Weltweite Wachsamkeit nötig |
05.11.2013 16:32 Uhr |
Von Christina Hohmann-Jeddi / Das Polio-Virus ist nahezu ausgerottet. Bis 2018 soll es ganz verschwunden sein. Doch auf den letzten Metern der Eradikation sind Rückschläge zu verzeichnen. Auch Europa ist nicht gefeit vor einer Rückkehr des Erregers.
Dank effektiver Impfstoffe ist die Kinderlähmung (Poliomyelitis) eine der wenigen Erkrankungen, die weltweit ausgerottet werden kann. Das ist bislang nur mit den Pocken gelungen. Seit Beginn der globalen Polio-Eradikations-Initiative im Jahr 1988 sank die Zahl der Erkrankungen von weltweit 350 000 auf 223 im Jahr 2012. Die Zahl der Endemieländer ging von ehemals 127 auf drei zurück: Nur noch in Nigeria, Pakistan und Afghanistan kommt der Polio-Erreger endemisch vor. Auch die Zahl der Virustypen konnte dezimiert werden. Von ehemals drei Polio-Wildvirus-Typen kursiert mittlerweile nur noch einer, WPV1. Seit 1999 gilt WPV2 als eradiziert und seit November 2012 konnte auch WPV3 nicht mehr nachgewiesen werden.
Seit Jahrzehnten gibt es effektive Impfstoffe gegen Poliomyelitis: 1955 entwickelte Jonas Salk die inaktivierte Polio-Vakzine (IPV) und 1961 folgte Albert Sabin mit der berühmten Schluckimpfung, der oralen Polio-Vakzine.
Foto: WHO/Hans Everts
Doch trotz dieser Erfolge gibt es jetzt auch Rückschläge zu verzeichnen. In diesem Jahr ist die Zahl der Erkrankungen erstmals nicht gesunken, sondern gestiegen: Bislang wurden der Weltgesundheitsorganisation (WHO) 296 Fälle gemeldet. Dabei zeigt sich, dass kursierende Polio-Viren nicht allein ein Problem der Endemieländer sind. Von dort können sie jederzeit wieder in bis dahin poliofreie Gebiete reimportiert werden, wenn die Impfquote zu gering ist.
Ein eindrückliches Beispiel hierfür ist Syrien, wo erstmals seit 1999 wieder Poliomyelitis aufgetreten ist: Zehn Menschen, die meisten davon Kinder unter zwei Jahren, sind WHO-Angaben zufolge an Kinderlähmung erkrankt. Derzeit analysieren WHO-Experten das Genom des Erregers, um seinen Ursprung zu ermitteln. Fuß fassen konnten die Viren, weil in dem Bürgerkriegsland wegen der unsicheren Lage bis zu eine halbe Millionen Kinder nicht geimpft werden konnte. Das Gesundheitssystem ist in Teilen zerstört und die Impfquote von 91 Prozent im Jahr 2010 auf 68 Prozent im vergangenen Jahr zurückgegangen. Aufgrund der anhaltenden Flüchtlingsbewegungen ist die Gefahr groß, dass sich das Virus auch auf Nachbarländer verbreitet. Um das zu verhindern, haben in Syrien, aber auch in Flüchtlingslagern in Jordanien, im Libanon, im Irak, in der Türkei und in Ägypten groß angelegte Impfkampagnen begonnen.
Sorgen bereitet darüber hinaus ein erneuter Ausbruch von Polio am Horn von Afrika, bei dem mittlerweile fast 200 Menschen erkrankten. Auch hier wurde der Erreger ausgehend von einem Flüchtlingslager in Somalia, wo 174 Menschen erkrankten, in benachbarte Länder wie Kenia, Äthiopien und Südsudan verschleppt.
Polioviren in Israel
Auch die europäische WHO-Region, zu der Israel zählt, ist vor der Rückkehr des Erregers nicht gefeit: In Israel wurden seit Februar 2013 in bis zu hundert Abwasserproben aus verschiedenen Landesteilen Polio-Erreger nachgewiesen. Seither wurden 42 asymptomatische Virusträger identifiziert, also Menschen, die den Erreger in sich tragen, aber aufgrund ihrer Immunität nicht an Kinderlähmung erkranken. Ins Abwasser gelangt der Erreger über die Fäkalien Infizierter. Trotz kursierender Polio-Viren sind in Israel aber bislang noch keine Erkrankungsfälle aufgetreten, da die Bevölkerung ausreichend immunisiert ist.
Aufgrund der momentanen Situation ruft das Robert-Koch-Institut (RKI) zu erhöhter Wachsamkeit auf. In der gegenwärtigen Situation sei es wichtig, dass alle Länder die Polio-Überwachung verstärken und ihre Impfquoten analysieren, heißt es im »Epidemiologischen Bulletin« Nr. 43. Vor Aufenthalten in Syrien, Israel, den palästinensischen Autonomiegebieten oder in einem der angrenzenden Länder sollten Reisende ihren Impfschutz gegen Polio überprüfen, so das RKI. Liege die Polio-Impfung mehr als zehn Jahre zurück, sollte sie aufgefrischt werden. Die Impfquote liegt hierzulande bei 95 Prozent.
Weniger Aufmerksamkeit ist mehr
Eigentlich sollte das Polio-Virus schon bis zum Jahr 2000 ausgerottet sein. Dieses Ziel wurde jedoch verfehlt, Fristen wurden seitdem mehrfach verschoben. In diesem Jahr einigte sich die Generalversammlung der WHO auf einen Strategieplan, der die Ausrottung bis 2018 anstrebt. Solange noch Endemiegebiete bestehen, kann sich das Virus aber immer wieder bereits poliofreie Gebiete zurückerobern. Daher sollten die verbleibenden drei Endemieländer stärkere Aufmerksamkeit erfahren. Dabei fordern Experten aus diesen Ländern nun ein Umdenken: Die Polio-Impfung sollte nicht mehr, sondern weniger Aufmerksamkeit bekommen.
Sicherheitskräfte überwachten die Polio-Impfungen in Pakistan am Weltpoliotag dieses Jahres.
Foto: dpa
Was paradox klingt, begründen Seye Abimbola aus Nigeria, Asmat Malik aus Pakistan und Ghulam Mansoor aus Afghanistan in ihrem Beitrag im Fachjournal »PLoS Medicine« folgendermaßen: Eine zu starke Fokussierung auf Polio, zum Teil auch mit Impfzwang seitens der Regierung, schüre Misstrauen (doi: 10.1371/journal.pmed.1001529). Dadurch würden Gerüchte bestärkt, wie zum Beispiel ein in Nigeria kursierendes, dass Polio-Impfungen eine Strategie des Westens seien, um die muslimische Bevölkerung unfruchtbar zu machen. Dieses Misstrauen gipfelt in Terroraktionen und Tötungen von Impfhelfern, wie sie dieses Jahr sowohl in Pakistan als auch in Nigeria vorkamen. Statt auf Impfkampagnen allein gegen Polio zu setzen, sollte man die Polio-Impfung in der Routineversorgung etablieren und diese stärker ausbauen. »Eine Polio-Eradikation kann nur mit stärkeren Gesundheitssystemen erreicht werden«, schreiben die Experten. In Pakistan und Nigeria sei das Programm zur Grundimmunisierung relativ wirkungslos, in Teilen weil wegen der Polio-Impfungen andere Kampagnen in den Hintergrund gerieten.
Man solle mit den Impfmaßnahmen fortfahren, aber ohne öffentliche Aufmerksamkeit und ohne militärischen Schutz für die Impfhelfer. Stattdessen solle man die Bevölkerung aufklären und auch mit regionalen Führungspersönlichkeiten zusammenarbeiten, um Vertrauen für die Impfung zu schaffen. Leise und ohne Fanfaren solle man die Eradikation auf den Weg bringen, so die Autoren. /