Angeboren, aber nicht vererbt |
17.12.2007 10:32 Uhr |
Angeboren, aber nicht vererbt
Von Gudrun Heyn, Berlin
Bereits im Mutterleib können die Grundlagen für Erkrankungen im Alter wie Diabetes, kardiovaskuläre Krankheiten oder Adipositas gelegt werden. Die Ernährung und der Hormonhaushalt der Mutter spielen dabei eine entscheidende Rolle.
Schon lange ist aus der Natur bekannt, dass Umwelteinflüsse die Entwicklung von Tieren wesentlich mitbestimmen können. Bei der Zucht von Reptilien lässt sich beispielsweise in einem engen Zeitfenster während der Pränatalphase über die Bruttemperatur steuern, ob männliche oder weibliche Nachkommen aus den Eiern schlüpfen. Welchen Einfluss die Nahrungsqualität haben kann, zeigen Bienenvölker. Nur die Bienenlarven, die von den Arbeiterinnen mit Gelee Royal gefüttert werden, entwickeln sich zur Königin.
Beim Menschen wurde viele Jahre angezweifelt, dass Umwelteinflüsse im Uterus Auswirkungen auf die Entwicklung und damit auch auf die langfristigen Gesundheitsaussichten haben können. Denn zwischen der Embryonalentwicklung und dem Auftreten der Spätfolgen wie etwa Diabetes, Bluthochdruck, Herzinfarkt oder Schlaganfall liegen oft 50 bis 60 Jahre.
Seit einiger Zeit häufen sich allerdings die Hinweise, dass es eine Beziehung zwischen dem Geburtsgewicht und dem späteren Gesundheitszustand gibt. So zeigen epidemiologische Untersuchungen, dass besonders leichte oder besonders schwere Neugeborene, ein deutlich erhöhtes Risiko haben, bereits als Jugendlicher an Typ-2-Diabetes zu erkranken. Auch für andere Erkrankungen des metabolischen Syndroms ist ein solcher Zusammenhang bekannt. So haben vor allem sehr dünne Neugeborene ein verstärktes Risiko, im Alter an einer koronaren Herzkrankheit zu leiden.
Inzwischen gilt es als erwiesen, dass es sich dabei um kausale Zusammenhänge handelt. »Während kritischer Entwicklungsphasen kann es beim Ungeborenen zu irreversiblen morphologischen und funktionellen Veränderungen von Organen kommen«, sagte Professor Dr. Andreas Plagemann von der Charité auf dem 23. Deutschen Kongress für Perinatale Medizin in Berlin. Ursache dieser sogenannten fetalen Programmierung sind nachteilige Umwelteinflüsse, wie abnorme hormonelle intrauterine Einflüsse, Mangel- oder Überernährung und auch Stress. Der Fetus versucht, sich solchen Situationen anzupassen. Bei Nährstoffmangel etwa verlangsamt sich seine Zellteilungsrate. In Geweben, die zu diesem Zeitpunkt eine sensible Entwicklungsphase durchlaufen, kann es so zu einer dauerhaften Störung kommen. Tritt etwa im zweiten Schwangerschaftsdrittel eine Mangelernährung auf, steigt das Risiko für obstruktive Lungenerkrankungen, denn zu diesem Zeitpunkt entwickeln sich die Äste des Bronchialbaums.
Prägender Gestationsdiabetes
Die fetale Programmierung ist heute in zahlreichen Studien gut dokumentiert. Ein klassischer Zusammenhang besteht beispielsweise bei Schwangeren mit einem Gestationsdiabetes. Sie bringen vermehrt Kinder auf die Welt, die bereits als Jugendliche eine gestörte Glucosetoleranz zeigen. Während die Mütter nur unter einer vorübergehenden hormonbedingten Entgleisung ihres Stoffwechsels leiden, kommt es bei ihren Kindern im Uterus zu einer dauerhaft schädlichen Prägung.
Dabei unterscheidet sich der Mechanismus dieser Prägung, je nachdem ob die Mutter nur leicht oder schwer erkrankt ist. So ist bei Schwangeren mit mildem Gestationsdiabetes die Menge endokrinen Gewebes und die Anzahl insulinproduzierender Betazellen in der Bauchspeicheldrüse erhöht. Dadurch wird vermehrt Insulin ausgeschüttet, dies verbessert den Transfer von Glucose und anderen Nährstoffen über die Plazenta, und das Ungeborene wird übermäßig gut versorgt. Eine der sichtbaren Folgen ist der Großwuchs des Fetus. Nicht sichtbar sind die gesundheitlichen Folgen im späteren Leben. So steigt das Risiko für eine gestörte Glucosetoleranz um das 3,6-Fache, wenn im letzten Schwangerschaftsdrittel durch die übermäßige Hormonproduktion der Mutter letztlich auch die Insulinkonzentration im Blut des Ungeborenen ansteigt.
Aus Tierstudien ist inzwischen der Ablauf der Programmierung bekannt. Der Fetus reagiert auf die übermäßige Glucoseversorgung durch die Mutter, indem er vermehrt Betazellen in der Bauchspeicheldrüse bildet. Dabei ist seine Insulinproduktion überstimuliert. Nach der Geburt normalisiert sich das Gewebe, die Hypertrophie geht wieder zurück. Doch zusätzlich fällt die Überstimulation der Betazellen durch die hohen Glucosewerte der Mutter weg, auf die die Betazellen im Uterus geprägt wurden, sodass die Insulinsekretion nun dauerhaft reduziert ist. Damit bleibt die Glucosetoleranz bei den Nachkommen unbehandelter diabetischer Mütter deutlich vermindert.
Im Gegensatz zu Frauen mit einem leichten Diabetes haben Schwangere mit einem schweren Gestationsdiabetes weniger Betazellen und eine deutlich geringere Insulinsekretion. Dadurch gelangt der Zucker nicht in die Körperzellen. Um dies auszugleichen, wird in der Leber der Mutter die Produktion von Glucose hochgefahren. Die Feten werden daher mit Glucose quasi überschwemmt, was dazu führt, dass sich ihre Betazellen den hohen Konzentrationen nicht mehr anpassen können. Es kommt zu einer Erschöpfung der Betazellen mit stark erniedrigter Insulinsekretion (Hypoinsulinämie) und einer reduzierten Zahl von Insulinrezeptoren. »Insulinresistenz ist die Folge«, sagte Professor Dr. Frans van Assche vom Universitätshospital in Leuven, Belgien. So können die Feten immer weniger Glucose aufnehmen und bleiben in ihrem Wachstum zurück.
Als eine Langzeitfolge der fetalen Prägung bleibt die Insulinresistenz. Ihre Konsequenzen zeigen sich oft erst im Alter, wenn der Körper die dauerhafte Fehlfunktion nicht mehr so gut durch Kompensationsmaßnahmen ausgleichen kann. Typische Folgen sind auch dort Erkrankungen des metabolischen Syndroms.
Unabhängig von einer Erkrankung der Mutter kann zudem eine Überernährung oder eine Mangelernährung zu einer fetalen Programmierung führen. Eine Überernährung tritt vor allem bei Kindern übergewichtiger Mütter auf. Heute sind bereits mehr als 35 Prozent aller Schwangeren zu dick. Doch auch eine Mangelernährung ist nicht nur für Kriegs- und Krisenzeiten typisch, sondern kommt ebenfalls in Deutschland vor, etwa bei Kindern mit intrauteriner Wachstumsrestriktion oder Frühgeborenen. Besonders Kinder, die vor der 32. Schwangerschaftswoche auf die Welt kommen, sind betroffen. Wie alle Neugeborenen machen sie trotz guter Versorgung nach der Geburt noch ein bis zwei Wochen eine Zeit der Nahrungskarenz durch und verlieren deutlich an Gewicht. Diese Zeit der Mangelernährung fällt mit einer besonders wichtigen Entwicklungsphase zusammen, die die Kinder normalerweise im Uterus durchleben.
Je kleiner ein Kind am errechneten Geburtstermin ist, desto größer ist sein späteres Risiko für Herzinfarkt, chronisch obstruktive Lungenkrankheit, Hirnschlag und Diabetes. Als niedrig gilt ein Geburtsgewicht unter 2500 Gramm. Übergewichtige Neugeborene (mehr als 4500 Gramm) haben dagegen eine besonders hohe Disposition für Adipositas und Diabetes. Die fetale Programmierung scheint sich überwiegend auf das metabolische Syndrom zu beziehen, für psychische Krankheiten, Demenz oder Brustkrebs konnte in einer großen Metaanalyse kein signifikanter Zusammenhang zur pränatalen Entwicklung nachgewiesen werden.
Auch nach dem normalen Geburtstermin gibt es eine wichtige Phase, in der es zu einer dauerhaften Fehlprägung von Organen und Körperfunktionen kommen kann. So haben auch Kinder mit einem niedrigen Geburtsgewicht, die in der ersten Lebensphase übermäßig an Körpergewicht zunehmen, ein besonders hohes Risiko, später einmal ein metabolisches Syndrom zu entwickeln. Studien zeigen, dass das Adipositasrisiko im Erwachsenenalter, unabhängig vom Geburtsgewicht, um so größer ist, je schneller ein Kind nach der Geburt sein Gewicht steigert.
Stillen hält schlank
Nur moderat sollten daher alle Neugeborenen an Gewicht zunehmen. Dies gilt besonders für die 6 Prozent Frühgeborenen, die jedes Jahr in Deutschland auf die Welt kommen. Um vermeintliche Defizite aufzuholen, ist bei ihnen ein Löffelchen Milchpulver mehr pro Flasche keine Seltenheit. Doch diese gut gemeinte Maßnahme der Eltern kann langfristig Erkrankungen des metabolischen Syndroms Vorschub leisten. Empfehlenswert ist das Stillen, da sich mit ihm am besten ein moderater Gewichtsanstieg gewährleisten lässt. Wer sein Kind bis zum neunten Lebensmonat stillt, reduziert das Risiko für Adipositas um 32 Prozent.
Vorbeugend sollte jede Mutter auch ihr eigenes Gewicht kontrollieren. Übergewichtige Frauen sollten versuchen, vor der Schwangerschaft deutlich an Körpermasse abzunehmen, denn während der Gravidität ist dies kontraproduktiv. Keinem Ungeborenen sollte durch Diät eine Mangelsituation zugemutet werden. Doch wenn übergewichtige Schwangere gar nicht auf ihr Gewicht achten, kann dies zur Überernährung des Kindes führen.
Die richtige Gewichtseinstellung von Mutter und Kind ist daher eine Gratwanderung. Einfacher lassen sich die Spätfolgen eines Gestationsdiabetes durch eine adäquate Therapie der Schwangeren eindeutig vermeiden. Dafür muss die Erkrankung aber rechtzeitig erkannt werden. Obwohl bis zu 10 Prozent aller Schwangeren von einem Gestationsdiabetes betroffen sind, wird der Glucose-Toleranztest in Deutschland nicht von den Krankenkassen bezahlt. Er zählt immer noch als individuelle Gesundheitsleistung (IGeL) und muss von der Patientin selbst bezahlt werden. Wie sinnvoll ein solches Diabetes-Screening bei Schwangeren ist, untersucht derzeit das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Vorgesehen ist das Screening für die 24. bis 28. Schwangerschaftswoche. Da die fetale Programmierung für Adipositas und Diabetes im letzten Schwangerschaftsdrittel stattfindet, wäre dies auch für die Vermeidung einer fetalen Programmierung und deren Spätfolgen ein optimaler Zeitpunkt.