Hilfe für die Waisenkinder der Medizin |
25.11.2008 11:45 Uhr |
Hilfe für die Waisenkinder der Medizin
Von Sven Siebenand
Morbus Pompe, Morbus Fabry und Morbus Gaucher sind nur drei von schätzungsweise 8000 seltenen Erkrankungen. Was mit der Zulassung von Orphan drugs für die genannten Beispiele bereits gelungen ist, will die EU zukünftig viel häufiger realisieren. Ein Bündel von Anreizen soll die Entwicklung für die Hersteller attraktiver machen.
Seltene Krankheiten sind gar nicht so selten: Allein in der EU sind schätzungsweise bis zu 36 Millionen Bürger, also zwischen 6 und 8 Prozent der Gesamtbevölkerung in den 27 Mitgliedsstaaten, davon betroffen. Und: Selten ist nicht gleich selten. So zählt das Non-Hodgkin-Lymphom mit rund 136.000 Betroffenen in der EU genauso zu den Orphan diseases wie die Hyperammonämie, eine Harnstoffzyklusstörung durch Enzymmangel, mit 46 Patienten.
Rund 80 Prozent der seltenen Erkrankungen sind genetischen Ursprungs. Die übrigen 20 Prozent sind zum Beispiel das Ergebnis bakterieller oder viraler Infektionen oder von Allergien.
Stiefmütterliche Behandlung beendet
Wörtlich übersetzt heißt Orphan drug Waisenkind-Medikament. Anfang November meldete die europäische Arzneimittelagentur EMEA zum 50. Mal die Zulassungsempfehlung für ein solches Arzneimittel. Ein Erfolg, denn aufgrund hoher Entwicklungs- und Forschungskosten und eines vergleichsweise kleinen Absatzmarktes mit Aussicht auf geringen Umsatz zeigte die pharmazeutische Industrie lange Zeit nur geringes Interesse an der Entwicklung von Arzneimitteln für seltene Leiden. Die USA erkannten diese Versorgungslücke und reagierten als Erste, indem sie im Jahr 1983 den »Orphan drug act« erließen. Damit schufen sie wirtschaftliche Anreize zur Entwicklung von Medikamenten gegen seltene, aber gravierende beziehungsweise lebensbedrohende Erkrankungen. Als zweites Land mit einem Orphan-drug-Gesetz folgte rund zehn Jahre später Japan und im Jahr 2000 hatte mit der Verordnung 141/2000 auch in der EU die stiefmütterliche Behandlung seltener Erkrankungen ein Ende. Parallel setzte die EMEA einen Ausschuss für Arzneimittel für seltene Krankheiten (»Committee for Orphan Medicinal Products«, COMP) ein, der die Anträge auf Erteilung des Orphan-drug-Status begutachtet.
14 mehr oder weniger unbekannte tropische Krankheiten hat die Weltgesundheitsorganisation WHO als vernachlässigte Krankheiten, sogenannte Neglected diseases, eingestuft: Buruli Ulcus, Chagas-Krankheit, Schlafkrankheit, Cholera, Dengue-Fieber, Dracunculiasis, endemische Treponematose, Leishmaniasen, Lepra, lymphatische Filariose, Flussblindheit und Bilharziose. Ganz anders als die Orphan diseases sind diese Erkrankungen alles andere als selten. In Afrika, Asien und Lateinamerika leiden Schätzungen zufolge etwa eine Milliarde Menschen an Schlafkrankheit, Flussblindheit oder Chagas. Der Grund der Vernachlässigung ist ähnlich wie bei den Orphan diseases. Die Entwicklung von Medikamenten verhieß den Pharmaunternehmen lange Zeit keine Gewinne. Nachdem Anreize für Forschung und Entwicklung bei den neglected diseases geschaffen wurden, zeichnen sich seit einigen Jahren erfreulicherweise erste Fortschritte ab. Im globalen Strategiepapier der WHO vom Mai 2008 wird zum Beispiel die Forschungsprämie erwähnt. Andere Anreizmodelle sind zum Beispiel Preisgarantien durch »Advanced Market Commitments« sowie Public Private Partnerships (PPP). Bei Letzteren sind die Entwicklungskosten, ökonomischen Risiken und Nutzungsrechte für neue Medikamente auf mehrere Partner verteilt. Dazu zählen neben Pharmaunternehmen zum Beispiel auch nicht-staatliche Organisationen und akademische Forschungseinrichtungen. Beispiele für PPPs sind die Drugs for Neglected Diseases Initiative (DNDi) oder das Medicines for Malaria Venture (MMV). Dem Verband Forschender Arzneimittelhersteller (VFA) zufolge arbeiten die Pharmaunternehmen derzeit an mindestens 59 Projekten für therapeutische Medikamente und an 13 Impfstoffen gegen Krankheiten der Entwicklungsländer. Dabei liegt der Hauptaugenmerk auf der Bekämpfung von Malaria und Tuberkulose. Aber auch auf dem Gebiet der vernachlässigten Krankheiten tut sich was. Insgesamt 17 Projekte und die Entwicklung einiger Impfstoffe zeigen das.
Die Kriterien für die Einstufung als seltene Krankheit sind weltweit ähnlich, im Detail jedoch leicht unterschiedlich geregelt. In der EU wird der Status zum Beispiel bei einer Inzidenz von weniger als 5 Patienten auf 10.000 Einwohner erteilt, in den USA bei weniger als 7,5 pro 10.000 Einwohner und in Japan bei weniger als 4 pro 10.000 Einwohner. Weitere Voraussetzung für ein Orphan drug ist, dass es in der Indikation bisher keine ausreichende Therapie, Diagnosemöglichkeit und Präventionsmaßnahme gibt. Falls doch, muss das neue Produkt einen signifikanten Nutzen bringen.
Köder geworfen, Köder geschluckt
Als Anreize bietet die EMEA zum Beispiel Beratung und Hilfestellung bei der Erstellung der Zulassungs-Dossiers. Das Genehmigungsverfahren wird durch direkten Zugang zum zentralisierten Verfahren der EMEA beschleunigt und die Antragsteller können ferner von bestimmten Gebühren-Ermäßigungen, zum Beispiel für den Antrag, die Genehmigung und die Prüfungen, profitieren. Teilweise sind sie sogar gänzlich davon befreit. Zudem können die Hersteller für die Entwicklung dieser Arzneimittel Zuschüsse aus EU-Fördermitteln erhalten. Am attraktivsten ist aber das zehnjährige Exklusivrecht bei der Vermarktung in der zugelassenen Indikation, das ab Zulassung gilt.
Wie erfolgreich diese Köder waren, beweist die Tatsache, dass seit 2000 insgesamt fast 900 Anträge auf Erteilung des Orphan-drug-Status bei der EMEA eingingen. Rund zwei Drittel davon waren erfolgreich. Derzeit hat die Kommission 569 Arzneimitteln den sogenannten Orphan-designation-Status zuerkannt. Von diesen haben mittlerweile insgesamt 47 unterschiedliche Wirkstoffe die Marktzulassung erhalten (siehe dazu Tabelle). Darunter sind einerseits viele bekannte Wirkstoffe wie Sildenafil, Celecoxib und Ibuprofen.
Indikation | Wirkstoff | Arzneimittel | Zulassung | Firma | Erkrankte in der EU |
---|---|---|---|---|---|
Akromegalie | Pegvisomant | Somavert® | Nov. 2002 | Pfizer | 22.500 |
akute lymphatische Leukämie | Imatinib Mesilat | Glivec® | Sep. 2006 | Novartis Europharm | 23.000 |
Akute lymphoblastische Leukämie | Clofarabin | Evoltra® | Mai 2006 | Bioenvision | 23.000 |
Akute myeloische Leukämie | Histamin Dihydrochlorid | Ceplene® | Okt. 2008 | EpiCept GmbH | 32.200 |
Akute Promyelozyten-Leukämie | Arsentrioxid | Trisenox® | März 2002 | Cell Therapeutics (UK) | 30.000 |
Akute und nicht akute lymphoblastische T-Zell-Leukämie | Nelarabin | Atriance® | Aug. 2007 | GlaxoSmithKline | 51.000 |
Chronische myeloische Leukämie | Imatinib Mesilat | Glivec® | Nov. 2001 | Novartis Europharm | 41.000 |
Chronische myeloische Leukämie | Nilotinib | Tasigna® | Nov. 2007 | Novartis | 46.000 |
Chronische myeloische Leukämie, akute lymphoblastische Leukämie | Dasatinib | Sprycel® | Nov. 2006 | Bristol-Myers Squibb | 74.000 |
Chronische Schmerzen | Ziconotid | Prialt® | März 2005 | Eisai Limited | 71.200 |
Dermatofibrosarcoma protuberans | Imatinib Mesilat | Glivec® | Sep. 2006 | Novartis Europharm | 46.000 |
Ductus arteriosus bei Frühgeborenen | Ibuprofen | Pedea® | Juli 2004 | Orphan Europe | 97.900 |
Eisenüberladung | Deferasirox | Exjade® | Aug. 2006 | Novartis Europharm | 102.000 |
Extravasation durch Anthracycline | Dexrazoxan | Savene® | Juli 2006 | Topo Target | 152 |
Familiäre adenomatöse Polyposis | Celecoxib | Onsenal® | Okt. 2003 | Pharmacia-Pfizer | 23.000 |
Hereditäres Angioödem | Icatibant | Firazyr® | Juli 2008 | Jerini AG | 110.000 |
Homocystinurie | Betain | Cystadane® | Feb. 2007 | Orphan Europe | 7500 |
Hyperammonämie | Carglumsäure | Carbaglu® | Jan. 2003 | Orphan Europe | 46 |
Hypereosinophiles Syndrom/chronische eosinophile Leukämie | Imatinib Mesilat | Glivec® | Nov. 2006 | Novartis Europharm | 46.000 |
Krebs | Busulfan | Busilvex® | Juli 2003 | Pierre Fabre Medicament | 32.100 |
Leberzellkrebs | Sorafenib | Nexavar® | Okt. 2007 | Bayer HealthCare | 37.500 |
Lennox-Gastaut-Syndrom | Rufinamid | Inovelon® | Jan. 2007 | Eisai | 65.000 |
Lungenhochdruck | Bosentan | Tracleer® | Mai 2002 | Actelion Registration | 95.000 |
Lungenhochdruck | Iloprost | Ventavis® | Sep. 2003 | Schering AG | 95.000 |
Lungenhochdruck | Sildenafil | Revatio® | Okt. 2005 | Pfizer | 95.000 |
Lungenhochdruck | Sitaxentan Natrium | Thelin® | Aug. 2006 | Encysive Limited UK | 95.000 |
Lungenhochdruck | Ambrisentan | Volibris® | Apr. 2008 | Glaxo Group Limited | 95.000 |
maligner gastrointestinaler Stromatumor | Imatinib Mesilat | Glivec® | Mai 2002 | Novartis Europharm | 2250 |
Malignes Gliom | 5-Aminolavulinsäure | Gliolan® | Sep. 2007 | Medac | 37.700 |
Morbus Fabry | Agalsidase alfa | Replagal® | Aug. 2001 | TKT Europe | 1200 |
Morbus Fabry | Agalsidase beta | Fabrazyme® | Aug. 2001 | Genzyme Europe | 1200 |
Morbus Gaucher | Miglustat | Zavesca® | Nov. 2002 | Actelion Registration | 27.500 |
Morbus Pompe | rekombinante, saure alpha-Glucosidase | Myozyme® | März 2006 | Genzyme Europe | 4500 |
Morbus Wilson | Zinkacetat Dihydrat | Wilzin® | Okt. 2004 | Orphan Europe | 27.500 |
Mukopolysaccharidose I | Laronidase | Aldurazyme® | Juni 2003 | Genzyme Europe | 1100 |
Mukopolysaccharidose II (Hunter-Syndrom) | Idursulfase | Elaprase® | Jan. 2007 | Shire plc. | 400 |
Mukopolysaccharidose VI | Galsulfase | Naglazyme® | Feb. 2006 | BioMarin | 1080 |
Multiples Myelom | Lenalidomid | Revlimid® | Juni 2007 | Celgene Corporation | 50.000 |
Multiples Myelom | Thalidomid/ Melphalan/ Prednison | Thalidomide Pharmion | Apr. 2008 | Pharmion Ltd. | 50.000 |
myelodysplastische/ myeloproliferative Erkrankungen | Imatinib Mesilat | Glivec® | Nov. 2006 | Novartis Europharm | 74.000 |
Myoklonische Epilepsie/Dravet's Syndrom | Stiripentol | Diacomit® | Jan. 2007 | Laboratoires Biocodex | 18.400 |
Narkolepsie mit Kataplexie bei Erwachsenen | Natriumoxybat | Xyrem® | Okt. 2005 | UCB Pharma | 185.000 |
Nebennierenrinden- karzinom | Mitotan | Lysodren® | Apr. 2004 | Laboratoire HRA Pharma | 4000 |
Nierenzellkrebs | Sorafenib | Nexavar® | Juli 2006 | Bayer HealthCare | 115.500 |
Nierenzellkrebs | Temsirolimus | Torisel® | Nov. 2007 | Wyeth | 115.500 |
Non-Hodgkin-Lymphom | Cladribin | Litak® | Apr. 2004 | Lipomed | 136.000 |
Paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie (PNH) | Eculizumab | Soliris® | Juni 2007 | Alexion Europe | 4000 |
Primärer IGF-1-Mangel | Mecasermin | Increlex® | Aug. 2007 | Tercica | 46.000 |
Sichelzellanämie | Hydroxycarbamid | Siklos® | Juli 2007 | Addmedica | 22.000 |
Speiseröhrenkrebs | Porfimer Natrium | Photobarr® | März 2004 | Axcan Pharma | 130.000 |
Systemische Sklerodermie | Bosentan | Tracleer® | Juni 2007 | Actelion Registration | 50.000 |
Thrombozytämie | Anagrelid-Hydrochlorid | Xagrid® | Nov. 2004 | Shire Pharmaceutical Contracts | 138.000 |
Tyrosinämie Typ I | Nitisinon | Orfadin® | Feb. 2005 | Schwedish Orphan International | 4600 |
Weichteilsarkom | Trabectedin | Yondelis® | Sep. 2007 | Pharma Mar S.A. | 92.000 |
Gemäß der Verordnung (EG) 141/2000 zu Arzneimitteln gegen seltene Krankheiten zugelassene Präparate: 47
Derzeit sind in der Europäischen Union die in der Tabelle genannten 47 Medikamente als Orphan drugs zugelassen. Davon sind die folgenden Wirkstoffe gegen mehr als eine seltene Erkrankung angezeigt und tauchen deshalb in der Liste mehrfach auf: Bosentan, Imatinib Mesilat, Sorafenib.
Neben den von der Europäischen Zulassungsagentur EMEA EU-weit zugelassenen Arzneimitteln gegen seltene Krankheiten gibt es zwei nationale Zulassungen und zwar für Miltefosin gegen Leishmaniose und Levodopa bei schweren Parkinsonfällen. Quelle: VFA
Letzteres erhielt zum Beispiel in Form der Injektionslösung Pedea® zur Behandlung eines angeborenen Herzfehlers durch unvollständige Schließung eines Herzgefäßes nach der Geburt bei Frühgeborenen (Ductus arteriosus) den Orphan-drug-Status. Andererseits wurden Wirkstoffe, deren Namen man selten hört, etwa Galsulfase, Miglustat oder Carglumsäure, zugelassen. Obwohl eher unbekannt, bringen sie in der Behandlung seltener Krankheiten, in diesem Fall bei Mucopolysaccharidose VI, bei Morbus Gaucher und bei der bereits erwähnten Hyperammonämie, einen Fortschritt. Ein Großteil der zugelassenen Orphan drugs hilft bei Stoffwechselstörungen (26 Prozent) und Krebs (32 Prozent), andere zum Beispiel bei Atemwegserkrankungen oder bei Erkrankungen des Nervensystems. Positiv auch, dass viele dieser Medikamente auch Kindern zugute kommen.
Harmonisierung von EMEA und FDA
Eine wichtige Erleichterung für die Entwickler ist die Ende 2007 verkündete Entscheidung von FDA und EMEA, dass fortan die gleichen Formulare für die Beantragung des Orphan-drug-Status in den USA und der EU verwendet werden können. Die parallele Beantragung wird damit deutlich beschleunigt. Die Begutachtung selbst erfolgt aber nach wie vor bei beiden Behörden unabhängig voneinander.
EU will Forschung forcieren
»Wir möchten Patienten mit seltenen Krankheiten stärker ins Bewusstsein rücken. Manche Krankheiten sind nicht einmal als solche anerkannt. Deshalb leben viel zu viele Patienten jahrelang in Ungewissheit, bevor ihre Krankheit richtig diagnostiziert und behandelt wird«, erklärte kürzlich die EU-Kommissarin Androulla Vassiliou. Daher hat die Kommission Mitte November einen Vorschlag für eine Empfehlung des Rates zur Bekämpfung seltener Krankheiten angenommen. Dieser legt eine Gemeinschaftsstrategie für Maßnahmen dar, die darauf abzielen seltene Krankheiten besser zu erkennen und ins Bewusstsein zu rücken, nationale Pläne zur Bekämpfung seltener Krankheiten in den Mitgliedstaaten zu unterstützen und die Zusammenarbeit und Koordinierung bei der Bekämpfung seltener Krankheiten auf europäischer Ebene zu stärken.
Laut Kommission soll die Zusammenarbeit dazu beitragen, die derzeit über die ganze EU verteilten knappen Ressourcen für seltene Krankheiten zu bündeln. Ferner soll es Patienten und Gesundheitsberufen in allen Mitgliedstaaten ermöglicht werden, Erkenntnisse und Informationen auszutauschen. Dies geschieht zum Beispiel durch die Vernetzung von Fachzentren in verschiedenen Ländern und durch die Nutzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien (Stichwort: Gesundheitstelematik). Aufbauen sollen die gemeinsamen Aktivitäten auf bereits erfolgreichen Maßnahmen, wie das frühere Aktionsprogramm betreffend seltene Krankheiten, das Rahmenprogrammen für Forschung und technologische Entwicklung und die spezifischen Regelungen, die bereits in Kraft sind, um zusätzliche Anreize für die Entwicklung von Arzneimitteln für seltene Leiden zu schaffen.