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Gendermedizin

Männer sind anders, Frauen auch

15.10.2014  10:11 Uhr

Von Annette Mende, Berlin / Männer treiben häufiger Raubbau an ihrer Gesundheit, gehen seltener zum Arzt und sterben früher als Frauen. Darüber, wie sich das ändern ließe, zerbrechen sich viele seit Jahren den Kopf. Doch auch beim gesundheitlich vermeintlich bessergestellten Geschlecht liegt einiges im Argen, wie bei einem Kongress in Berlin deutlich wurde.

»Die Lebenserwartung von Frauen in Deutschland liegt mittlerweile mit 82,7 Jahren so hoch wie noch nie zuvor«, sagte Professor Dr. Elisabeth Pott, Direktorin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), in Berlin. Das ist zweifellos erfreulich, doch wird aus dieser Tatsache erst eine wirklich gute Nachricht, wenn Frauen die zusätzlichen Jahre auch mit hoher Lebensqualität verbringen können. »Möglichst lange gesund zu bleiben, ist dabei ein vorrangiges Ziel«, so Pott.

 

Lange Lebenserwartung

 

Auf Einladung der BZgA trafen sich Experten aus Ministerien, Behörden und Organisationen, um das Thema Frauengesundheit von verschiedenen Seiten zu beleuchten. Dr. Cornelia Lange vom Robert-Koch-Institut gab einen Überblick über den Status quo. Sie machte deutlich: Pauschale Aussagen sind bei einer so heterogenen Gruppe, wie Frauen es nun mal sind, nicht möglich.

 

»Es bestehen große Unterschiede in der Gesundheit, dem Gesundheitsverhalten und der Versorgung von Frauen abhängig von der Region, dem sozioökonomischen Status, dem Lebensalter und der Lebensform«, sagte Lange. Das zeigt sich schon bei der eingangs erwähnten Lebenserwartung. Diese ist nämlich mitnichten in der gesamten Republik gleich; in Baden-Württemberg werden Frauen mit durchschnittlich 83,6 Jahren knapp zwei Jahre älter als im Saarland (81,7). Noch größer sind die Unterschiede, wenn man den sozioökonomischen Status berücksichtigt: Frauen aus Familien mit weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens sterben fast achteinhalb Jahre früher (mit 76,9) als Frauen sehr reichen Familien, deren Lebenserwartung 85,3 Jahre beträgt.

 

Frauen leben heute aber nicht nur länger als früher, sie sind auch länger gesund. Das zeigte Lange anhand der Ergebnisse einer Befragung von Frauen zur Selbsteinschätzung ihrer Gesundheit. Demnach stieg der Anteil derjenigen, die ihre Gesundheit als gut oder sehr gut einschätzten, von 2003 bis 2012 in allen Lebensaltern. Die Über-65-Jährigen hatten dabei den stärksten Anstieg zu verzeichnen, nämlich von 42 auf 50 Prozent. »Junge alte Frauen sind heute größtenteils noch fit, erst im hohen Alter, also ab etwa 80 Jahren, beginnt dann die Pflegebedürftigkeit«, so Lange.

 

Um mit möglichst viel Lebensqualität ein hohes Alter zu erreichen, sind Arzneimittel häufig unerlässlich. Doch damit sind Frauen in Deutschland vielfach entweder über- oder unterversorgt. Diese Auffassung vertrat Professor Dr. Gerd Glaeske vom Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen.

 

Über- und Unterversorgung mit Medikamenten

 

»Frauen bekommen im Vergleich zu Männern fünfmal so häufig Migränemittel verordnet und dreimal so häufig Schilddrüsenpräparate«, sagte Glaeske. Für diesen Umstand sind allerdings außer einer Überversorgung der Frauen auch andere Erklärungen denkbar, etwa eine Unterversorgung der Männer (bei den Schilddrüsenpräparaten) beziehungsweise die Tatsache, dass Frauen einfach sehr viel häufiger an Migräne leiden als Männer. Andere Beispiele, die Glaeske nannte, legen dagegen tatsächlich eine Überversorgung der Frauen nahe, etwa ihr höherer Verbrauch an Schmerz- und Abführmitteln, an Neuroleptika und Antidepressiva sowie an Schlaf- und Beruhigungsmitteln.

 

»Die Medikamentenabhängigkeit ist weiblich. Zwei Drittel der Betroffenen sind Frauen«, sagte Glaeske. Die Verordnungshäufigkeit etwa von Benzodiazepinen spiegele dabei nicht die Realität wider, denn 60 Prozent der Packungen würden auf Privatrezepten verordnet. In Deutschland seien etwa 1,5 bis 1,9 Millionen Menschen abhängig von Arzneimitteln. Daneben erhalten Frauen aus Glaeskes Sicht viel zu häufig Antidepressiva, etwa SSRI. Diese machen immerhin nicht abhängig, aber »nur bei der Hälfte der Verordnungen liegt überhaupt die Diagnose Depres­sion vor.« Stattdessen würden sie häufig überflüssigerweise eingesetzt zur Besserung von Alltagsbeschwerden.

 

Unterversorgt seien Frauen dagegen beispielsweise mit Statinen, Betablockern und Thrombozyten-Aggregationshemmern nach Herzinfarkt oder bei koronarer Herzkrankheit sowie mit Antidiabetika – und das, obwohl sie häufiger als Männer an Diabetes erkranken. Beim Herzinfarkt sei zudem die Sterblichkeit vor Erreichen des Krankenhauses von Frauen höher als die der Männer, weil die für Frauen typischen Symptome wie Bauch- oder Rückenschmerzen vielfach nach wie vor nicht richtig gedeutet würden.

Frauen mit Osteoporose bekommen Glaeske zufolge zu selten Bisphosphonate verordnet. Sie erleiden deshalb deutlich häufiger Knochenbrüche als noch zu Zeiten, als weibliche Geschlechtshormone nach den Wechseljahren als Dauertherapie verordnet wurden. Aufgrund der Nebenwirkungen der Hormonersatztherapie sei der Rückgang deren Häufigkeit zwar eine begrüßenswerte Entwicklung, »aber dann müssten eben die Bisphosphonate mehr eingesetzt werden, um Knochenbrüchen vorzubeugen.«

 

Bei den Hormonen für jüngere Frauen, den oralen Kontrazeptiva, wies Glaes­ke auf das erhöhte Thrombose­risiko hin und prangerte an, dass die Präparate mit den höchsten Risiken am häufigsten verordnet würden. Gesta­gene der dritten und vierten Genera­tion erhöhen das Risiko für venöse Thromboembolien stärker als solche der zweiten Generation, wie kürzlich auch die Europäische Arzneimittelagentur EMA feststellte. Dennoch kommen die neueren Präparate aufgrund ihrer positiven Zusatzeffekte etwa auf Haut und Haare häufiger zum Einsatz. »Man hat gar nicht mehr den Eindruck, dass es hier um Arzneimittel geht, sondern um Kosmetika«, kritisierte Glaeske. Stattdessen sollte die Sicherheit der Anwenderin im Vordergrund stehen.

 

Mehr Forschung

 

»Wir brauchen mehr Frauen-spezifische Versorgungsforschung«, forderte Glaeske. Ohne mehr und größere Studien mit weiblichen Teilnehmern hätten auch Leitlinien-Empfehlungen zur Arzneimitteltherapie eine zu schmale Basis. Erkenntnisse über Arzneimittel-bezogene Unterschiede zwischen den Geschlechtern müssten Eingang in Leitlinien finden. Als Beispiel hierfür führte er den Betablocker Metoprolol an, der bei Frauen einen etwa 80 Prozent höheren Wirkungsgrad habe als bei Männern. »Dabei ist nicht nur die erwünschte Wirkung höher, sondern auch die unerwünschten Arzneimittelwirkungen.« Frauen sollten den Arzneistoff deshalb in niedrigerer Dosierung erhalten. /

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