christian Dierks, dessen Berliner Rechtanwaltskanzlei sich auf Klienten aus dem Gesundheitswesen spezialisiert hat. »Kritiker äußern den Verdacht, dass die einzelnen Regelungen nicht etwa von langer Hand geplant und aufeinander abgestimmt seien, sondern ein Produkt kurzfristiger, nicht ausreichend durchdachter Entscheidungen.« In der Folge würden sich die Beschlüsse nicht zu einem stimmigen Mosaik zusammenfügen, sondern zu einer Art Flickenteppich, bei dem sich die verschiedenen Instrumente gegenseitig beeinflussen, möglicherweise sogar aushebeln. Um diesen Verdacht juristisch zu überprüfen, hat Dierks im Auftrag des VFA ein Gutachten erstellt, das er bei der Veranstaltung präsentierte.
Es durchleuchtet beispielhaft ausgewählte Konfliktsituationen, wie etwa das Zusammenspiel von Rabattverträgen, Festbetragsregelungen und Zuzahlungsbefreiungen. Bei dem beschriebenen Szenario stellt ein pharmazeutisches Unternehmen fest, dass Konkurrenten durch Rabattvereinbarungen (gemäß §130a, Abs. 8 SGB V) erhebliche Umsatzvorteile erzielen. Deshalb entscheidet es, den Krankenkassen ebenfalls eine Rabattvereinbarung anzubieten, doch bleibt dafür wirtschaftlich kein Spielraum. Denn zuvor hatte das Unternehmen den Preis des Produkts bereits auf 30 Prozent unter Festbetrag gesenkt, um nicht den zehnprozentigen Generikarabatt an die Krankenkassen zahlen zu müssen (§ 130a Abs. 3b SGB V) und die kassenübergreifende Zuzahlungsbefreiung für die Patienten zu erreichen (§31 Abs. 3 SGB V).
Verwirrend und ärgerlich stellt sich das Zusammenspiel von Rabattverträgen, Festbetragsregelungen und Zuzahlungsbefreiungen mitunter auch für Patienten dar, wie das nächste Szenario im Gutachten schildert. Darin verordnet ein Vertragsarzt seinem Patienten ein Generikum, wobei er dem Wirtschaftlichkeitsgebot (§ 12 SGB V) folgt und auf dem Rezept nur die Wirkstoffbezeichnung angibt. Das ermöglicht dem Apotheker die Abgabe eines Arzneimittels, für das zwischen der Krankenkasse des Patienten und einem pharmazeutischen Unternehmen eine Rabattvereinbarung besteht. Allerdings erfährt der Patient in der Apotheke, dass er für sein rabattiertes Medikament eine Zuzahlung leisten muss, während diese Zuzahlungspflicht für andere Generika aufgehoben wurde (abermals § 31 Abs. 3 SGB V).
Krankenkasse verliert doppelt
Verärgert kehrt er in die Arztpraxis zurück und bittet zukünftig um Verordnung des zuzahlungsfreien Generikums. Der Arzt erfüllt die Bitte, vermerkt auf dem Rezept den gewünschten Handelsnamen und kreuzt zudem das »Aut idem«-Feld an. »Nun darf der Apotheker nur noch das angegebene Präparat abgeben, und die Krankenkasse verliert gleich doppelt Geld«, sagte Dierks. »Sie erhält weder Rabatt noch Zuzahlung.«
Die anderen Szenarien in dem Gutachten behandeln vor allem Schwierigkeiten für die Ärzte bei ihren Arzneimittelverordnungen durch die Regelungsvielfalt. Und eines umreißt die konkurrierenden und für die pharmazeutischen Unternehmen kaum abschätzbaren Reaktionen, mit denen die Krankenversicherungen gemäß SGBV auf ein neues Medikament reagieren können vom Festbetrag über Kosten-Nutzen-Bewertung und Zweitmeinungsverfahren bis hin zum Ausschluss.
Für Dierks bestätigen seine Analysen die Kritik am Regelgeflecht im deutschen Gesundheitswesen. Er schreibt in der Zusammenfassung seines Gutachtens: »Zahlreiche Regelungen stehen im Konflikt miteinander, kumulieren oder erreichen nicht den vom Gesetzgeber beabsichtigten Zweck.« Dadurch ergäben sich gewichtige Nachteile für die Versorgungsqualität der Patienten, Haftungsrisiken für Ärzte und wirtschaftliche Nachteile für pharmazeutische Unternehmer wie auch für Kassen. Deshalb forderte Dierks bei der Veranstaltung »Mut, bei der nächsten Gesundheitsreform das gesetzliche und untergesetzliche Dickicht der Regelungen im Arzneimittelmarkt zu lichten«. Dem schloss sich Yzer an: »Eine Deregulierung schafft endlich wieder Transparenz im Gesundheitswesen und eröffnet Krankenkassen und Leistungsanbietern weitaus freiere Verhandlungsmöglichkeiten.« Dann entstehe das, worauf die jüngsten Gesundheitsreformen doch eigentlich abzielten: mehr Wettbewerb.