»Sonst droht eine Katastrophe« |
28.11.2006 12:01 Uhr |
»Sonst droht eine Katastrophe«
Von Patrick Hollstein
Obwohl die Preise für zahlreiche etablierte Aids-Medikamente für Patienten in Entwicklungs- und Schwellenländern in den vergangenen Jahren um bis zu 99 Prozent gesunken sind, warnen Hilfsorganisationen vor Preissteigerungen und einer erneuten Verknappung der überlebensnotwendigen Pharmaka.
Als Partner auf den internationalen Handelsmärkten stehen mittlerweile auch viele Entwicklungsländer beim Schutz geistigen Eigentums in der Pflicht. Der Interessenkonflikt um Patent und Patient wächst.
Weltweit werden 1,5 Millionen Aids-Patienten antiretroviral behandelt, die meisten von ihnen mit Generika. Es waren ausgerechnet die Pharmafirmen aus Indien, Brasilien, Südafrika und Ostasien, die in den vergangenen zehn Jahren Aids-Medikamente auch für Patienten in den ärmsten Ländern erschwinglich machten. Nicht den Patentgesetzen westlicher Industrienationen verpflichtet, sorgten bis dahin unbekannte Generikahersteller vor allem vom Subkontinent für einen regelrechten Preisrutsch am Virostatika-Markt. Seit dem Jahr 2000 fielen die Jahreskosten für Mittel der First-Line-Therapie von durchschnittlich 10.000 auf rund 130 US-Dollar. Außerdem führten die Firmen nützliche Fixkombinationen bewährter Wirkstoffe ein, ohne auf die Zusammensetzung der Einzelpatente Rücksicht nehmen zu müssen.
Regierungen unter Druck
Mit der Öffnung der Weltmärkte gerieten jedoch die Regierungen in Neu-Delhi, Brasilia, Kapstadt und Bangkok unter Druck, dem prosperierenden Treiben der Pharma-Raubkopierer Einhalt zu gebieten. In Indien, dem wichtigsten Exportmarkt für Entwicklungsländer, wurde 2005 ein neues Patentgesetz verabschiedet, das erstmals nicht nur Herstellungsprozesse, sondern auch fertige Produkte unter Patentschutz stellte. Im gleichen Jahr mussten die meisten Entwicklungs- und Schwellenländer im Rahmen des sogenannten TRIPS-Abkommens der Welthandelsorganisation (WTO) Maßnahmen zum Schutz geistigen Eigentums einführen. Alle neu zugelassenen Medikamente dürfen demnach weltweit für eine Dauer von 20 Jahren nur vom Originalhersteller vermarktet werden. Nur die 50 ärmsten Nationen sind noch bis 2016 von der Umsetzung entsprechender Standards befreit.
Zwar gaben WTO-Vertreter aufgrund des öffentlichen Drucks im November 2001 mit der sogenannten Doha-Erklärung eine erläuternde Stellungnahme zum TRIPS-Abkommen heraus, in der den einzelnen Nationen Sonderbefugnisse gewährt wurden. So können Regierungen unter bestimmten Umständen Zwangslizenzen vergeben, um die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Tatsächlich haben jedoch nur große Länder mit einer funktionierenden Pharmaindustrie wie Indien oder Brasilien die Möglichkeit, dieses Instrument zu nutzen, um Pharmafirmen zu Preisnachlässen zu bewegen. In Thailand steht dieser Tage eine entsprechende Entscheidung bezüglich des Wirkstoffs Efavirenz ins Haus.
Neben den erforderlichen Kapazitäten müssen die betroffenen Regierungen über genügend politisches Ausdauervermögen verfügen, um sich im Poker mit den Pharmariesen durchzusetzen. Denn nicht selten springt der US-Handelsbevollmächtigte seinen wichtigsten Branchenvertretern bei, um über Hilfszahlungen und Schuldenerlässe im Rahmen bilateraler Handelsabkommen deren Verhandlungsposition zu stärken. Ironischerweise hatten im Rahmen des Milzbrand-Skandals ausgerechnet die USA als erstes Land weltweit den deutschen Pharmakonzern Bayer mit der Androhung einer Zwangslizenz zu Preisnachlässen für sein Antibiotikum Ciprobay gezwungen. Kleineren Nationen, die keine eigenen Generikalinien produzieren können, räumte die WTO 2003 die Möglichkeit ein, zwangslizensierte Produkte zu importieren. Tatsächlich ist dieser Fall seitdem nicht einmal eingetreten. »Die administrativen Anforderungen sind schlichtweg nicht zu erfüllen«, erklärt Tobias Luppe von der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen.
Ärzte ohne Grenzen versorgt weltweit derzeit 80.000 HIV-Patienten mit virushemmenden Mitteln; 80 Prozent der Präparate stammen aus indischen Labors. Weil Generika, die bereits produziert und vertrieben werden, in Indien gegen Lizenzgebühr an den Originalhersteller vorerst weiter am Markt bleiben dürfen, blieb der mit der Einführung der TRIPS-Regelungen erwartete Lieferengpass zwar zunächst aus. »Das Problem wurde jedoch nur nach hinten verschoben. Unsere Ausgaben für Medikamente steigen, und die Zukunft der Versorgung ist völlig ungewiss«, so Luppe. Denn anders als Präparate der ersten Generationen stehen Neueinführungen und Produkte der Second-Line-Therapie unter dem besonderen Schutz der Pharmaindustrie. »Jeder Patient, der wegen Resistenzen oder Unverträglichkeiten auf ein neues Produkt umgestellt werden muss, für das keine Generika existieren, kann die Therapiekosten verzwanzigfachen.«
Laut Luppe greifen die medienwirksam angekündigten freiwilligen Lizenzvereinbarungen oder Technologietransfers der Pharmakonzerne zu kurz. »Da wird mit großzügigen Linzenzangeboten geworben, wo noch gar kein Patentschutz besteht, oder es werden Preisnachlässe für Länder beworben, in denen das betreffende Arzneimittel anschließend überhaupt nicht vertrieben wird«, kritisiert Luppe. Medikamente gegen Begleiterkrankungen seien fast nie Bestandteil des ausgehandelten Pakets. Und an Arzneimitteln für HIV-infizierte Kinder, die in Entwicklungsländern dringend benötigt werden, werde ohnehin viel zu wenig geforscht. Wie andere Hilfsorganisationen drängt auch Ärzte ohne Grenzen darauf, dass die Versorgung nicht nur von Aids-Patienten in den Entwicklungs- und Schwellenländern dauerhaft auf sichere Füße gestellt wird. »Wir müssen uns schleunigst Gedanken über die Zukunft der weltweiten Arzneimittelversorgung machen«, so Luppe. »Sonst droht eine Katastrophe.«