SOS aus dem Innenohr |
13.11.2006 11:16 Uhr |
SOS aus dem Innenohr
Von Inga Leo-Gröning
Von chronischen Ohrgeräuschen sind in Deutschland 2,7 Millionen Menschen betroffen. Davon leiden circa 1,5 Millionen an Folgen wie Konzentrations- oder Schlafstörungen. Der akustische Terror kann bis hin zu schweren Depressionen führen.
Was tun? Oft ist der Apotheker erster Ansprechpartner auf der Suche des Patienten nach Strategien, die ihn Macht über das unberechenbare Martyrium im Kopf gewinnen lassen.
Auf die Frequenz genau
Das Ohr schläft nie. Tag und Nacht wertet es Geräusche aus und warnt den Menschen so gegebenenfalls auch rechtzeitig vor Gefahren. Töne versetzen die Luft in Schwingung. Treffen sie auf den menschlichen Kopf, wird der ganze Schädel in Schwingung versetzt. Dieses führt zu einer direkten Übertragung der Laute auf die erbsengroße Hörschnecke. Diese Knochenleitung spielt physiologisch kaum eine Rolle, kann aber zur Diagnose von Innenohrschwerhörigkeit oder Schallleitungsschwerhörigkeit herangezogen werden. Viel wichtiger ist die Wahrnehmung der Töne über die Luftleitung und das menschliche Trommelfell.
Die Ohrmuschel und der Gehörgang dienen der Schallzerlegung zur Ortung der Schallquelle und der Tonverstärkung durch Resonanz. Die Auslenkung des Trommelfells bewegt Hammer, Amboss und Steigbügel. Diese mechanische Schallübertragung auf das ovale Fenster sorgt für eine verlustarme Übertragung des Schalls von der Luft in die flüssige Perilymphe der Scala vestibuli (Vorhoftreppe). Wie diese ist auch die Scala tympani (Paukentreppe) mit Perilymphe gefüllt. Diese beiden umschließen den mit Endolymphe gefüllten Gehörgang (Scala media). Die durch die Auslenkung des ovalen Fensters erzeugte Welle hat ein Maximum, das charakteristisch für die Frequenz des jeweiligen Tons ist. Dieses Maximum liegt umso näher beim Steigbügel, je höher die Schallfrequenz ist.
Durch die Volumenverschiebung am Ort des Maximums können Vorhof- und Paukentreppe kurzgeschlossen werden. Infolge dieser Verschiebung werden Tektorialmembran und Basilarmembran, in der die Haarzellen liegen, gegeneinander verschoben. Dies führt zu winzigen Abscherungen der Haarzellen und öffnet die Kaliumkanäle. Durch den Kaliumeinstrom in die Haarzellen werden Aktionspotenziale in den zum Gehirn führenden afferenten Fasern des Hörnervs ausgelöst.
Die innere Reihe der Haarzellen ist für die Wahrnehmung der Töne verantwortlich, während die äußere Haarzellreihe eine moderierende, also dämpfende oder verstärkende Funktion zur Modulierung der Schallintensität hat. Im Hörnerv werden die Informationen zur Schallfrequenz, -intensität und -richtung sowie zur Entfernung der Schallquelle verschlüsselt weitergeleitet und in den verschiedenen Zentren des Gehirns gefiltert, emotional belegt und zugeordnet. Zusätzlich enden an den Haarzellen vom Gehirn kommende efferente Nervenfasern, die die Aufnahme bestimmter Frequenzen hemmen. So können störende Umgebungsgeräusche weggefiltert werden.
Klassifikation und Schweregrade
Der Begriff Tinnitus (aurium) stammt aus dem Lateinischen und heißt (Ohr-)Geklingel oder -Klingeln. Als Tinnitus bezeichnet man ständige oder wiederkehrende Geräusche im Kopf oder in den Ohren ohne externe Schallquelle. Diese Geräusche verunsichern und sind daher mit negativen Emotionen belegt. Oft geht der Tinnitus mit einer Lärmempfindlichkeit oder einer Hörminderung einher. An der Stelle des größten Hörverlustes liegt meist auch die Tinnitusfrequenz.
Der Tinnitus kann nach verschiedenen Kriterien eingeteilt werden. Bei der Klassifikation nach Entstehungsmechanismen wird zwischen sehr seltenen objektiven und häufigeren subjektiven Geräuschen unterschieden. Die objektiven Geräusche können auch vom Untersucher akustisch wahrgenommen werden. Dieses Körpergeräusch kann pulssynchron, kontinuierlich, klickend oder blasend bei der Ein- und Ausatmung sein.
Hingegen hört die subjektiven Geräusche nur der Betroffene selbst. Diese Geräusche sind hin und wieder oder andauernd in einem oder beiden Ohren, aber auch im ganzen Kopf zu vernehmen. Von den Patienten werden sie als Zischen, Sausen, Klopfen, Klingeln, Knarren, Knallen oder Dröhnen beschrieben.
Je nach Lage können Ohrgeräusche bedingt zum Beispiel durch festsitzende Ohrschmalzpfropfen oder eine Gehörgangsentzündung im äußeren Ohr, infolge von Infektionen oder akuten und chronischen Mittelohrentzündungen aber auch im Mittelohr entstehen. Mit einer Funktionsstörung der Haarzellen einhergehend kann ihre Ursache zudem im Innenohr liegen. Der Tinnitus kann jedoch auch auf Schäden im Verlauf der Hörnerven oder im zentralen Hörsystem basieren.
Je nach Dauer unterscheidet man den akuten, das heißt weniger als drei Monate andauernden, vom subakuten, also drei Monate bis zu einem Jahr währenden Tinnitus. Der chronische Tinnitus besteht länger als ein Jahr.
Je nach Umgang der Betroffenen mit den Ohrgeräuschen wird unterschieden in einen kompensierten, dekompensierten oder komplexen Tinnitus. Kompensiert bedeutet, dass der Patient das Ohrgeräusch zwar registriert, aber damit dennoch gut leben kann (Grad 1). Tritt der Tinnitus hauptsächlich in der Stille auf und wird durch Stress oder psychisch-physische Belastungen verstärkt, spricht man von Grad 2.
Der dekompensierte, nicht erträgliche Tinnitus wird als peinigend empfunden. Dies kann massive Auswirkungen auf alle Lebensbereiche haben, da der Betroffene unter Angstzuständen, Schlaf- und Konzentrationsstörungen oder Depressionen leidet. Infolgedessen kann es zur sozialen Isolation oder zu Persönlichkeitsveränderungen kommen. Sind diese Beeinträchtigungen im privaten und beruflichen Umfeld des Patienten dauernd, wird es als Grad 3 beschrieben. Wird der Tinnitus nicht mehr kontrollierbar, spricht man von Grad 4. Die Bezeichnung »komplexer Tinnitus« berücksichtigt auch psychische Beeinträchtigungen.
Klare Diagnose erforderlich
Da Tinnitus ein Symptom mit unterschiedlichen Ursachen ist, muss die genaue Diagnose durch den HNO-Arzt erfolgen. Zentrale Fragen des Arztes sind die nach der Dauer und Art des Ohrgeräusches sowie die nach den Auswirkungen. Geklärt werden muss, ob die Ohrgeräusche ein- oder beidseitig auftreten beziehungsweise ob sie sich durch Umweltgeräusche maskieren lassen. Festgestellt werden muss, ob der Tinnitus mit einer Hörminderung oder einem Hörsturz einhergeht.
Zur Diagnose ist auch die Frage nötig, ob die Ohrgeräusche durch psychische Belastungen oder Aufregung verstärkt werden beziehungsweise ob sie sich durch körperliche Aktivitäten oder Körper- und Kopfhaltung beeinflussen lassen. Festgestellt wird auch der Frequenzbereich des Tinnitustons, wobei Töne im Hochtonbereich meist durch Lärm, im Tieftonbereich durch Endolypmhschwankungen zum Beispiel bei seelischem Leid ausgelöst zu sein scheinen.
Ein akuter, subjektiver Tinnitus muss ebenso wie ein Hörsturz schnell HNO-ärztlich behandelt werden. Tinnitus, oft mit einer Hörminderung einhergehend, kann bei selbst kurzzeitiger Einwirkung von Lärm zum Beispiel bei Rockkonzerten, durch laut aufgedrehte Walkmen oder den Aufenthalt in Discotheken direkt an den Boxen, durch Silvesterknaller sowie durch Explosionen bei der Airbag-Entfaltung oder beim Schießsport hervorgerufen werden. Die überhöhten Impulsschallbelastungen gehen häufig mit sichtbaren Schäden am Trommelfell und der Gehörknöchelchenkette einher.
Lärm mäht Haarzellen nieder
Bei einem Knalltrauma, also einer akuten Innenohrschädigung mit Hörverlust, werden oft auch die Haarzellen im Innenohr wie ein Kornfeld im Wind »niedergemäht« und können somit ihrer Funktion nicht mehr gerecht werden. Beim subjektiven Tinnitus konnten folgende Phänomene festgestellt werden:
Sind die inneren Haarzellen beschädigt, können sie nicht mehr angemessen auf einen Schallreiz reagieren. Trotzdem fließen sogenannte »Leck-Ströme« durch die Ionenkanäle und führen zur ständigen Erregung der Haarzellen, die als akustisches Signal an das Gehirn weitergegeben wird.
Die Haarzellen sind normalerweise steif. Ihr »Aktin-Skelett«, das ihnen diese Festigkeit vermittelt, kann zum Beispiel durch Lärm »aufgeweicht« werden. Durch die Braunsche Molekularbewegung bewegen sich die Flüssigkeitsmoleküle der Perilymphe, wobei sich die aufgeweichten Haarzellen passiv mitbewegen und auf diese Weise ständig Signale erzeugen.
Weisen die Ionen-Kanäle eine veränderte Durchlässigkeit auf, nimmt die Erregung der Sinneszellen ebenfalls zu. Eine Übererregung der äußeren Haarzellen kann die inneren Haarzellen veranlassen, Nervenimpulse freizusetzen, die nur als Schall gedeutet werden können. Verlieren die äußeren Haarzellen die Eigenkontrolle und bewegen sich somit ohne äußeren Reiz, hören die Patienten in diesem Frequenzbereich nicht mehr der äußeren Schallquelle gemäß, dafür aber »eigenständige« Töne.
Werden die äußeren Haarzellen geschädigt, verlieren sie ihre moderierende Funktion. Im übergeordneten Steuerzentrum wird dieser Verlust bemerkt. Die verbliebenen äußeren Haarzellen werden veranlasst, ihre Aktivität zum Ausgleich zu verstärken. Allerdings können auch diese so nicht die verloren gegangenen Informationen zurückgewinnen. Weil die äußeren Haarzellen durch das Gehirn gesteuert werden, kann ein Ohrgeräusch auch Ausdruck sowohl einer aktuellen als auch einer früheren seelischen Belastung sein. Bei älteren Menschen zählt zu den Ursachen insbesondere die Erinnerung an die Kriegszeit.
Versagen bestimmte Filter im Gehirn, werden Spontanaktivitäten des Hörsystems akustisch wahrgenommen. Dauert ein Tinnitus länger als drei Monate an, scheint das Gehirn durch diese andauernde Aktivierung Dauertöne zu »erlernen«. Dies kann sich darin äußern, dass sich die Laute nicht nur auf eines oder beide Ohren beschränken, sondern im Kopf zentralisieren.
Übermäßigem Lärm, der sehr schnell zu einem Tinnitus führen kann, setzen sich unbedacht meist Jugendliche aus. Diese müssen im Rahmen einer entsprechenden Aufklärung auf die Gefahren hingewiesen werden. Sie sollten motiviert werden, Hörschutz zu nutzen, zumal dieser die Geräusche zwar linear dämmt, aber zum Beispiel Musikgenuss nicht einschränkt. Gerade von Kinder-Ohren sollten Spielzeugpistolen, Knallfrösche, Sirenen oder Trillerpfeifen ferngehalten werden, da ein einziger Schuss zu dauerhaften Ohrschäden führen kann.
Erwachsene sollten selbst bei kurzen Aufenthalten an Arbeitsplätzen mit Lärm über 90 dB konsequent Gehörschutz tragen. Nach akuten Lärmbelastungen am Arbeitsplatz ist es wichtig, den Ohren Zeit zur Regeneration zu geben. Sie können bis zu zehn Stunden brauchen, um sich zu erholen, und sollten somit nicht auch in der Freizeit noch überbordenden Lärmquellen ausgesetzt werden.
Bei Manifestation eines chronischen Tinnitus müssen Ursachen wie Herz-Kreislauf-, Zahn-, Schilddrüsen- oder neurologische beziehungsweise virale oder entzündliche Erkrankungen sowie Tumore des Hörnervs (Akustikusneurinom) oder des Gehirns, ein Endolymphstau, eine generelle (Alters-)Schwerhörigkeit, Morbus Menière, Otosklerose, aber auch Veränderungen der Kiefergelenke oder der Halswirbelsäule ausgeschlossen werden.
Sinnvoll kann die Kontrolle von Zahnfüllungen beziehungsweise eine Zahnschiene bei nächtlichem Zähneknirschen sein. Auch eine Überstreckung der Halswirbelsäule oder ein Schleudertrauma können als Ursache infrage kommen. Nicotin und verschiedene Medikamente (Tabelle 1) können einen Tinnitus auslösen. Wird bei Tinnitusbetroffenen der Ton bei Einnahme spezifischer Medikamente lauter, ist eine Alternativtherapie zu erwägen.
Häufigkeit | Wirkstoffe | ||
---|---|---|---|
sehr häufig (>10 Prozent) | Indometacin | häufig (1 bis 10 Prozent) |Buspiron Mexiletin Naproxen|Peginterferon alfa-2b Piroxicam Interferon alfa 2b|Risedronsäure Sertralin Temozolomid gelegentlich (0,1 bis 1 Prozent) |Adalimunab Alemtuzumab Amlodipin Amitryptilin Atorvastatin Bortezomib Bupropion Buspiron|Cefpodoxim Celecoxib Citalopram Enalapril Frovatriptan Galantamin Imatinib Imiquimod|Meloxicam Lopinavir Oxybutynin Paroxetin Posaconazol Sulfasalazin Tacrolismus Triptorelin selten (<0,1 Prozent)|Adenosin Amlodipin Anagrelid Articain Aztreonam Budipin Buserelinacetat Cefepim|Ciprofloxacin Gabapentin Gadobensäure Lidocain Moxifloxacin Loteprednoletabonat Maprotilin Misoprostol|Perflutrengas Quinapril Ramipril Roxithromycin Ticlopidin Valsartan Verapamil Voriconazol sehr selten |Amphotericin B Felodipin Ibuprofen|Irbersartan Itraconazol Methylergometrinmaleat |Ofloxacin Paclitaxel vereinzelt|Imipramin| | weniger häufig|Mefloquin|Trimipramin| im Einzelfall (< 0,01 Prozent)|Dexketoprofen Imipramin|Teicoplanin Torasemid| ohne nähere Angabe der Häufigkeit|Acetylsalicylsäure Almotriptan Amilorid Aprepitant Bemetizid Bexaroten Benazepril Buprenorphin Chinidin Clomipramin α-Dihydroergo- criptinmethansulfonat|Doxylamin Eletriptan Ethambutol/Isoniazid Etinylestradiol/ Chlormadinonacetat Etoricoxib Felodipin Furosemid Lisinopril Linezolid Metoprolol Muromonab Naproxen|Norfloxacin Quinapril Paroxetin Ribavirin Sertralin Timolol Tobramycin Torasemid Trimipramin Venlafaxin Verapamil |
Medikamentöse Therapie
Bei objektiven Ohrgeräuschen muss die körpereigne Schallquelle identifiziert werden. Pulssynchrone Geräusche und kontinuierliches Rauschen können oft auf Gefäßmissbildungen im Kopf- oder Hals zurückgeführt werden, sollten aber nur operativ behandelt werden, wenn zusätzlich weitere Beschwerden vorliegen.
Muskelkontraktionen im Gaumens können zu scharfen Klicks mit sekunden- bis minutenlanger Dauer führen. Eine Behandlung mit Botulinustoxin kann als Alternative zur Muskeldurchtrennung verwendet werden, die auch zur Geräuschüberempfindlichkeit führen kann. Ein blasendes Geräusch bei der Ein- und Ausatmung kann auf eine zu weite Eustachische Röhre zurückführen sein. Ein Muskeltraining oder ein operative Verengung können hier durchgeführt werden.
Ein subjektiver, akuter Tinnitus ist immer als ein Warnsignal des Körpers zu verstehen. Beim ersten Auftreten ist es sinnvoll, alle Stress verursachenden Arbeiten einzustellen und möglichst bald, spätestens am nächsten Tag, einen Arzt aufzusuchen. Dieser wird den Patienten gegebenenfalls krankschreiben oder seine stationäre Aufnahme veranlassen, da der Rückzug aus dem Alltag, Stressminderung, Ruhe und Stille zur Linderung des Krankheitsbildes und Genesung beitragen können.
In der Ersttherapie des akuten Tinnitus kommt die Infusion von Plasmaersatzstoffen wie Hydroxyethylstärke oder niedermolekularen Dextranen unter Zugabe von Pentoxifyllin und Cortison zur Verbesserung der Mikrozirkulation und Ausschaltung von Entzündungsreaktionen zum Einsatz. Daneben erhält der Patient Procain zur Blockade des Natriumionen-Einstroms an der Zellmembran der Neuronen und Reduktion der Spontanentladungsrate. Der Procainmetabolit Diethylaminoethanol wirkt gefäßerweiternd.
Die Hyperbare Sauerstofftherapie (HBO) wird von den Krankenkassen wegen des mangelnden Wirksamkeitsnachweises zwar nicht erstattet, kann aber im Einzelfall nach den Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) beim Knalltrauma oder beim akuten Tinnitus bis zu drei Monaten nach Beginn als gleichzeitiger Behandlungsversuch zur Infusionstherapie durchgeführt werden. Das Zuführen reinen Sauerstoffs unter Überdruck soll bewirken, dass dieser frei gelöst an die Haarzellen des Innenohrs gelangen kann.
Bei einem zervikogenen Tinnitus, dessen Ursache in der Halswirbelsäule liegt, muss gegebenenfalls eine krankengymnastische Behandlung erfolgen. Ein akuter Tinnitus hat eine hohe Spontanheilungsrate und kann durch Therapie deutlich gemindert und bis hin zum völligen Verschwinden gebracht werden.
Gedankliche Defixierung
Die Heilung eines chronischen Tinnitus, der länger als drei bis sechs Monate besteht, gilt als eher unwahrscheinlich. Die Chance, hier mit durchblutungsfördernden Medikamenten Resultate zu erzielen, ist lange nicht so hoch wie beim akuten Tinnitus. Da man annimmt, dass der Entstehung von Ohrgeräuschen unter anderem Störungen der Verteilung der elektrischen Ladungen an den Nervenzellen zugrunde liegen, werden membranstabilisierende Medikamente wie Lidocain eingesetzt. Allerdings gibt es noch keine eindeutigen Hinweise auf einen Erfolg. Nur bei chronischem Tinnitus sollen Antidepressiva und Tranquilizer kurzzeitig angewendet werden, um das subjektive Empfinden des Tinnitus dämpfen.
Mit Erfolg werden physikalische Therapiemaßnahmen eingesetzt. Die Verdeckung des Ohrgeräusches durch ein externes künstliches Rauschen mithilfe eines Hinter-dem-Ohr- oder Im-Ohr-Gerätes (Tinnitus-Maskierung) kann zur Linderung der Symptome beitragen. Bei zehn bis zwanzig Prozent der Betroffenen sorgt der Masker/Noiser für eine Minderung der Geräusche. Vermutet wird, dass die Haarzellen, die sich ohne äußeren Reiz bewegen, durch den äußeren Reiz wieder stabil werden und somit keine unerwünschten Bewegungen mehr ausführen.
Wenn Tinnitusbetroffene gleichzeitig einen Hörverlust haben, ist ein Hörgerät sinnvoll, um den Hörverlust auszugleichen. Es verstärkt gleichzeitig die Umweltgeräusche, die selbst eine maskierende Wirkung haben. Ein spezielles, sechs bis acht Wochen dauerndes Hörtraining beim Akustiker lohnt sich, da die Hörfilter wieder aktiviert werden müssen, um wichtige von unwichtigen Geräuschen zu unterscheiden und das Gehörte zu verstehen, ohne neuen Stress zu erzeugen.
Zunehmend hat sich in den letzten Jahren die sogenannte Retraining (Umschulungs)-Therapie etabliert, bei der der Patient lernt, den Tinnitus aus seinem Bewusstsein auszuschalten und damit eine gedankliche »Defixierung« zu erzielen.
Bei der Tinnitus-Retraining-Therapie (TRT) wird davon ausgegangen, dass unwichtige Geräusche vom Ohr herausgefiltert werden. Über einen Zeitraum von ein bis zwei Jahren trainieren ausgebildete Therapeuten mit dem Patienten, den Tinnitus zunächst gedanklich und emotional als neutral wahrzunehmen und dann zu überhören. Die ersten Therapieerfolge zeigen sich meist nach zwei bis drei Monaten.
Gleichzeitig lernen die Patienten, dass Tinnitus kein Risikofaktor für schwerwiegende Erkrankungen ist, und dass eine negative Einstellung den Wahrnehmungsprozess und somit das Krankheitsbild verstärken kann.
Bei dem Versuch, besser mit den quälenden Geräuschen zu leben, können Entspannungsverfahren wie Biofeedback, autogenes Training und progressive Muskelrelaxation nach Jakobsen sinnvoll sein. Als hilfreich wird von vielen Betroffenen zudem der Informationsaustausch in Selbsthilfegruppen zum Beispiel der Deutschen Tinnitus-Liga (DTL), Wuppertal, empfunden. Die veränderte Wahrnehmung des Tinnitus durch professionelle Aufklärung und Umbewertung der Geräusche trägt zur Krankheitsbewältigung bei.
Aktiv auseinandersetzen
Der Einsatz von Ginkgo-biloba-Extrakten wird kontrovers diskutiert und findet auch in den AWMF-Leitlinien keine Erwähnung. In mehreren kleinen, doppelblinden, randomisierten Studien an insgesamt circa 500 Patienten, die um ihre subjektive Einschätzung (Rating-Skalen) gebeten beziehungsweise bei denen die Tonschwelle, also Frequenz und Lautstärke, bestimmt wurde, schien sich eine Wirkung des Ginkgo-Extraktes bei Tinnitus abzuzeichnen. In zahlreichen Anwendungsbeobachtungen wurden relativ hohe Erfolgsquoten von 30 bis 80 Prozent bei der Behandlung des akuten Tinnitus mit Ginkgo-Extrakten registriert, aber hier kommen immer Patienten- individuelle und somit nicht messbare Komponenten ins Spiel.
Ebenfalls aus Anwendungsbeobachtungen stammt der Hinweis, dass bei Einnahme von Ginkgo-Extrakten eine Besserung des chronischen Tinnitus auftritt, das heißt, dass die Lautstärke und die Häufigkeit der Ohrgeräusche gemindert werden. Eine größere Studie an über 1000 Patienten bestätigte die Wirksamkeit des Ginkgo-Extraktes nicht.
Individuelle positive Erfahrungsberichte liegen zum Einsatz der Musiktherapie und der Akupunktur bei Verspannungen der Halswirbelsäule vor. Wie für Akupunktur ist die Wirksamkeit auch für Homöopathie, Neuraltherapie, Iontophorese, Sauerstoff-Mehrschritt-Therapie, Tai-Chi, Fußreflexzonenmassage, Bioresonanztherapie, Laser-Ginkgo-Therapie, Antikonvulsiva (Carbamazepin) und Calciumantagonisten (Flunarizin, Nimodipin) nicht belegt.
Patienten, die akut über Ohrgeräusche klagen, müssen motiviert werden, so schnell wie möglich den HNO-Arzt zu konsultieren. Je früher therapiert wird, desto größer der Erfolg und desto geringer das Risiko der Chronifizierung. Ganz wichtig zur Bewältigung des chronischen Tinnitus ist die professionelle Aufklärung über Ursache, Entstehung und Therapie des Krankheitsbildes.
Der Patient muss informiert werden, dass besondere Vorsicht beim Einsatz oftmals ominöser Alternativtherapien, die in den Medien immer wieder geschildert werden, angezeigt ist. Es handelt sich häufig um unseriöse und kostspielige Angebote.
Gerade durch die Information von Eltern über die Tatsache, dass Tinnitus im Kindesalter eine gute Prognose hat, kann man verhindern, dass Mütter und Väter ihre eigenen Ängste auf ihre Kinder übertragen. Es gibt Hinweise darauf, dass ein akuter Tinnitus bei Kindern in Zusammenhang mit einer entzündlichen Ohrerkrankung auftreten kann. Bei kleinen Patienten muss stets eine Beteiligung der Halswirbelsäule ausgeschlossen werden. Angehörige und Freunde können sich ein Bild über den für viele unvorstellbaren Töne-Terror im Kopf über die Infoline, Telefon 02 02-2 46 52 72, der Deutschen Tinnitus-Liga machen, die Ohrgeräusche simuliert.
Ob Tinnitusmaskierung, Retraining-Therapie oder aber autogenes Training, Psycho-, Physio- oder Phytotherapie, Yoga, Krankengymnastik, Biofeedback oder Musiktherapie: Der Apotheker, die Apothekerin sollte den Patienten motivieren, sich aktiv mit dem Tinnitus auseinanderzusetzen und dazu alle beschriebenen Angebote zu nutzen. Die Patienten sollten informiert werden, dass es sinnvoll sein kann, Nikotin, Coffein, Alkohol, chininhaltige Getränke und glutamat/glutamin-haltige Speisen zu meiden. Beim Fliegen sollten Betroffene nach einem ruhigen Platz fragen und keinen Gehörschutz verwenden, da er den Druckausgleich erschwert. Betont werden sollte, dass körperliche Bewegung (dreimal pro Woche 30 Minuten Sport wie Schwimmen oder schnelles Gehen) die allgemeine körperliche Konstitution und somit auch den Tinnitus verbessern kann.
Literatur bei der Verfasserin
Biesinger, E.; Tinnitus: Endlich Ruhe im Ohr, Trias-Verlag im MVS Medizinverlag, Stuttgart 2005.
Ross, U.H.; Tinnitus: So finden Sie wieder Ruhe, Gräfe und Unzer Verlag, München, 2006.
Hellweg, C., Lux-Wellenhof, G., Bühler, P.; Tinnitus-Retraining-Therapie, Hugendubel-Verlag, Frankfurt/Main 2003.
Nelting, M.; Hyperakusis, Thieme Verlag Stuttgart, 2003.
Inga Leo-Gröning studierte Pharmazie in Marburg und erhielt 1994 die Approbation als Apothekerin. Nach der Diplomarbeit in der Pharmazeutischen Technologie schloss sie im Jahr 2000 ihre Promotion bei Professor Dr. Ulrich Matern in der Pharmazeutischen Biologie, Marburg, ab. Seitdem war und ist Dr. Leo-Gröning, mit Unterbrechung durch die Elternzeit, in mehreren öffentlichen Apotheken tätig. 2003 erwarb sie den Titel der Fachapothekerin für Offizinpharmazie.
Anschrift der Verfasserin:
Dr. Inga Leo-Gröning
Kreisstraße 69
61118 Bad Vilbel
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