Erkennen, vernetzen, behandeln |
03.12.2013 19:05 Uhr |
Von Ev Tebroke / Für Menschen mit psychischen Erkrankungen ist der Leidensweg oft lang. Denn bisher sind die Versorgungsmöglichkeiten, angefangen von der Diagnose über die Beratung bis hin zur Therapie, meist unzureichend. Das Hamburger Projekt Psychenet erprobt neue Ansätze, um Betroffenen schneller und nachhaltig zu helfen. Das Schlüsselwort dabei: Vernetzung.
Mit psychischen Erkrankungen ist es so eine Sache: Betroffene wissen oft selbst nicht, was ihnen genau fehlt. Dazu kommt, dass psychische Krankheiten in der Öffentlichkeit häufig immer noch stigmatisiert werden. Ausgebrannt zu sein, ist gesellschaftlich noch vertretbar, aber depressiv? Oder angstgestört, süchtig, schizophren? Oft vergehen etliche Jahre, bis Betroffene ärztliche oder therapeutische Hilfe suchen – wenn überhaupt. Dazu kommen im Schnitt Wartezeiten auf ein Erstgespräch beim Psychotherapeuten von mehreren Monaten. Um diese Missstände zu beseitigen, entwickelt und erprobt das wissenschaftliche Projekt Psychenet – Hamburger Netz psychische Gesundheit seit drei Jahren neue Versorgungsformen für Menschen mit psychischen Erkrankungen.
Psychisch erkrankte Menschen fühlen sich häufig alleingelassen mit ihrem Leiden. Das Hamburger Netzwerk Psychenet will ihnen schnelle Hilfe und Orientierung bieten.
Foto: dpa
»Durch bessere Aufklärung und die Vernetzung aller Beteiligten lässt sich bereits viel erreichen«, sagte Professor Martin Härter, Leiter und wissenschaftlicher Sprecher von Psychenet. Eine enge und kontinuierliche Zusammenarbeit von Haus- und Fachärzten, Psychotherapeuten und Beratern in unterschiedlichen Versorgungsbereichen ist seiner Meinung nach für eine patientenzentrierte und wirksame Diagnose und Behandlung entscheidend. Nach Angaben des Psychenet-Leiters erkrankt jeder dritte Erwachsene in Deutschland innerhalb eines Jahres an einer psychischen Störung. Doch nur 26 Prozent aller Betroffenen erhielten irgendeine und noch weniger Betroffene eine adäquate Behandlung.
Härter, der auch Leiter des Instituts für Medizinische Psychologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf ist, sieht die Gründe für die mitunter unzureichende Versorgung psychisch Erkrankter nicht nur im Mangel an Therapeuten und Fachärzten, sondern vor allem auch in der Trennung zwischen ambulanter und stationärer Betreuung sowie der Rehabilitation. Genau hier setzt das Projekt Psychenet an. »Wir entwickeln und überprüfen innovative Konzepte, die sicherstellen, dass Betroffene kontinuierlich von der Arztpraxis über die Klinik bis hin zur Reha oder Beratung versorgt werden können«, so Härter.
Seit 2011 wird das Projekt für vier Jahre vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert. 2010 hatte die Stadt Hamburg damit als eine von fünf Regionen in Deutschland den Titel Gesundheitsregion der Zukunft beim Wettbewerb des Ministeriums gewonnen. An dem Netzwerk Psychenet sind mehr als 60 Einrichtungen und Unternehmen in Hamburg sowie mehr als 300 Praxen und über 20 Fachkliniken beteiligt. Das Projekt, das in Kinospots und auf Plakaten beworben wird, gliedert sich in elf wissenschaftlich begleitete Teilbereiche. Diese sind durch das interaktive Internetportal Psychenet miteinander vernetzt.
Kassen stellen Fördermittel
Neben neuen Strukturen in der Versorgung geht es darum, die Diagnostik, Indikationsstellung und Behandlung psychisch Erkrankter zu verbessern. Auch Aufklärung und Bildung, krankheitsübergreifende Prävention und die Stärkung der Betroffenen und Angehörigen bilden Schwerpunkte des Projekts. Fünf Gesundheitsnetze fokussieren sich jeweils auf einzelne Krankheitsfelder wie Psychose, Magersucht oder Bulimie, somatoforme Störungen oder Alkoholmissbrauch im Jugendalter.
Härter leitet das Gesundheitsnetz Depression, welches von den Krankenkassen mit 245 000 Euro unterstützt wird. Dass hier alle Krankenkassen grünes Licht für eine Modellförderung gaben, freut den Mediziner sehr. »Das ist bislang bundesweit einmalig.« Das Gesundheitsnetz bietet den Patienten, die sich für die Studie eingeschrieben haben, ein gestuftes Behandlungsmodell mit sechs Behandlungswegen unterschiedlicher Intensität. Dabei spielt die Sensibilisierung der Hausärzte für mögliche Behandlungsformen eine entscheidende Rolle. Nach Angaben von Härter werden 80 Prozent aller depressiven Erkrankungen durch den Hausarzt erkannt. »Etwa 60 bis 70 Prozent der Patienten werden auch dort behandelt.«
Um den Betroffenen schnell Hilfe anbieten zu können, setzen Härter und seine Kollegen auf eine Flexibilisierung des Therapieangebots. So könnten für Patienten mit leichteren Depressionen oft Kurzinterventionen ausreichend sein. Der Fokus liegt dabei auf Methoden, die die Selbsthilfe des Patienten fördern. Betroffene können sich beispielsweise mit E-Health-Programmen online selbst behandeln oder mit entsprechenden Selbsthilfe-Büchern. Auch eine psychotherapeutische Telefonunterstützung ist eine neue Behandlungsoption. Dabei können Betroffene in 12 Telefonsitzungen à 30 Minuten therapeutische Hilfe bekommen.
Die Erfahrungen zeigten, dass gerade diese neuen Behandlungswege sehr gut ankommen, so Härter. Demnach nutzt fast ein Drittel der rund 470 am Gesundheitsnetz Depression teilnehmenden Patienten diese niederschwelligen Angebote.
Schneller zum Therapieplatz
Für schwerer erkrankte Patienten ermöglicht ein optimierter Informationsaustausch zwischen den Behandlern einen schnelleren Therapieplatz beim Spezialisten. So kann der Hausarzt in einer speziellen Datenbank sehen, bei welchem Psychotherapeuten oder Psychiater wann ein Platz frei ist und diesen dann sofort reservieren. Diese neuen Ansätze helfen, den Stau bei den Therapieplätzen abzubauen. »Die Wartezeit bei Psychenet auf ein Erstgespräch beim Spezialisten liegt unter vier Wochen«, so Härter.
Interessierte Betroffene können sich noch bis Ende dieses Jahres für eine Teilnahme an der Studie einschreiben. Die Einschreibung erfolgt über die zuständigen Hausärzte. Nach der Nachbeobachtung aller Studien-Teilnehmer sollen im ersten Quartal 2015 dann die Ergebnisse von Psychenet der Öffentlichkeit präsentiert werden. Dann werden die Fakten zeigen, wie sich die vernetzte Versorgung auf die Gesundheit der Patienten auswirkt, welche Behandlungsstrukturen besonders effektiv sind und welche Modelle sich beispielsweise für die Integrierte Versorgung eignen.
Auch wird man wissen, wo Anreize für Ärzte, Patienten und Angehörige noch verbessert werden müssten. Die bisherigen Ergebnisse sind bereits vielversprechend. »Das Feedback ist sehr positiv«, so Härter. »Ich bin davon überzeugt, dass die Versorgung von Patienten mit psychischen Erkrankungen durch bessere Aufklärung und Information sowie durch vernetzte evidenzbasierte Versorgung einen Sprung nach vorn machen wird.« /