Komplikationen nach der Entlassung |
12.12.2005 13:15 Uhr |
Komplikationen nach der Entlassung
von Gudrun Heyn, Berlin
Über Jahrzehnte gehörte die Behandlung der Neugeborenengelbsucht zur Routine deutscher Krankenhäuser. Heute sind Mütter und Kinder meist schon zu Hause und ohne medizinische Überwachung, wenn die Kleinen den Höhepunkt der Bilirubinanreicherung in Blut und Haut erreichen. Gefährliche Komplikationen treten jetzt wieder häufiger auf als früher.
Die Liegezeit der Wöchnerinnen in den Geburtskliniken geht seit Einführung der Kostenpauschalen kontinuierlich immer weiter zurück. Derzeit werden gesunde Mütter mit ihren Kindern bereits am zweiten Tag nach der Entbindung entlassen. »Doch die Glukuronyltransferase, die in der Leber mit für den Bilirubinabbau verantwortlich ist, schert sich nicht um verwaltungstechnische Vorgaben«, sagte der Neonatologe Professor Dr. Michael Obladen von der Charité auf dem 22. deutschen Kongress für Perinatale Medizin in Berlin. Nach wie vor tritt das Maximum des Neugeborenen-Ikterus im Alter von vier Tagen auf. Selbst Kaiserschnitt-Kinder sind dann zumeist nicht mehr in der Klinik.
Das Phänomen Hyperbilirubinämie ist sehr häufig: Etwa 60 Prozent aller reifen gesunden Neugeborenen werden sichtbar gelb. Freies Bilirubin reichert sich in Blut und Haut an, denn nach der Geburt sind die Leberfunktionen noch nicht voll entwickelt, der kindliche Organismus ist nicht in der Lage, das Abbauprodukt des Häms in eine wasserlösliche Form zu überführen und mit der Galle auszuscheiden. Dies ist zu Beginn des Lebens durchaus sinnvoll, da Bilirubin als Antioxidans sehr aggressive Sauerstoffradikale unschädlich machen kann. So sind bis zu 5 mg/dl Bilirubin im Serum eines 24 Stunden alten Säugling durchaus normal und bergen keine Gefahr.
Steigt jedoch die Konzentration des Bilirubins weiter an, liegt eine Hyperbilirubinämie vor mit dem Risiko einer Bilirubinintoxikation. Bei stark erhöhten Werten überwindet das freie zytotoxisch wirkende Bilirubin die Hirnschranke und lagert sich in den Nervenzellen des Stammhirns ein. Dieser so genannte Kernikterus (Bilirubinenzephalopathie) kann zu schweren neurologischen Schäden bis hin zur Taubheit führen. Diese Komplikation ist allerdings selten. Meist klingt eine Neugeborenengelbsucht nach zehn Tagen ohne bleibende Schäden ab, wenn die Leberfunktionen ausgereift sind.
Frühes Screening
In vielen Kliniken hat man sich auf die verkürzten Liegezeiten für Mutter und Kind eingestellt. Notwendige Untersuchungen werden sehr viel früher durchgeführt als noch vor wenigen Jahren. So ist auch das Stoffwechsel-Screening der Neugeborenen auf Bilirubin nach vorne verlegt worden. In guten Kliniken helfen nun altersabhängige Vorhersagemodelle das zukünftige Risiko abzuschätzen. Dabei ist es oft unmöglich, mit einem einzigen Untersuchungsergebnis die Entwicklung der Bilirubinwerte exakt zu prognostizieren. Eine zweite Messung zu einem späteren Zeitpunkt wäre sinnvoll. Dann sind die meisten Mütter allerdings schon nach Hause entlassen.
Mit dem Stempel des Messwertes im Mutterpass sehen dann die Eltern zu Hause dem Höhepunkt der Bilirubinanreicherung am vierten Tag allein entgegen. Da die erste Vorsorgeuntersuchung beim Kinderarzt erst am achten Lebenstag erfolgt, sind sie in der Zwischenzeit auf eigene Beobachtungen und eine aufmerksame Hebamme angewiesen, die jedoch in der Regel kein Messgerät besitzt und den Säugling daher nur nach dem Augenschein beurteilen kann.
Ein erstes Anzeichen für erhöhte Werte ist das Gelbwerden des Säuglings. Ernst zu nehmen ist die Gelbsucht, wenn das Neugeborene durch Lethargie, Trinkschwäche, Erbrechen, schrilles Schreien und Krämpfe auffällt. Dies sind typische Symptome einer hochgradigen Gefährdung, weshalb unbedingt ein Arzt aufzusuchen ist. Bei Bilirubinwerten zwischen 15 und 20 mg/dl Serum (je nach Alter) sollten die Säuglinge eine Phototherapie mit blauem Licht (Optimum 460 nm Wellenlänge) erhalten. Bei Notfällen, also Werten von 25 bis 30 mg/dl, ist ein Blutaustausch notwendig. Betroffene Kinder sind in eine Klinik einzuweisen, die Erfahrung mit Austauschtransfusionen hat.
Die Bilirubinwerte in den ersten Lebenswochen werden inzwischen vielfach mit einem Multispektralgerät transkutan ermittelt. Eine solche Messung kann schon 20 Stunden nach der Geburt erfolgen. Bei kritischen Werten muss nach wie vor eine Blutuntersuchung auf Hyperbilirubinämie durchgeführt werden. Bereits Bilirubinwerte über 20 mg/dl im Serum können neurologische Dysfunktionen zur Folge haben. Wird nicht frühzeitig behandelt, leiden diese Kinder im Alter von etwa sieben Jahren unter motorischen Störungen. Vermutet wird, dass selbst Werte unter 20 mg/dl geringfügige Störungen in den kindlichen Bewegungsmustern hervorrufen können. Werden Bilirubinkonzentrationen im Serum von über 25 mg/dl erreicht, ist die Gefahr eines Kernikterus groß.
Bei Stillkindern häufig
Gerade bei voll gestillten Kindern sind häufig erhöhte Bilirubinkonzentrationen zu beobachten. Heute weiß man, dass nicht die Muttermilch dafür verantwortlich ist, sondern eine unzureichende Ernährung. Kinder, die weniger als neunmal am Tag angelegt werden oder zusätzlich Tee bekommen, entwickeln einen Ikterus. Das Gelbwerden bei Stillkindern wird daher von Experten auch als frühes Zeichen eines falschen Stillmanagements gedeutet. Dann gilt es nicht, den auffälligen Säugling phototherapeutisch zu behandeln, sondern zunächst das Trinkverhalten zu verbessern, indem die Kinder häufiger angelegt werden.
Fehlinterpretationen von Messwerten sind immer dann möglich, wenn der kleine Patient Medikamente bekommt. Denn Untersuchungen bestimmen stets das Gesamtbilirubin. Für die Toxizität verantwortlich ist jedoch das freie, nicht an Albumin gebundene Bilirubin. Wirkstoffe, die das Stoffwechselprodukt aus dieser Bindung verdrängen, wie etwa die Kombination der beiden Antibiotika Piperacillin und Tazobactam, erhöhen die Konzentration des freien Bilirubins, ohne jedoch den Messwert zu verändern. Somit können sie scheinbar ungefährliche Bilirubinkonzentrationen vortäuschen. Apotheker sollten daher Eltern und betreuende Ärzte auf die Gefahr einer Wertunterschätzung aufmerksam machen.
Welche Auswirkungen es haben kann, wenn die Bilirubinüberwachung zu lasch gehandhabt wird, ist in den letzten Jahren sehr deutlich geworden, sagte Obladen. 1992 veröffentlichte die American Academy of Pediatrics neue Grenzwerte zur Hyperbilirubinämie-Therapie mit dem Ziel, unnötige Behandlungen bei Neugeborenen zu vermeiden. Die neuen Indikationsgrenzen, die sehr viel moderater als zuvor waren, wurden in vielen Ländern übernommen, so auch in Deutschland 1997. Dadurch stieg die Inzidenz des Kernikterus an. So entwickelten etwa in Dänemark 11 von 32 Kindern mit einem Bilirubinwert über 25 mg/dl eine akute Bilirubinenzephalopathie. Auch in Deutschland ist bei 25 von 100.000 Geburten wieder mit einem Kernikterus zu rechnen, nachdem über 25 Jahre lang kein Fall mehr aufgetreten war, berichtete Obladen. Die Gründe hierfür sind zum einen die niedrigen amerikanischen Grenzwerte und den dadurch späten Therapiebeginn und zum anderen die frühe Entlassung der Mütter aus den Krankenhäusern.
Ein neues Hyperbilirubin-Management, das diese Problematik berücksichtigt, ist derzeit noch nicht in Sicht. Um die Situation zu verbessern, müsste die Kommunikation zwischen allen Beteiligten verstärkt werden, meinte Obladen. Damit Neugeborene nicht durch das Betreuungsraster fallen, gilt es vor allem, die Eltern bereits in den Kliniken umfassend über die möglichen Folgen einer Hyperbilirubinämie aufzuklären. Hierzu gehört auch der Hinweis, dass bei voll gestillten Kindern ein höherer Bilirubinwert hausgemacht sein kann.