Gleichbehandlung ist nicht angesagt |
13.11.2006 13:28 Uhr |
Gleichbehandlung ist nicht angesagt
Von Marion Hofmann-Aßmus
Frauen sind anders krank und haben andere Krankheitsschwerpunkte als Männer. Dennoch werden geschlechtsspezifische Differenzen weder bei der Medikationsauswahl noch der Dosierung ausreichend berücksichtigt. Die Folgen sind zum Teil dramatisch: Sie reichen von erhöhter Nebenwirkungsrate bis zu Todesfällen.
Eine differenzierte Behandlung von Mann und Frau ist zum Beispiel bei Pharmaka nötig, die renal eliminiert werden. Besonders bei kleinen, älteren Frauen mit eingeschränkter Nierenfunktion ist Vorsicht geboten. Wird die Dosis dieser Pharmaka nicht entsprechend reduziert, kann die Überdosierung dramatische Folgen haben, erklärte Professor Dr. Vera Regitz-Zagrosek, die an der Charité in Berlin den ersten deutschen Lehrstuhl für Frauengesundheitsforschung innehat, auf einem Journalisten-Workshop in München. So wären ihrer Meinung nach ohne diese Patientengruppe bei der Behandlung mit Lipobay® keine Todesfälle aufgetreten.
In der Schmerztherapie ist zu beachten, dass einige Opiate bei Frauen stärker wirken und folglich niedriger dosiert werden müssen. Auch ASS- und Paracetamol-Gaben führen bei Frauen zu höheren Plasmaspiegeln, niedrigeren Verteilungsvolumen und geringerer Clearance als bei Männern. Andererseits wird Paracetamol bei Frauen, die mit der Pille verhüten, schneller abgebaut.
Forscher um Dr. Paul M. Ridker fanden in einer aktuellen Studie (New England Journal of Medicine, Volume 352 (2005) Seite 1293 bis 1304) heraus, dass ASS, das zur Senkung der Herzinfarktrate gegeben wird, bei Männern und Frauen unterschiedlich wirkt. Bei Frauen reduzierte der Wirkstoff die Herzinfarkte nicht, sondern nur die Schlaganfallrate. Bei Männern dagegen vermindert ASS zwar das relative Risiko für einen Herzinfarkt, doch steigt gleichzeitig das relative Risiko für Schlaganfälle. Dieses Beispiel zeigt neben anderen Ergebnissen, dass »Männer wie Frauen profitieren, wenn man geschlechtsspezifische Unterschiede herausarbeitet und in der Therapie beachtet«, betonte Regitz-Zagrosek.
Auch auf manche Herzmedikamente reagieren Frauen anders: Von ACE-Hemmern profitieren sie weniger, leiden jedoch häufiger unter unerwünschten Nebenwirkungen als Männer. Hinsichtlich Digoxin zeigte die nachträgliche Auswertung einer 1997 publizierten Studie, dass herzinsuffiziente Frauen unter diesem Medikament eine höhere Mortalität aufwiesen als die Placebogruppe. Nur Männer profitieren von der Digoxin-Therapie.
Anästhetika sollten dagegen bei weiblichen Patienten 10 bis 25 Prozent höher dosiert werden als bei Männern, um eine vergleichbare Narkosetiefe zu erreichen. Weitere geschlechtsspezifische Dosierungen sollten unter anderem für Glucocorticoide, Antiemetika und Benzodiazepine berücksichtigt werden. Insgesamt haben Frauen bei fast allen Arzneimitteln eine im Schnitt zweifach erhöhte Nebenwirkungsrate. Dies sollten Mediziner bei der Therapie beachten, betonte die Referentin.
Geschlechtsunterschiede zeigen sich auch in der Entstehung und im Verlauf von Erkrankungen. So leiden Frauen doppelt so häufig unter Depressionen wie Männer. Allerdings schränken Depressionen die körperlichen Funktionen bei Frauen in geringerem Maße ein. Bei einem depressiven Mann dagegen verschlechtert die Erkrankung die Prognose, etwa nach einer Operation, erheblich. »Es war für uns ein erstaunliches Ergebnis, dass psychosoziale Risikofaktoren bei Männern eine derartige Rolle spielen«, sagte Regitz-Zagrosek.
Zu den typischen Frauenleiden zählen Autoimmunerkrankungen etwa der Schilddrüse, Leber, Gelenke, Haut oder Nervenzellen. Neuere Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass bei Autoimmun-, Herz-Kreislauf- und psychiatrischen Erkrankungen eine inadäquate Unterdrückung von 15 bis 25 Prozent der Gene des zweiten X-Chromosoms stattfindet. Da Frauen zwei X-Chromosomen besitzen, wird in jeder einzelnen Zelle eines der beiden X-Chromosome nach dem Zufallsprinzip inaktiviert (entweder das vom Vater oder das von der Mutter ). Ist diese Unterdrückung nicht vollständig, werden verschiedene Gene überexprimiert, deren Genprodukte laut Regitz-Zagrosek bei verschiedenen Krankheiten eine Rolle spielen könnten. Wichtige immunmodulierende Gene befinden sich auf dem X-Chromosom.
Männer leiden wesentlich seltener an Autoimmunerkrankungen. Nur Morbus Bechterew, eine chronische rheumatische Erkrankung, die zum Einsteifen der Wirbelsäule führt, schien bislang eine Ausnahme zu bilden. Die Erkrankung betrifft hauptsächlich das männliche Geschlecht. Aktuellen Untersuchungen zufolge ist die Erkrankungshäufigkeit bei Frauen jedoch vergleichbar. Möglicherweise wird die Erkrankung aufgrund andersartiger Symptomatik bislang häufig verkannt.
Als typisch männlich gelten Nierenerkrankungen, koronare Herzerkrankung vor dem 60. Lebensjahr, plötzlicher Herztod, systolische Herzinsuffizienz (Störung der Pumpfunktion) und ein ungünstiger Verlauf nach Organtransplantationen, wobei die Abstoßungen heftiger verlaufen.
Das Umfeld ist wichtig
Der Einfluss psychosozialer Variablen auf Herz und Gefäße wurde bislang kaum beachtet. Dieser wird nun am Deutschen Herzzentrum Berlin derzeit in einer prospektiven ACVB-Studie (Aorto-Coronare-Venen-Bypass-Studie) untersucht, unterstützt vom Kompetenznetz Herzinsuffizienz. Die Wissenschaftler unter Leitung von Regitz-Zagrosek ermittelten, ob ein Jahr nach einer Bypass-Operation psychosoziale Variablen eine Vorhersage über Komplikationen in der frühen Erholungsphase nach der Operation ermöglichen. Geachtet wird etwa auf das Ausmaß sozialer Unterstützung oder auf geschlechtsspezifische Rollenanforderungen. Darüber hinaus analysiert man Zusammenhänge mit Depressivität und subjektiv wahrgenommener Lebensqualität. Einige Zwischenergebnisse sind bereits bekannt. So schätzen Frauen sowohl vor als auch nach der Operation ihre subjektive Lebensqualität schlechter ein, scheinen also zumindest in der frühen postoperativen Phase weniger von der Operation zu profitieren als Männer. Sie belasten sich früher wieder mit Hausarbeit und erholen sich dadurch langsamer. Bei Frauen besteht ein enger Zusammenhang zwischen körperlichen Einschränkungen, Schmerzen und Depressivität, der möglicherweise vom sozialen Umfeld abhängt.
Stiefkinder der Medizin
»Insbesondere junge Frauen mit koronarer Herzerkrankung (KH) sind eine Hochrisikogruppe«, betonte Regitz-Zagrosek. Denn spätestens seit dem EuroHeart-Survey ist bekannt, dass Internisten und Hausärzte junge Frauen im Alter von 20 bis 45 Jahren mit KH weniger intensiv behandeln als Männer. Die in Deutschland 2006 durchgeführte CoRiMa-Studie belegt zudem, dass nur etwa 13 Prozent der Hochrisikopatientinnen den LDL-C-Zielwert erreichen gegenüber 22 Prozent der Männer.
Diabetes gilt als wichtiger Risikofaktor für Herzerkrankungen. Diese Wechselwirkung ist bei Frauen ausgeprägter als bei Männern: Während das Infarktrisiko bei Frauen durch Diabetes um das Fünffache steigt, erhöht es sich bei Männern um das Dreifache. Auch nach einem Infarkt überleben weniger diabetische Patientinnen, sowohl im Vergleich zu Nicht-Diabetikerinnen als auch zu diabetischen Männern. »Wenn bei einer 60-jährigen Frau ein Diabetes entdeckt wird, müssen bildlich gesprochen beim Arzt mehr rote Lampen angehen als bei einem gleichaltrigen Mann«, mahnte Regitz-Zagrosek.
Unterschiede bewusst machen
Das Wissen um geschlechtsspezifische Unterschiede nimmt zu, gehört aber noch längst nicht zum geläufigen Repertoire eines jeden praktizierenden Arztes. Der Anteil von Studien, die Frauen einschließen, ist seit 1991 gestiegen. Dennoch stellt der Frauenanteil mit 37 Prozent noch keine adäquate Repräsentation des Bevölkerungsanteils dar. Immerhin schreibt ein Paragraf im deutschen Bundesarzneimittelgesetz seit 2004 vor, Studien geschlechtsspezifisch aufzubauen und auszuwerten. Neben der Arzneimittelsicherheit und Wirksamkeit sollten auch mögliche Wirkungsunterschiede bei Frauen und Männern herausgearbeitet werden. »Da jedoch im Schnitt etwa zehn Jahre vergehen, bis ein Medikament auf den Markt kommt, greift diese Regelung noch nicht«, bedauerte Regitz-Zagrosek. Wichtig sei jedoch, das Bewusstsein für diese Aspekte zu schärfen.