Arzneiversorgung vor Ausverkauf? |
09.11.2016 10:06 Uhr |
PZ / Nachdem der Europäische Gerichtshof die Preisbindung für Rx-Medikamente gekippt hat, fordern Pharmazeuten sowie andere Heilberufler aber auch Patientengruppen ein Verbot des Rx-Versandhandels. Sie sehen die Qualität der Arzneimittelversorgung in ihren Grundfesten erschüttert.
Sachsen-Anhalts Heilberufler haben sich gegen das Ende der Preisbindung für Rx-Medikamente positioniert. Mit dem Urteil habe der EuGH sich über das Recht der Mitgliedsstaaten hinweggesetzt, selbst über die Organisation des nationalen Gesundheitswesens zu bestimmen, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung der Apotheker-, Ärzte-, Zahnärzte- und Psychotherapeutenkammern und -vereinigungen im Bundesland.
Foto: dpa/ Daniel Reinhardt
Laut EU-Verträgen sollte es den Mitgliedsstaaten selbst überlassen sein, ihr Gesundheitswesen auch im Hinblick auf den Patientenschutz zu gestalten, schreiben die Heilberufler. Die deutsche Preisbindung diene der Qualitätssicherung, der Markttransparenz und dem Verbraucherschutz.
Ökonomische Kritik
Nach Ansicht des Gesundheitsökonoms Professor Uwe May haben die EuGH-Richter ökonomisch geurteilt, dabei aber erhebliche Fehler gemacht. Es sei Gang und Gäbe, dass der Staat bestimmte öffentliche Güter und Dienstleistungen vorhalte, die er über Steuern finanziere, sagte er am Rande des OTC-Gipfels des Apothekerverbands Nordrhein, vergangene Woche in Düsseldorf. Dazu gehörten unter anderem das Bildungswesen, die Bundeswehr, Universitäten und die Gesundheitsversorgung. Der Staat müsse dies tun, weil die Bürger nicht dazu bereit oder in der Lage seien, die für ein staatliches Gebilde notwendigen Angebote selbst zu finanzieren. Das gelte eben auch für das Gesundheitswesen und die Arzneimittelversorgung. Mit dem Unterschied, dass Deutschland anstelle einer Steuerfinanzierung eine Preisbindung eingeführt habe, sagte May.
Der Apothekerverband Westfalen-Lippe (AVWL) hält das deutsche Preisbildungssystem für elementar für die Funktion des deutschen Gesundheitssystems. Es schütze Patienten vor Übervorteilung und sorge für mehr Wettbewerb um Qualität. Das Sachleistungsprinzip der Krankenkassen werde dadurch erst möglich. Auch die Zuzahlung des Patienten, das Festbetragssystem und der Apothekenabschlag knüpften an dieses System an.
Die Preisbindung für Rx-Arzneien mache es erst möglich, dass in Deutschland Apotheken so verteilt sind, wie es dem Versorgungsbedarf entspreche, so der AVWL weiter.
Nach Ansicht der Altpräsidenten der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft (DPhG) hätte man das Urteil voraussehen können. Der EuGH habe konsequent im Sinne europäischer Wettbewerbsstandards entschieden. Schuld an der derzeitigen Situation sei der deutsche Gesetzgeber, der den Versandhandel mit Rx-Medikamenten 2004 überhaupt erst erlaubt habe. »Wie sich jetzt zeigt, hat die Bundesregierung durch diese Freigabe auf einen bedeutenden Teil der Subsidiarität im Gesundheitswesen leichtfertig verzichtet«
Deutsche Pharmazeutische Gesellschaft
Auch andere Vertreter der DPhG, insbesondere aus dem Fachbereich Klinische Pharmazie, positionieren sich gegen einen Rx-Versandhandel. Die Präsenzapotheke mit fundiert ausgebildeten Apothekern habe gegenüber einem anonymen Versandhandel den entscheidenden Vorteil, dass durch den engen Kontakt von Apotheker, Arzt und Patient mögliche Medikationsfehler rechtzeitig entdeckt und Lösungen gefunden werden könnten. (Lesen Sie dazu in der Druckausgabe PZ 45/2016 die Seiten 80, 81).
Auch aus Patientensicht ist eine ortsnahe Versorgung mit Medikamenten elementar. Darauf weist Ursula Breitbach, NRW-Landesvorstand der Deutschen Diabetes-Hilfe, hin. Weil das Zeitbudget der Ärzte pro Patient immer kleiner werde, würden Apotheker für chronisch Kranke Menschen immer wichtiger
Die Versorgung schwerstkranker und sterbender Patienten in Deutschland sei durch das Urteil ebenfalls in Gefahr, warnt die Sektion Pharmazie in der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP). Eine drohende schwächere flächendeckende Versorgung verschlechtere nicht nur die Betreuung ambulanter Palliativpatienten, sondern auch deren nahtlosen Übergang aus dem stationären Umfeld, sofern dieser dann überhaupt noch möglich sein werde, so die DGP. »Gerade die Arzneimitteltherapie in der Palliativmedizin benötigt spezialisiertes Fachwissen.«
Der Apotheker am Wohnort des Patienten sei häufig Teil eines interdisziplinären Palliativteams – als Ansprechpartner für Arzneimittelinformationen, Off-Label-Use von Medikamenten und zur Bewertung von klinisch relevanten Wechselwirkungen zur Therapieoptimierung. /