Tierische Gifte als Leitstrukturen |
23.10.2017 14:09 Uhr |
Von Katharina Holl und Ralph Holl / Pharmakologisch aktive Stoffe aus pflanzlichen Giften sind allseits bekannt. Doch auch tierische Gifte können als Ausgangspunkt für die Entwicklung von Arzneistoffen dienen: ein Überblick anhand von Beispielen bereits im Markt oder in der Entwicklung befindlicher Substanzen.
Bei der Suche nach neuen Arzneistoffklassen bietet die Natur einen nahezu unerschöpflichen Pool an Stoffen, die als Leitstrukturen dienen können. Im Vergleich zu Pflanzeninhaltsstoffen ist die Erforschung von aus Tieren stammenden Naturstoffen noch deutlich weniger fortgeschritten. Vor allem die marinen Organismen sind ein noch weitgehend unbekanntes Terrain. So synthetisiert etwa jede zehnte Tierart eine Form von Gift, was grob geschätzt etwa zwei Millionen Spezies entspricht – untersucht sind bisher aber nur wenige Hundert.
Die Jararaca-Lanzenotter (Bothrops jararaca) ist weitgehend nachtaktiv und bewohnt den Südosten Brasiliens, den Osten von Paraguay und den Nordosten Argentiniens. Die Grubenotter ernährt sich vor allem von kleinen Nagetieren, Eidechsen, Fröschen und Vögeln. Sie produziert ein hochkomplexes Toxingemisch.
Foto: Fotolia/Leonardo
Toxine, das heißt von Lebewesen produzierte Giftstoffe, verschaffen ihren Produzenten einen Überlebensvorteil. Zum einen können sie damit Fraßfeinde abwehren – ein Mechanismus, den sowohl Tiere als auch Pflanzen nutzen. Darüber hinaus können Gifte Tieren die Jagd erleichtern, indem sie beispielsweise Beutetiere lähmen oder sogar töten.
Die meisten tierischen Gifte sind strukturell zwei Klassen zuzuordnen: den Peptiden beziehungsweise Proteinen und den Alkaloiden. Zielorgane dieser Verbindungen sind vor allem der Blutkreislauf (Hemmung der Blutgerinnung), das Nerven- (Lähmung, Betäubung) sowie das Immunsystem.
Weltweit sind zahlreiche Arzneistoffe auf dem Markt, die sich in irgendeiner Form von tierischen Giften ableiten. Nur die wenigsten Substanzen eignen sich in ihrer ursprünglichen Form als Arzneistoff, da die Mehrzahl der Moleküle auch für humane Organismen zu toxisch oder für eine orale Applikation zu instabil ist. Es gibt aber auch Beispiele für Giftkomponenten, die chemisch unverändert zum Einsatz kommen, etwa Exenatid oder Ziconotid.
Paradebeispiel ACE-Hemmer
ACE-Hemmer sind in der Therapie kardiovaskulärer Erkrankungen heute unverzichtbar. Ihre Entwicklung aus einem Schlangengift ist ein Paradebeispiel für das rationale Wirkstoffdesign.
Schon seit geraumer Zeit ist bekannt, dass ein Biss der brasilianischen Viper Bothrops jararaca zu einem plötzlichen, oft sogar tödlichen Blutdruckabfall führt. Mitte der 1960er-Jahre isolierte der brasilianische Pharmakologe Sergio Ferreira ein Gemisch peptidischer Verbindungen aus dem Gift, das er aufgrund seiner Wirkung als BPP (Bradykinin Potentiating Peptide) bezeichnete. Wenig später konnte im Tiermodell gezeigt werden, dass das Gemisch das Angiotensin Converting Enzyme (ACE) hemmt und auf diese Weise den Blutdruck senkt (1).
Die erste isolierte Einzelsubstanz, das Pentapeptid BPP5a (Glu-Lys-Trp-Ala-Pro, Abbildung 1), war aufgrund eines schnellen enzymatischen Abbaus sehr instabil. Jedoch gelangen in der Folge die Isolierung und anschließend auch die Synthese mehrerer längerkettiger Peptide, von denen sich das Nonapeptid Teprotid (Glu-Trp-Pro-Arg-Pro-Glu-Ile-Pro-Pro) als das potenteste erwies. Da dessen Synthese aber sehr teuer und die Substanz nicht oral bioverfügbar war, wurde die Entwicklung 1973 eingestellt (2).
Noch im selben Jahr gelang Cushman und Ondetti ein entscheidender Durchbruch: Sie übertrugen den postulierten Bindungsmodus von (R)-2-Benzylbernsteinsäure, einem potenten Inhibitor der Carboxypeptidase A, die ebenso wie ACE eine Zn2+-abhängige Peptidase darstellt, auf ACE und mögliche Inhibitoren. Durch Verknüpfung von Prolin, der C-terminalen Aminosäure der peptidischen ACE-Hemmer, mit Bernsteinsäure stellten sie zunächst Succinyl-L-prolin her, das sich als relativ potenter ACE-Inhibitor erwies (Abbildung 1). Diese Verbindung wurde durch Modifikationen des Acylrestes weiter optimiert, woraus schließlich das hochpotente, oral bioverfügbare Captopril resultierte (3). Dieses spielt heute in der Klinik keine Rolle mehr, da es von ACE-Inhibitoren der zweiten Generation weitestgehend verdrängt wurde. Jedoch sieht man auch Verbindungen wie Enalapril ihre strukturelle Verwandtschaft zur C-terminalen Sequenz von BPP5a noch deutlich an.
Die kräftig gebaute, schwarz und rosa bis rot gezeichnete Gila-Krustenechse (Heloderma suspectum) lebt in den Trockengebieten des südwestlichen Nordamerika. Sie setzt ihr Gift hauptsächlich zur Verteidigung ein. Der Biss kann sehr starke Schmerzen, Ödeme und Kreislaufschwäche mit rapidem Blutdruckabfall auslösen und tödlich enden.
Foto: Okapia/Gerry Pearce
GLP-1-Agonisten
Eine Arzneistoffgruppe, die aufgrund ihrer vorteilhaften Eigenschaften eine zunehmende Bedeutung in der Diabetes-Therapie erlangt, sind die GLP-1-Agonisten (GLP-1: Glucagon-like Peptide 1), die auch als Inkretin-Mimetika bezeichnet werden.
Bei einem systematischen Screening von Reptiliengiften auf bioaktive Substanzen wurde aus dem Speichelsekret der in Nordamerika beheimateten Gila-Krustenechse (Heloderma suspectum) ein aus 39 Aminosäuren bestehendes Polypeptid isoliert, das Exendin-4 genannt wurde. Bei Exendin-4 handelt es sich nicht um das GLP-1 der Echse, aber es weist eine 53-prozentige Homologie zum humanen Inkretin GLP-1 auf (Abbildung 2). Es löst sehr ähnliche Effekte aus: Glucose-abhängige Steigerung der Insulin- und Hemmung der Glucagonsekretion mit nachfolgender Senkung der Blutglucosespiegel, verzögerte Magenentleerung und Verminderung des Hungergefühls sowie der Nahrungsaufnahme. Auch die Affinitäten von GLP-1 und Exendin-4 zum GLP-Rezeptor sind nahezu identisch. Der Unterschied liegt in der Kinetik: GLP-1 selbst wird mit einer Halbwertszeit von weniger als einer Minute sehr rasch durch das Enzym Dipeptidylpeptidase-4 abgebaut und eignet sich daher nicht als Arzneistoff. Die synthetische Variante von Exendin-4, Exenatid genannt, ist dagegen aufgrund ihrer Struktur gegenüber dem enzymatischen Abbau wesentlich stabiler und hat eine Plasmahalbwertszeit von mehreren Stunden (4).
Gegenüber älteren, bei Typ-2-Diabetes eingesetzten Arzneistoffen wie den Sulfonylharnstoffen und den Gliniden weist Exenatid aufgrund seines Wirkmechanismus ein geringeres Hypoglykämie-Risiko sowie einen anorektischen und einen geringen antihypertonen Effekt auf. Andererseits ist die gastrointestinale Verträglichkeit schlechter und das Pankreatitis-Risiko möglicherweise erhöht. 2005 erfolgte die Zulassung (als Bestandteil einer Kombinationstherapie) in den USA, 2006 auch in Europa.
Im Gegensatz zu den ACE-Hemmern, die als kleine chemisch-synthetische Moleküle oral bioverfügbar sind, stellen die Inkretin-Mimetika Polypeptide dar und müssen daher subkutan appliziert werden. In der Folge wurde mit Lixisenatid ein Derivat entwickelt, das biologisch noch stabiler ist, sodass die Halbwertszeit und damit das Applikationsintervall verlängert werden konnten (Abbildung 2). Inzwischen ist auch eine retardierte Formulierung von Exenatid zugelassen, die nur einmal wöchentlich injiziert werden muss. Andere Inkretin-Mimetika wie Liraglutid leiten sich dagegen strukturell nicht mehr vom Exendin-4, sondern direkt von GLP-1 ab (5).
Analgetika aus dem Meer: Conotoxine
Ein Beispiel für eine Arzneistoffklasse aus marinen Organismen stellen die Conotoxine dar. Diese dienen den namensgebenden Kegelschnecken (Conidae) als Hilfsmittel bei der Jagd. Kegelschnecken leben in der Regel in tropischen Meeren. Da sie sich extrem langsam fortbewegen, wäre es ohne die Toxine für sie nahezu unmöglich, ihre Nahrung – kleine Fische, Würmer und andere Weichtiere – zu erlegen. Ihr Gift besteht aus einem Peptidgemisch, das sie dem Beutetier mittels harpunenartiger Fortsätze ihrer Raspelzunge injizieren. Dieses löst Lähmung bis hin zum Tod aus.
Bei den Conotoxinen handelt es sich um Peptide, die aus etwa zehn bis 40 Aminosäuren bestehen. Ihre biologische Wirkung ist auf die Bindung an neuronale Ionenkanäle oder Neurotransmitterrezeptoren zurückzuführen (6).
Bisher wurde nur ein Arzneistoff bis zur Marktreife entwickelt: Ziconotid wurde 2004 von der FDA und 2005 von der EMA zugelassen. Der Wirkstoff ist die über eine Festphasensynthese zugängliche Form des Schneckentoxins ω-Conotoxin-MVIIA aus der Art Conus magnus. Ziconotid ist ein lineares, aus 25 Aminosäuren aufgebautes Peptid, das durch die Ausbildung von drei intramolekularen Disulfidbrücken eine relativ hohe Stabilität aufweist.
Die Verbindung hemmt N-Typ-Calciumkanäle. Indem sie den Ca2+-Einstrom in primäre afferente Nervenzellen und somit die Weiterleitung nozizeptiver Signale blockiert, übt sie eine analgetische Wirkung aus. Ziconotid ist auch bei schweren, Opioid-resistenten chronischen Schmerzen wirksam. Seine Wirkpotenz ist etwa 1000-fach stärker als die von Morphin – bei fehlender Toleranzentwicklung und ohne Induktion einer Atemdepression.
Als Peptid wird Ziconotid schnell durch ubiquitär vorhandene Enzyme (Peptidasen und Proteasen) abgebaut. Daher kann es weder oral noch intravenös verabreicht werden. Erforderlich ist eine intrathekale Applikation direkt ins Rückenmark über Schmerzpumpen (7, 8).
Man kann davon ausgehen, dass in Zukunft noch weitere, von den Conotoxinen abgeleitete Arzneistoffe Marktreife erlangen werden. Immerhin existieren mehr als 600 Kegelschnecken-Spezies, die schätzungsweise mehr als 100 000 verschiedene Peptide produzieren. Unter den bereits identifizierten Targets dieser Peptide sind neben Ionenkanälen auch Acetylcholin- und GABA-Rezeptoren. Die meisten Einzelsubstanzen sind hochpotent und sehr selektiv wirksam. Durch Verknüpfen der C- und N-terminalen Enden über ein kurzes Verbindungselement (Linker) aus mehreren Aminosäuren zu einer Ringstruktur wurden bereits oral bioverfügbare Derivate entwickelt (9).
GPIIb/IIIa-Antagonisten
Auch die Zwergklapperschlange (Sistrurus miliarius) gehört zur Gattung der Grubenottern und ist im Südosten Nordamerikas heimisch. Wie alle Grubenottern besitzt auch diese Schlange das sogenannte Grubenorgan, mit dem sie Infrarotstrahlen erfassen kann. Ihr Gift enthält das Peptid Barbourin, das die Thrombozytenfunktion hemmt.
Fotos: Fotolia/Tomaz (links), Your Photo Today
Eine aus einem Tiergift abgeleitete Arzneistoffklasse, die verhältnismäßig früh den Sprung in die Klinik schaffte, sind die GPIIb/IIIa-Antagonisten.
Das Glykoprotein (GP) IIb/IIIa zählt zu den Integrinen und wird auf der Oberfläche von aktivierten Thrombozyten exprimiert. Es fungiert in seiner aktiven Konformation als Rezeptor, indem es sowohl den von-Willebrand-Faktor als auch Fibrinogen bindet, und vermittelt so eine Thrombozytenaggregation. Eine Antagonisierung von GPIIb/IIIa hemmt somit die Thrombozytenfunktion.
Durch ein systematisches Screening von Schlangengiften wurde aus dem Gift der Zwergklapperschlange (Sistrurus miliarius barbouri) ein Peptid isoliert, das den Namen Barbourin erhielt und sehr selektiv die Bindung von Fibrinogen an GPIIb/IIIa hemmt. Es handelt sich um ein Disintegrin. Disintegrine sind Cystein-reiche Proteine, die sehr viele Disulfidbrücken ausbilden und als Gegenspieler der Integrine fungieren, indem sie deren Bindungsfunktion hemmen. Hierfür ist die durch die Disulfidbrücken ausgebildete Tertiärstruktur entscheidend.
Andere Disintegrine waren bereits zuvor aus anderen Viperngiften isoliert worden. Diese binden jedoch über das enthaltene RGD-Motiv, eine Abfolge der drei Aminosäuren Arg-Gly-Asp, unselektiv auch an viele andere Integrine, zum Beispiel den Fibronectin- oder den Vitronectin-Rezeptor.
Der entscheidende Unterschied von Barbourin gegenüber den bereits bekannten Disintegrinen ist ein Aminosäureaustausch im RGD-Motiv (Arginin gegen Lysin). Das resultierende KGD-Motiv führt dazu, dass keine Bindung mehr an andere Integrine erfolgt und eine sehr hohe Selektivität für GPIIb/IIIa resultiert. Mit 73 Aminosäuren ist Barbourin jedoch ein relativ großes Peptid. Es erwies sich als ungeeignet für die klinische Anwendung, da es sehr schnell eliminiert wird.
Jedoch diente es als Ausgangspunkt für die Entwicklung kleinerer zyklischer Peptide. Eine Analyse der Strukturelemente ergab, wie wichtig das KGD-Motiv selbst, aber auch die benachbarte Aminosäure und die Ringgröße sind. Zyklische Peptide erwiesen sich als stabil gegenüber dem proteolytischen Abbau – bei Erhalt der Tertiärstruktur der bindenden Sequenz.
Mit Eptifibatid gelang schließlich die Entwicklung eines zyklischen Heptapeptids, das aus sechs Aminosäuren (Homoarginin, Glycin, Asparaginsäure, Tryptophan, Prolin, Cysteinamid) sowie 3-Sulfhydrylpropionsäure besteht, durch eine Disulfidbrücke stabilisiert ist und ein modifiziertes KGD-Motiv enthält (Abbildung 3). Für ein Peptid ist die Plasmahalbwertszeit mit 2,5 Stunden relativ lang und reicht für eine klinische Anwendung aus.
1998 sowie 1999 erfolgte die Zulassung in den USA und Europa für die Prävention des Myokardinfarkts bei erwachsenen Patienten mit instabiler Angina Pectoris. Die Hemmung der Thrombozytenfunktion erfolgt dosisabhängig und reversibel und ist gut steuerbar, da die Wirkung schnell eintritt (maximaler Effekt nach 15 Minuten) und sich die Thrombozytenfunktion bereits nach zwei bis vier Stunden wieder erholt. Nachteilig ist die parenterale Verabreichung (10-13).
Gezielte Tumortherapie mit Brentuximab vedotin
Die Mehrzahl der tierischen Gifte und ihrer Derivate ist bei systemischer Verabreichung zu toxisch für eine Anwendung als Arzneistoff. Mit Antikörper-Wirkstoff-Konjugaten ist es jedoch möglich, die Wirkung des Gifts weitestgehend auf die Zielzellen zu begrenzen, sodass die Nebenwirkungen meist tolerabel bleiben und eine klinische Anwendung möglich ist.
Ein Beispiel dafür ist Brentuximab vedotin. Dies ist ein Konjugat aus dem Antikörper Brentuximab und dem zytotoxisch wirkendenden Monomethylauristatin E (MMAE), die über einen durch die Protease Cathepsin spaltbaren Linker sowie ein Kopplungsstück (Spacer) verbunden sind.
Auristatine sind Bestandteile des Gifts des Philippinischen Seehasen (Dolabella auricularia), einer im Indischen Ozean beheimateten Seeschnecke, die sich damit vor Fraßfeinden schützt. Das daraus isolierte Dolastatin 10 (Abbildung 4) ist einer der potentesten jemals beschriebenen Mitosehemmstoffe, erwies sich jedoch in einer Phase-II-Studie bei Brustkrebs als nicht ausreichend effektiv, sodass die Entwicklung nicht weiterverfolgt wurde.
Das totalsynthetische Analogon MMAE hatte mehr Erfolg. Es ist hochpotent, wasserlöslich und unter physiologischen Bedingungen stabil, jedoch für einen alleinigen Einsatz zu toxisch. Über ein sekundäres Amin kann jedoch ein Linker angebracht werden, der das Molekül mit einem Antikörper verknüpft, der hochselektiv an tumorspezifische Targets bindet.
Realisiert wurde dieses Prinzip bisher mit Brentuximab, einem chimären Antikörper, der an das Oberflächenantigen CD30 bindet (Abbildung 4, unten). Dieses wird insbesondere von lymphoiden Tumoren wie dem Non-Hodgkin-Lymphom oder dem kutanen T-Zell-Lymphom stark exprimiert, von gesundem Gewebe jedoch nur minimal. Das Konjugat ist im Plasma stabil. Nach Bindung des Antikörpers an CD30 wird das Konjugat über Lysosomen in die Zelle aufgenommen, wo der Linker durch die lysosomale Protease Cathepsin schnell gespalten wird. MMAE wird freigesetzt und kann seine zytotoxische Wirkung in den Zielzellen entfalten (14, 15).
Brentuximab vedotin wurde 2011 in den USA und 2012 in Europa zur Behandlung bestimmter Lymphome zugelassen. Das Konzept der Antikörper-Wirkstoff-Konjugate ist auch auf andere Targets übertragbar, sodass in Zukunft mit weiteren Entwicklungen zu rechnen ist.
Abbildung 4: Strukturen von Dolastin 10, seinem Analogon MMAE und dem Krebsmedikament Brentuximab vedotin (mAb: monoklonaler Antikörper). MMAE wird aus Brentuximab vedotin nach Proteolyse des Val-Cit-Dipeptids und anschließender Abspaltung der p-Aminobenzyloxycarbonyl (PABC)-Gruppe freigesetzt (14).
Grafik: Mario Wurglics
Chlorotoxine: Hoffnung bei Gliom
Neben diesen bereits zugelassenen Arzneistoffklassen gibt es noch eine Reihe von Substanzen, die sich in verschiedenen Stadien der Entwicklung befinden.
Chlorotoxin ist ein erstmals aus dem Gelben Mittelmeerskorpion (Leiurus quinquestriatus), einem der giftigsten Skorpione weltweit, isoliertes Peptid aus 36 Aminosäuren (16). Wie der Name bereits vermuten lässt, inhibiert die Substanz Chlorid-Ionenkanäle. Dabei weisen Chlorotoxin sowie die synthetische Form TM601 eine bemerkenswerte Selektivität für Gliomzellen auf, während es an gesunde Hirnzellen sowie andere Körpergewebe nicht bindet (17).
Da Gliome sich diffus-infiltrierend im Gehirn ausbreiten, ist eine chirurgische Entfernung extrem schwer. Dies macht TM601 als diagnostischen Marker für bildgebende Verfahren interessant. Es ermöglicht sehr exakt die Lokalisation des Tumorgewebes und könnte damit dessen Entfernung vereinfachen (18). Hierzu laufen Phase-II-Studien mit radioaktiv markiertem TM601 (131I-TM601) (19).
Weiterhin ist es denkbar, entsprechende Derivate mit ähnlich hoher Selektivität sowie zusätzlichen zytotoxischen Eigenschaften zur Therapie von Tumoren einzusetzen. Auch TM601 hemmt über eine Inhibition der Matrixmetalloproteinase-2 das invasive Wachstum von Gliomzellen (20). Darüber hinaus werden auch antiangiogenetische Effekte diskutiert (21).
Dalatazide, ein potenter T-Zell-Inhibitor
Der Gelbe Mittelmeerskorpion (Leiurus quinquestriatus) lebt in trockenen Wüstengebieten und ist einer der giftigsten Skorpione weltweit. Sein Gift ist auch für Menschen gefährlich, sein Stich kann für Kinder tödlich sein.
Foto: Fotolia/Lastovetskiy
Aus der karibischen Seeanemone Stichodactyla helianthus stammt das Peptidtoxin ShK (22). Es besteht aus 37 Aminosäuren und erwies sich als potenter Inhibitor des Kv1.3-Kaliumkanals auf T-Zellen. Die Blockade dieser Kanäle inhibiert die Proliferation von Effektor-T-Zellen und könnte immunmodulierende und antientzündliche Wirkungen vermitteln.
ShK selbst inhibiert jedoch noch eine Reihe weiterer ähnlicher Kaliumkanäle, sodass bereits verschiedene Derivate mit höherer Selektivität synthetisiert wurden. Am vielversprechendsten erscheint derzeit ShK-186 (Dalazatide), das eine hohe Selektivität für Kv1.3 aufweist und zudem ausreichend stabil für eine subkutane Gabe ist (23).
Dalazatide wurde bereits in Phase-I-Studien sowohl an Gesunden als auch an Psoriasis-Patienten erprobt (24). Phase-II-Studien sind in Planung. Mögliche Indikationen sind neben Psoriasis auch weitere T-Zell-vermittelte Erkrankungen wie systemischer Lupus erythematodes, Dermatomyositis oder Multiple Sklerose.
Ancrod: Proteinase von der Schlangenfarm
Nicht nur Schlangen und Skorpione produzieren starke Gifte: Das Toxin der Seeanemone Stichodactyla helianthus kann T-Zellfunktionen blockieren.
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Ein Molekül, das tatsächlich direkt aus dem produzierenden Tier gewonnen wird, ist Ancrod. Es ist Bestandteil des Gifts der Malaiischen Grubenotter (Calloselasma rhodostoma) und wird aus dem Rohgift der eigens dafür gezüchteten Schlangen isoliert und anschließend über mehrere Schritte aufgereinigt.
Ancrod ist eine fibrinspaltende Protease. Nach intravenöser Verabreichung sinkt der Fibrinspiegel im Blut deutlich ab, was die Viskosität des Bluts mindert (25). Die Auflösung von Thromben geht erwartungsgemäß mit Nebenwirkungen wie einer erhöhten Blutungsneigung einher (26).
Ancrod war bis in die 1980er-Jahre hinein auf dem Markt, bevor es zunächst in der Versenkung verschwand. Später wurde es in mehreren klinischen Studien an Schlaganfallpatienten getestet. In der US-amerikanischen Studie STAT (Stroke Treatment with Ancrod Trial) an 500 Patienten wurde zunächst ein besseres funktionelles Outcome bei Verabreichung innerhalb von drei Stunden nach dem Ereignis gezeigt (27). Bei der anschließenden Phase-III-Studie ESTAT in Europa mit mehr als 1200 Patienten wurde das Zeitfenster für die Behandlung auf sechs Stunden ausgeweitet. Jetzt konnte jedoch kein Unterschied mehr zu Placebo festgestellt werden (28).
Ancrod erhielt 2005 von der FDA sogar den Fast-Track-Status. Jedoch wurde auch eine weitere Phase-III-Studie nach einer Zwischenauswertung wegen mangelnder Wirksamkeit abgebrochen (29). Seit 2013 läuft eine Phase I/II-Studie bei Patienten mit Hörsturz (30).
Auch aktuell werden immer neue tierische Gifte entdeckt, beispielsweise in den Fangzähnen bestimmter in Australien heimischer Säbelzahnschleimfische (Meiacanthus ssp.). Einige Komponenten des Gifts wirken offenbar über Opioidrezeptoren und rufen bei Fraßfeinden einen Blutdruckabfall sowie Benommenheit hervor. Es wird angenommen, dass damit einhergehend auch eine analgetische Wirkung auftritt (31). Ob diese Erkenntnisse in Richtung Arzneistoffentwicklung umgesetzt werden können, ist noch nicht absehbar.
EU-Projekt Venomics
Das immense Potenzial der größtenteils noch unerforschten tierischen Gifte wird zunehmend auch von öffentlichen Institutionen erkannt. So startete 2012 das EU-weite Projekt Venomics unter Beteiligung von Universitätsinstituten und spezialisierten Unternehmen. Das Ziel des bis 2015 laufenden Projekts war die Etablierung einer umfassenden peptidischen Toxinbibliothek, die Giftkomponenten unter anderem aus Spinnen, Schlangen, Skorpionen, Kegelschnecke und Insekten beinhaltet. Geplant waren ursprünglich 10 000 Substanzen, am Ende waren es etwa 25 000.
Etwa 4000 Substanzen wurden in vitro reproduziert, je nach Größe entweder über eine Festphasensynthese oder über eine Expression in Escherichia coli (32). Die isolierten Substanzen wurden/werden anschließend in einem High-Throughput-Screening getestet. Davon erhofft man sich eine Beschleunigung der Erforschung und der Analytik des natürlichen Toxin-Arsenals und daraus folgend der Arzneistoffentwicklung (33). Es ist also sehr wahrscheinlich, dass neuartige Arzneistoffe die Marktreife erlangen werden, die aus dem schier unerschöpflichen Pool tierischer Gifte abgeleitet sind. /
Literatur bei den Verfassern
Ralph Holl studierte Pharmazie an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg. Nach der Promotion 2008 und einem Postdoc-Aufenthalt habilitierte er sich 2016 am Institut für Pharmazeutische und Medizinische Chemie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Seit Juli 2016 ist er als Professor für Medizinische Chemie an der Universität Hamburg tätig.
Katharina Holl studierte Pharmazie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und wurde dort 2013 am Institut für Pharmazeutische und Medizinische Chemie promoviert. Seitdem ist sie im Bereich Arzneimittelzulassung in der pharmazeutischen Industrie tätig.
Kontakt:
Professor Dr. Ralph Holl
Universität Hamburg, Institut für Organische Chemie
Martin-Luther-King-Platz 6
20146 Hamburg
E-Mail: ralph.holl@chemie.uni-hamburg.de