Zucker ist überall |
09.10.2017 13:30 Uhr |
Von Jennifer Evans, Berlin / Zucker ist mehr als die Süße aus Rübe oder Rohr, die von China über Indien und Persien im 11. Jahrhundert schließlich nach Europa kam. Die Dauerausstellung im Deutschen Technikmuseum in Berlin präsentiert Zucker auch als modernes Material und als Quelle zur Energiegewinnung. Eine Substanz mit Zukunftspotenzial – fast zu schade für den Kaffee.
Es klopft, hämmert, faucht, pfeift und zirpt – dann ist wieder Stille, bevor es erneut losgeht. Es ist der Chor aus Fauchschaben, Ruderwanzen, Bunten Pochkäfern und Riesenvogelspinnen, der die Besucher der Ausstellung »Alles Zucker! Nahrung – Werkstoff – Energie« empfängt. Die Geräusche, die diese Krabbeltiere aussenden, dienen der Werbung oder Warnung. Das ist aber nicht alles: »Sie machen Zucker hörbar«, so der Kurator Dr. Volker Koesling zur PZ. Der Zucker stecke in Form langer Traubenzuckerketten in den Chitinhüllen oder -panzern der Tiere. »Chitin ist das zweithäufigste Biopolymer unseres Planeten.« Auch die japanische Riesenkrabbe trägt einen solchen polymeren Zuckermolekül-Panzer.
Krawatten aus Polymilchsäure, die aus Glucose, Rohr- oder Rübenzucker gewonnen wird.
Foto: Fotolia/Anna Reinert
Das 1,80 Meter lange Außenskelett der Krabbe ist zugleich das Herzstück auf der 80 Quadratmeter großen Ausstellungsfläche. Sie soll den Blick auf Zucker etwas verändern, ihn weglenken vom Alltagsverständnis als Nahrungsmittel, seinem aufwendigen Extraktionsprozess und seiner zehntausendjährigen Geschichte. Denn Zucker ist auch als nachwachsender Rohstoff auf dem Vormarsch, der sogar dem Erdöl den Kampf ansagen kann. »Etwa 80 Prozent unserer Welt besteht aus Zuckern. Sie sind die am häufigsten vorkommenden Biomoleküle der Welt. Ohne sie gäbe es kein Leben«, sagt Koesling.
Zucker ist praktisch überall. Seine Verbindungen bilden die Basis vieler sogenannter Biokunststoffe. So sind etwa viele Brillengestelle, Kurvenlineale, Zahnbürsten oder Tischtennisbälle aus Zellulosenitrat und PC-Tastaturen, Werkzeuggriffe oder Kugelschreiber aus Zelluloseacetat. Und Natrium-Carboxymethylcellulose bindet die Feuchtigkeit in Babywindeln. Der Vorteil ist, dass die aus nachwachsenden Rohstoffen hergestellten Produkte oft auch biologisch abbaubar sind. Das ist ein wichtiges Kriterium in einer Zeit, in der Umweltbilanz und Nachhaltigkeit eine immer größere Rolle spielen.
Energie aus der Rübe
In dieser Hinsicht punktet besonders die aus Glucose, Rohr- oder Rübenzucker gewonnene Polymilchsäure. »Man nutzt sie etwa als Material für Trinkbecher, Einwegbestecke, Gartenbaufolien, Büro- oder Toilettenartikel«, so Koesling.
Strahlt nicht in hellem Weiß: ungeblauter Zuckerhut, um 1888/89. Zucker wurde erst durch das Hinzufügen von Ultramarinblau bei der Raffination optisch aufgehellt.
Foto: C. Kirchner
Sie komme auch in Form von Knochennägeln oder ähnlichen chirurgischen Hilfsmitteln zum Einsatz. Denn das Material zersetzt sich nach dem Heilungsprozess und wird vom Körper resorbiert. Auch Polyhydroxybuttersäure und ähnliche Polyhydroxyalkanoate besäßen gute Eigenschaften in Sachen Abbaubarkeit und es gebe inzwischen Plastiktüten, die aus einer Mischung dieser beiden Kunststoffe bestünden. Gegenstände aus Polymilchsäure spucken außerdem 3-D-Drucker aus. Aber auch Krawatten, Eiskratzer und Solar-Ladegeräte für Smartphones können aus diesem Material bestehen. Koesling ist sicher: »Kunststoffen, die aus Zucker hergestellt sind, könnte eine umweltverträgliche Zukunft gehören.«
Die Energie des Zuckers könne der Mensch nicht nur als Nahrung, sondern auch technisch nutzen, betont Koesling. Zum Beispiel als Treibstoff. Unter Sauerstoffausschluss wandeln Hefezellen Zucker in Ethanol um. Das Kürzel E10 etwa weist darauf hin, dass bis zu 10 Prozent des Kraftstoffs aus Ethanol bestehen. Ethanol lässt sich aber auch aus der Saccharose-Lösung abzapfen, die aus dem Zuckerrohr gewonnen wird. In Brasilien beispielsweise entscheidet man oft erst während der Produktion, ob Haushaltszucker oder Ethanol entstehen soll – je nach Bedarf. Schon seit den 1980er-Jahren gibt es an brasilianischen Tankstellen eine Ethanol-Zapfsäule. Auch in Deutschland bieten mittlerweile einige Zuckerfabriken nebenbei noch eine Ethanol-Produktion an.
Die Ausstellung lenkt die Aufmerksamkeit der Besucher besonders auf die Bedeutung von Biogas, da dieses sich ebenso wie Erdgas zum Heizen, zur Stromerzeugung oder als Kraftstoff nutzen lässt. Entsprechend aufbereitet kann es sogar in das bestehende Erdgasnetz eingespeist werden. Heute existiert auch eine sogenannte Energie-Rübe, die optimiert für die Erzeugung von Biogas ist. Ihr Saccharosegehalt ist weniger ausschlaggebend, zumal sie gleich am Stück in der Biogasanlage landet. Koesling sieht Zucker als »unsere Zukunft« und eine Alternative für eine Welt nach dem Erdöl. Das Gute sei, dass Zucker als leicht verfügbarer Pflanzenstoff ständig nachwachse.
Zucker ist jedoch keinesfalls einfach gestrickt. Im Gegenteil: In Abfolge und Struktur der Zuckerketten, die jede tierische Zelle und die der meisten Mikroorganismen wie einen Pelz umgeben, stecken viele Informationen. Diese seien so komplex, weil sich Zuckerbausteine verzweigten, während DNS und Proteine lediglich gradlinige Ketten bildeten, so Koesling.
Zucker steckt in Form langer Traubenzuckerketten auch in Chitinhüllen, wie beispielsweise in diesem 1,80 Meter langen Krabbenskelett.
Foto: C. Kirchner
Moleküle für Medikamente
Den Code dieser Zuckerketten zu kennen und damit auch die Informationen, die die Zellen untereinander austauschen, ist dem Kurator zufolge besonders für Forscher relevant. Dieses Wissen macht es ihnen möglich, in Krankheitsprozesse einzugreifen. Ein Highlight der Ausstellung ist daher der Prototyp des sogenannten Oligosaccharid-Synthesizers. Das inzwischen in Serie gegangene Gerät kann Zuckermolekülketten künstlich herstellen, die dann als Basis für neue Impfstoffe und Medikamente dienen.
Auch eine durchaus romantische Note kann der Zucker haben, wie die Geschichte eines Exponats beweist: 1926 schenkte ein Schmiedemeister aus Bockenem im Harz seiner Angebeteten zur Vermählung eine eigens angefertigte Sichel aus Stahl. Damit sollte ihr nach der Ernte das Abköpfen der Rübenblätter leichter fallen. Eine Arbeit, die Anfang des 20. Jahrhunderts meist Aufgabe der Frauen war. Im Jahr 1980 überließ schließlich der Sohn des Paars dieses außergewöhnliche Hochzeitsgeschenk dem Museum. /
Dauerausstellung im Deutschen Technikmuseum
Trebbiner Straße 9
10963 Berlin-Kreuzberg