Neue Wirkstoffe in der Pipeline |
29.11.2005 14:04 Uhr |
Neue Wirkstoffe in der Pipeline
von Sven Siebenand, Mainz
Ob gegen Krebs, Morbus Alzheimer oder Kokain-Sucht: An zahlreichen neuen Angriffspunkten für die Arzneimitteltherapie wird derzeit geforscht. Experten auf dem 13. Mainzer Forum für medizinische Chemie referierten über innovative Therapieansätze und stellten potenzielle Arzneistoffkandidaten vor.
Die Topoisomerase-I-Hemmstoffe (TOP1-Inhibitoren) stellen eine wichtige Substanzklasse der Zytostatika dar. Sie binden an den Topoisomerase-I-DNA-Komplex und stabilisieren damit die kovalent an die DNA gebundene Form des Enzyms. Das führt zu DNA-Strangbrüchen und letztlich zur Apoptose der Zelle. Mit Irinotecan und Topotecan stehen zwei potente TOP1-Hemmer für die Chemotherapie zur Verfügung. »Allerdings weisen die beiden Camptothecin-Derivate zwei Nachteile auf«, sagte Professor Dr. Edmond J. La Voie, Ernest Mario School of Pharmacy, New Jersey. Zum einen sind sie durch die δ-Lactonstruktur sehr hydrolyseempfindlich und zum anderen sind sie Substrate der Effluxtransporter MDR1 und BCRP. Diese sind verantwortlich für die Ausbildung von Resistenzen und somit für das Versagen einer Chemotherapie, da sie die absorbierte Menge reduzieren.
Mit substituierten Benzo[i]-Phenanthridinen und Dibenzo[c,h]-Chinnolinen fand der US-Forscher mit seinem Team neue TOP1-Hemmer, die nicht vom Camptothecin abgeleitet sind. Diese sind chemisch stabil und einfach synthetisierbar. Für einige Derivate konnte zudem in vitro und in vivo nachgewiesen werden, dass sie nicht Substrat für Effluxtransporter sind und sowohl parenteral als auch oral gegeben zytotoxisch wirksam sind.
Neue Wege in der Krebstherapie
Eine entscheidende Rolle bei der Krebsentstehung spielen Proto-Onkogene. Sie codieren für Proteine, die an der Kontrolle von Wachstums- und Differenzierungsprozessen beteiligt sind. Durch Genmutation werden sie in Onkogene umgewandelt. Ein Beispiel dafür sind Ras-Gene. Sie codieren für Membran-assoziierte G-Proteine, welche Signale für die Zellteilung in den Kern weiterleiten. Haben diese »Schalterproteine« GTP gebunden, senden sie Proliferationssignale. Eine GTP-ase bewirkt, dass GTP zu GDP gespalten wird und die Ras-Proteine somit wieder inaktiviert werden.
Bei der Mutation des Ras-Proto-Onkogens zum Onkogen geht diese intrinsische Enzymaktivität verloren und es werden fortlaufend Signale gesendet. »Da diese Mutationen bei circa 30 Prozent aller Tumoren auftreten, sind Ras-Proteine ein wichtiger Ansatzpunkt für die Entwicklung neuer Krebstherapeutika«, so Professor Dr. Herbert Waldmann vom Max-Planck-Institut für molekulare Physiologie Dortmund. Voraussetzung dafür, dass die Ras-Proteine tätig werden können, ist ihre Verankerung auf der Innenseite der Zellmembran über lipophile Gruppen am Ende ihrer Aminosäurekette. Durch Lipidmodulation ergibt sich die Möglichkeit, die Ras-Proteine zu hemmen. Auch die Interaktion mit nachgeschalteten Effektoren oder eine gezielte GTP-Hydrolyse wären denkbar, um die Ras-Proteine zu deaktivieren.
Die Entwicklung von Antitumor-Vakzinen ist ein weiterer Ansatzpunkt in der Krebsforschung. Professor Dr. Horst Kunz, Institut für Organische Chemie der Universität Mainz, referierte über die Synthese Tumor-assoziierter Glycopeptid-Antigene. Diese tragen Saccharidantigen-Seitenketten und Peptidsequenzen aus der Tandem-Repeat-Region des polymorphen epithelialen Mucins MUC 1. Die benötigten Glycosylaminosäure-Bausteine, welche die tumor-assoziierten Sialyl-Tn- und Sialyl-T-Antigen-Seitenketten tragen, wurden durch biomimetische chemische Synthese hergestellt und dann in Festphasensynthesen der Glycopeptide eingesetzt. Auf diesem Wege wurden komplexe Konjugate aus tumorassoziierten Glycopeptidantigenen und T-Zell-Epitop-Peptiden gewonnen.
Einige dieser synthetischen Antigene induzierten die Proliferation zytotoxischer (CD8-positiver) T-Zellen. In der Zwischenzeit wurden weitere Glycopeptide mit vollen Tandem-Repeat-Sequenzen sowohl aus MUC 1 als auch aus MUC 4 synthetisiert. Sie werden gegenwärtig hinsichtlich ihrer immunologischen Eigenschaften untersucht. In einem weiteren Schritt wurden die Sialyl-Tn-Glycopeptide mit einem T-Zell-Epitop von Ovalalbumin gepaart. Mäuse, die mit dieser voll synthetischen Vakzine behandelt wurden, reagierten darauf mit einer starken humoralen Immunantwort.
Vom Kokain zum Nokain
»In Anbetracht der Tatsache, dass mehr als 14 Prozent aller US-Amerikaner im Alter über 12 Jahre wenigstens einmal in ihrem Leben Kokain verwendet haben, spielt die Kokain-Abhängigkeit ein bedeutendes gesellschaftliches Problem«, so Professor Dr. Alan P. Kozikowski, University of Illinois in Chicago. Zusammen mit seinem Team forscht der US-Amerikaner nach Substanzen, welche die Wiederaufnahme der Neurotransmitter Dopamin, Serotonin und Noradrenalin hemmen. Kokain selbst ist in der Lage, die Aufnahme aller drei Substanzen zu hemmen, für die bhängigkeitserzeugende Wirkung wird allerdings die Blockade des Dopamin-Reuptakes verantwortlich gemacht.
Auf der Suche nach Wirkstoffmolekülen, die erfolgreich gegen die Kokainsucht eingesetzt werden könnten, fanden die Forscher ein Piperidin-basiertes und Tropangerüst-freies Analogon zum Kokain. Die Substanz mit dem Namen Nokain zeichnet sich als selektiver Dopamin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer aus. In Tierversuchen zeigte sich, dass das Verlangen nach Nokain deutlich größer war als nach Placebo. Noch größer war das Verlangen nach Kokain. Aus diesen Beobachtungen schließen die Forscher, dass Nokain ähnlich wirkt wie Kokain, aber um einiges schwächer. Tatsache ist, dass schwächere Drogen weniger missbraucht werden als Drogen wie Heroin oder Kokain und zudem nicht ebenso toxisch sind. »Süchtige könnten durch die Einnahme von Nokain schrittweise und erfolgreicher von Kokain wegkommen«, so der Neurologe. In einem weiteren erfolgreichen Schritt kombinierten die Forscher Nokain mit dem Narkolepsie-Medikament Modafinil, das Kokain-Abhängigen helfen, kann abstinent zu bleiben, zu einem Hybridmolekül.
Professor Dr. Carlo Melchiorre von der Universität Bologna erinnerte an die multifaktorielle Natur demenzieller Erkrankungen. In Deutschland leben derzeit circa eine Million Demenzkranke. Demographische Erhebungen gehen von einer Verdopplung bis zum Jahr 2035 aus und prognostizieren für 2050 2,5 Millionen Betroffene. Neue Arzneistoffe würden also dringend benötigt. Wünschenswert wären Wirkstoffe, die das Fortschreiten der Demenz an unterschiedlichen Stellen stoppen können. Wirkstoffe, die die Acetylcholinesterase (AchE), die Aggregation von Aβ-Protein oder die Hyperphoshorylierung des Tau-Proteins hemmen, tragen alle eigene für die Wirksamkeit essenzielle Strukturelemente. Die italienischen Forscher kombinierten diese unterschiedlichen Strukturen zu Hybridmolekülen, in der Hoffnung multipotente Substanzen zu erhalten.
Zwei Moleküle erwiesen sich dabei als aussichtsreiche Kandidaten: Zum einen Lipocrine, das in vitro die AchE und die Aggregation von Aβ-Protein hemmte und zudem antioxidativ wirksam war. Zum anderen Memoquin, das zusätzlich an transgenen Mäusen getestet wurde und deren kognitive Leistung verbessern konnte.
Benzodiazepine - nächste Generation
Die hemmende Wirkung GABA-erger Neuronen wird durch Benzodiazepine verstärkt. Durch Interaktion mit α-Rezeptoren wird die Affinität von GABA zu dessen Bindungsstelle erhöht. Dadurch wirken sie anxiolytisch, sedierend, antikonvulsiv und muskelrelaxierend. Mittlerweile ist bekannt, dass ihre anxiolytische Wirkung auf Wechselwirkung mit den α2- und α3- Rezeptorsubtypen beruht, die sedierende Wirkung auf α1-Agonsimus. Auf der Suche nach nicht-sedierenden Tranquilizern ging das Team von Dr. John R. Atack vom Neuroscience Research Centre in Essex, Großbritannien, von der Hypothese aus, Substanzen finden zu müssen, die ausschließlich an den α2- und α3- Rezeptorsubtypen angreifen und nicht am α1-Subtyp. Sie fanden zwei Substanzen mit 5fach beziehungsweise 12fach höherer Affinität zu α3 gegenüber α1. Allerdings zeigte sich, dass diese Selektivität nicht ausreichend war, um die α1-vermittelte Sedierung auszuschalten. Deshalb änderten die Forscher ihre Strategie und suchten nach Molekülen, die zwar mit gleicher Affinität an den einzelnen Rezeptorsubtypen angreifen, aber nur an α2 und α3 die GABA-erge Wirkung erhöhen. Das Imidazotriazin-Derivat TPA-023B erfüllte in vitro diese Bedingungen und besitzt zudem auch günstige pharmakokinetische Eigenschaften, sodass die Substanz ein aussichtsreicher Kandidat für klinische Prüfungen sein könnte.
NSAIDs, Coxibe und danach?
Das Prostaglandin PGE2 steigert die Empfindlichkeit der Nerven für Schmerz. Dieser wird heute mit Cyclooxygenase-Hemmern (COX-Hemmer) behandelt. Allerdings zeigen sowohl die unselektiven COX-Hemmer (Blutungen, Nierenschäden, Asthma) als auch die selektiven COX-2-Hemmer (erhöhtes kardiovaskuläres Risiko) Nebenwirkungen. »Substanzen, die später als COX in die Synthese von PGE2 eingreifen, könnten die Verträglichkeit deutlich verbessern«, so Professor Dr. Dr. Gerd Geißlinger vom Pharmazentrum Frankfurt des Klinikums der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität. Möglicher Angriffspunkt für potenzielle Wirkstoffe sind terminale PGE2-Synthasen (PGES). Vor allem die membrangebundene Form m-PGES-1 scheint bei der Entstehung von Schmerz und entzündlichen Prozessen eine wichtige Rolle zu spielen. Allerdings zeigten Untersuchungen an Mäusen mit einem m-PGES-1-Defekt, dass deren Eicosanoid-Metabolismus in Richtung anderer Prostaglandine umgeleitet wird. Diese können die Funktion von PGE2 ersetzen, antagonistisch wirken oder ohne Effekt auf die PGE2-bedingten physiologischen Funktionen bleiben. Diese Erkenntnis erschwert die Entwicklung potenzieller Arzneistoffe. »Ob selektive m-PGES-1-Inhibitoren tatsächlich als Arzneistoff nützlich sein können, kann nur mittels validierter Tiermodelle in vivo getestet werden«, sagte Geißlinger.