Rimonabant, Clofarabin und ein Rotavirus-Lebendimpfstoff |
02.10.2006 10:01 Uhr |
Rimonabant, Clofarabin und ein Rotavirus-Lebendimpfstoff
Von Kerstin A. Gräfe und Brigitte M. Gensthaler
Das Orphan Drug Clofarabin ist eine neue Hoffnung für Kinder und Jugendliche mit einer seltenen Form der Leukämie. Rimonabant ist der erste Vertreter der Cannabinoid-Rezeptor-Antagonisten und zur Gewichtsreduktion zugelassen. Ferner steht eine Schluckimpfung zur Verfügung, die Säuglinge ab sechs Wochen gegen die gefährliche Rotavirus-Infektion schützt.
Rimonabant
Seit Anfang September steht der Cannabinoid-(CB)-1-Rezeptor-Antagonist Rimonabant zur Gewichtsreduktion zur Verfügung. Der Wirkstoff ist europaweit zugelassen für Menschen mit Adipositas (Body-mass-Index, BMI, über 30 kg/m2) oder Übergewicht (BMI über 27) und begleitenden Risikofaktoren wie Typ-2-Diabetes mellitus oder Dyslipidämie, aber nur zusätzlich zu Diät und Bewegung (Acomplia® 20 mg Filmtabletten; Sanofi Aventis).
Das Endocannabinoid-System ist ein physiologisches System, das im zentralen Nervengewebe und im peripheren Gewebe einschließlich dem Fettgewebe vorkommt. Nach heutigen Erkenntnissen steuert es unter anderem die Energiebilanz, den Glucose- und Lipidstoffwechsel und das Körpergewicht. Ein überaktives System führt zum Aufbau von Fettreserven sowie hohen Blutzucker- und Blutfettspiegeln. Rimonabant soll als selektiver Antagonist an CB1-Rezeptoren ein verstärktes Hungergefühl dämpfen (zentrale Wirkung) sowie in der Peripherie den Kohlenhydrat- und Fettstoffwechsel verbessern. Die Patienten nehmen einmal täglich 20 mg vor dem Frühstück ein; die Nahrung erhöht die Bioverfügbarkeit.
Rimonabant wird über das CYP3A-Isoenzym und auf dem Amidohydrolase-Weg zu unwirksamen Metaboliten verstoffwechselt und überwiegend biliär ausgeschieden. Bei gleichzeitiger Gabe von CYP3A4-Inhibitoren wie Ketoconazol, Itraconazol, Ritonavir, Clarithromycin oder Nefazodon können die Blutspiegel deutlich ansteigen. Umgekehrt sind verminderte Blutspiegel zu erwarten bei gleichzeitiger Einnahme von CYP3A4-Induktoren wie Rifampicin, Phenytoin, Carbamazepin und Johanniskraut.
In vier großen Phase-III-Studien (RIO-Studien) wurden mehr als 6600 Patienten, vorwiegend weiße Frauen, eingeschlossen. Die Teilnehmer hatten einen BMI über 30 oder 27 mit gleichzeitiger Hypertonie und/oder Dyslipidämie. Sie sollten eine kalorienreduzierte Diät (minus 600 kcal täglich) einhalten und sich mehr bewegen. Nach einem Jahr erzielten sie eine mittlere Gewichtsreduktion von 5,3 bis 6,5 kg unter einmal täglich 20 mg Rimonabant und von 1,4 bis 1,6 kg unter Placebo. Die Unterschiede sind signifikant. Deutlich mehr Patienten erreichten unter Verum eine 10-prozentige Gewichtsreduktion (16,2 bis 27 Prozent versus 2 bis 7,8 Prozent); das Ausgangsgewicht lag bei 95 bis 101 kg.
Die Pfunde purzelten vor allem in den ersten neun Monaten. Der Nutzen blieb über zwei Jahre erhalten, wenn das Medikament weiter genommen wurde; ansonsten nahmen die Patienten wieder zu. Der Taillenumfang, der als Maß für das viszerale Fett gilt, ging unter Verum signifikant zurück.
Während der Therapie steigerte Rimonabant das HDL-Cholesterol um rund 16 Prozent und damit signifikant stärker als Placebo (9 Prozent). Die Triglyzeride sanken um 7 Prozent und stiegen um 6 Prozent unter Placebo. Gesamt- und LDL-Cholesterol wurden nicht deutlich verändert. Bei Patienten mit Diabetes sank der Langzeitblutzucker (HbA1C) um 0,6, während er unter Placebo um 0,1 anstieg. Bekanntlich kann man Blutfette und Blutzucker durch Abspecken und mehr Bewegung günstig beeinflussen. Auch in den RIO-Studien wurden die Effekte je zur Hälfte auf den Gewichtsverlust und auf direkte Wirkungen von Rimonabant zurückgeführt.
Fast 16 Prozent der Teilnehmer brachen die Therapie wegen Nebenwirkungen ab. Am häufigsten waren Übelkeit, Stimmungsveränderungen, depressive Störungen, Angst und Schwindelgefühl. Auch Infektionen der oberen Atemwege waren deutlich häufiger als unter Placebo.
Schwangere Frauen sollen Rimonabant nicht bekommen, da bei Tieren sporadisch Missbildungen beobachtet wurden. Das Risiko beim Menschen ist nicht be-kannt. Obwohl es nicht ausdrücklich empfohlen wird, sollten Frauen mit einer Kontrazeption auf Nummer sicher gehen. In der Stillzeit ist Rimonabant kontraindi-ziert. Ebenso darf es nicht angewendet werden bei Patienten mit stark einge-schränkter Leber- oder Nierenfunktion, bei Menschen über 75 Jahren, Kindern und Jugendlichen sowie bei Personen mit schweren psychiatrischen Erkrankungen.
Ob Rimonabant als »Lifestyle-Mittel« oder als »echtes« Medikament einzuschätzen ist, ist noch umstritten und wird auch vom Verordnungsverhalten der Ärzte abhängen. Da viele Patienten nur moderat abnehmen, könnte die Compliance im Alltag leiden. Medizinisch bedeutender ist der Effekt auf HDL-Cholesterol, Triglyzeride und HbA1C. Wie und ob sich dies auf klinische Endpunkte auswirkt, müssen Studien erst noch zeigen. Die Firma betont, dass die Originalpackungen ein Hologramm tragen, das sie von Fälschungen aus dem Internet unterscheidet.
Bisher wurden zwei Cannabinoid-Rezeptortypen identifiziert. Der CB1-Rezeptor ist hauptsächlich auf Neuronen, vor allem im Kleinhirn, Hirnstamm und Hippocampus, sowie auf inneren Organen lokalisiert. Der CB2-Rezeptor ist vorwiegend auf Zellen des Immunsystems zu finden, die aber auch CB1-Rezeptoren tragen. Ebenso exprimieren antigenpräsentierende dendritische Zellen und Oligodendrozyten die bei den Rezeptoren, deren Funktion hier noch unbekannt ist. Sehr wahrscheinlich gibt es noch weitere Rezeptorsubtypen.
Es handelt sich um G-Protein-gekoppelte Rezeptoren, die MAP-Kinasen (Mitogen-activated protein kinases) aktivieren und über G-Proteine die Adenylatcyclase-Aktivität inhibieren. Nach Klonierung der Rezeptoren wurden endogene Liganden identifiziert: Anandamid (Arachidonoylethanolamid) und 2-Arachidonoylglycerol. Damit war ein neues biologisches Regulationssystem entdeckt.
Clofarabin
Seit Mitte September ist das Orphan Drug Clofarabin (Evoltra® 1 mg/ml Konzentrat zur Herstellung einer Infusionslösung, Bioenvision) auf dem Markt. Der Purinnucleosid-Antimetabolit ist zugelassen zur Behandlung der akuten lymphoblastischen Leukämie (ALL) bei Kindern und Jugendlichen, die nach mindestens zwei Vorbehandlungen ein Rezidiv erleiden oder refraktär sind, und wenn erwartet wird, dass keine andere Behandlung zu einem dauerhaften Ansprechen führt. Die empfohlene Dosis beträgt 52 mg/m2 Körperoberfläche. Sie wird als intravenöse Infusion über zwei Stunden täglich an fünf aufeinander folgenden Tagen verabreicht. Das Präparat wird nur an krankenhausversorgende Apotheken geliefert.
Die antitumorigene Aktivität von Clofarabin beruht vermutlich auf folgenden drei Mechanismen:
DNA-Polymerase-α-Hemmung, die zu einer Beendigung der DNA-Ketten-Verlängerung und/oder der DNA-Synthese/Reparatur führt;
Ribonucleotid-Reduktase-Hemmung mit Reduktion der zellulären Desoxynucleotid-Triphosphat-(dNTP) Pools;
Zerstörung der Mitochondrienmembran durch die Freisetzung von Cytochrom C und anderer proapoptotischer Faktoren, die selbst in nicht-teilenden Lymphozyten zum programmierten Zelltod führen.
Dazu muss der Arzneistoff zunächst in die Zielzellen diffundieren oder hinein transportiert werden, wo er von den intrazellulären Kinasen zum Mono- und Biphosphat und letztlich zum aktiven Konjugat Clofarabin-5'-Triphosphat phosphoryliert wird.
Sicherheit und Wirksamkeit wurden in zwei Studien mit Patienten untersucht, die bei der Erstdiagnose höchstens 21 Jahre alt waren. An einer offenen Dosiseskalationsstudie der Phase I nahmen 25 Patienten mit rezidivierender oder refraktärer Leukämie (17 ALL, 8 AML) teil, bei denen die Standardtherapie erfolglos geblieben war oder für die keine andere Therapie existierte. Die Dosierung begann mit 11,25 mg/m2/Tag und wurde dann auf 15, 30, 40, 52 und 70 erhöht. 13 Patienten (9 ALL, 4 AML) wurden nach dem Clofarabin-Dosierungsschema 52 mg/m2/Tag behandelt. Von den 17 ALL-Patienten erreichten vier eine vollständige Remission (24 Prozent) und einer eine partielle Remission (6 Prozent).
An einer Phase-II-Studie nahmen 61 ALL-Patienten (medianes Alter 12 Jahre) teil, von denen die meisten bereits intensiv vorbehandelt waren und zwischen zwei bis vier Chemotherapien erhalten hatten. 18 (30 Prozent) hatten bereits mindestens eine Knochenmarktransplantation erhalten. Clofarabin wurde an fünf aufeinander folgenden Tagen in einer Dosierung von 52 mg/m2 pro Tag über zwei Stunden intravenös verabreicht. In Abhängigkeit vom Ansprechen wurde dieser Zyklus alle zwei bis sechs Wochen wiederholt. Die 12 Patienten, die eine Gesamtremission erreichten, hatten eine mittlere Überlebenszeit von 66,6 Wochen, im Vergleich zu nur 7,6 Wochen bei nicht ansprechenden Patienten.
Häufigste unerwünschte Wirkungen waren Übelkeit und Erbrechen (61 Prozent), febrile Neutropenie (32 Prozent), Kopfschmerzen (24 Prozent), Fieber (21 Prozent), Juckreiz (21 Prozent) und Dermatitis (20 Prozent). Obwohl bei 76 Patienten (58 Prozent) zumindest ein schweres unerwünschtes Ereignis im Zusammenhang mit Clofarabin auftrat, brachen nur zwei Patienten die Behandlung wegen einer Hyperbilirubinämie ab.
Clofarabin befindet sich zurzeit in der klinischen Entwicklung zur Behandlung weitere hämatologischer Krebsarten und fester Tumoren. Des Weiteren führt der Hersteller bereits präklinische Studien zur Behandlung von Psoriasis durch und plant weitere Untersuchungen zur Behandlung von Autoimmunkrankheiten.
Rotavirus-Lebendimpfstoff
Nach Rotarix® (GlaxoSmithKline) ist mit Rotateq® (Sanofi Pasteur MSD) ein weiterer Lebendimpfstoff zur aktiven Immunisierung von Säuglingen ab einem Alter von sechs Wochen gegen die hoch ansteckende Infektion mit Rotaviren auf dem Markt gekommen. Er schützt Säuglinge ab einem Alter von sechs Wochen vor den fünf wichtigsten Virustypen, die für über 90 Prozent aller Rotavirus-Durchfälle innerhalb Europas verantwortlich sind.
Die beiden Impfstoffe haben einen unterschiedlichen Ansatz. Rotarix ist eine monovalente attenuierte Lebendvakzine, die von dem häufigsten Serotyp G1P abgeleitet ist. Der Impfstoff hat eine hohe Replikationsrate im Darm, weshalb die Dosis relativ niedrig gehalten werden kann. Zwei orale Dosen im Abstand von zwei Monaten reichen aus. Rotateq enthält einen modifizierten bovinen Rotavirenstamm (WC3), der mit fünf Antigenen der häufigsten beim Mensch auftretenden Rotavirus-Serotypen (G1, G2, G3 bis G4 und P1) versehen wurde. Das gentechnisch veränderte Virus vermehrt sich im Darm nicht ganz so gut wie das Konkurrenzprodukt und muss deshalb höher dosiert werden. Erforderlich sind drei Dosierungen im Abstand von mindestens einem Monat. Der orale Impfstoff ist in einer Dosiertube erhältlich, deren Inhalt im Mund des Säuglings in Richtung Wangentasche entleert werden sollte. Die Impfung ist im Rahmen aller in Europa implementierten Impfschemata möglich und kann gemeinsam mit den üblichen Kinderimpfstoffen erfolgen.
Rotaviren verdanken ihren Namen dem charakteristischen Aussehen unter dem Elektronenmikroskop: Hier zeigen sie eine radähnliche Struktur (lat. Rota = das Rad). Rotaviren sind weltweit unterwegs und die häufigste Ursache für schwere Brech-Durchfälle bei Kindern. Fieber, starke Bauchschmerzen und extrem hohe Flüssigkeitsverluste sind die typischen Begleiterscheinungen. In der Europäischen Union schätzt man, dass etwa 2,8 Millionen Kinder erkranken, 700.000 deswegen zum Arzt und 87.000 ins Krankenhaus müssen. Hinter diesen Zahlen verstecken sich nicht nur enorme Kosten für die Gesundheitssysteme, sondern auch eine große Belastung der pflegenden Eltern.
Rotaviren sind sehr ansteckend. Bereits winzige Virusmengen reichen aus, um den quälenden Brech-Durchfall auszulösen. Virusträger scheiden große Mengen der Erreger über den Stuhl aus. Von Kind zu Kind wandern sie dann über verschmutzte Hände, Spielzeug, Geschirr oder Kleidung.
Rotaviren können auch über Lebensmittel oder verschmutztes Wasser übertragen werden. Besonders stark gefährdet sind Kleinkinder während eines Aufenthalts im Krankenhaus. Rotaviren sind die Hauptursache für Durchfallerkrankungen, mit denen sich Kleinkinder im Krankenhaus anstecken.
Sicherheit und Wirksamkeit wurden in einer placebokontrollierten Studie auf zwei Arten untersucht. Ein Teil der Studie mit insgesamt 5673 Säuglingen, davon 2834 in der Impfstoff- und 2839 in der Placebogruppe, untersuchte die klinische Wirksamkeit von Rotateq gegen die Pädiatrische Rotavirus-Gastroenteritis (PRG) jeglichen Schweregrads und gegen die schwerste Verlaufsform von PRG. Im Vergleich zu Placebo verhinderte der Impfstoff nach Gabe aller drei Dosen 98 Prozent der schweren und 74 Prozent jeglicher Verlaufsformen einer von den Rotavirus-Serotypen G1, G2, G3 und G4 verursachten PRG. Diese Daten beziehen sich auf die erste Rotavirus-Saison nach der Impfung. Gegenüber 51 Fällen in der Placebogruppe trat in der Impfstoffgruppe lediglich ein Fall von schwerer PRG auf.
In einer groß angelegten Studie mit 68.038 Kindern (34.035 in der Impfstoff- und 34.003 in der Placebogruppe) wurden deren Eltern mindestens dreimal nach Gabe jeder Dosis (nach ein, zwei und sechs Wochen) bezüglich schwerer unerwünschter Ereignisse inklusive Invaginationen befragt. Innerhalb eines Jahres nach Gabe der ersten Dosis folgten alle sechs Wochen weitere Befragungen. Sechs Wochen nach der ersten Dosis konnten keine Invaginationen in der Impfstoffgruppe beobachtet werden. Innerhalb von sechs Wochen nach jeder Dosis wurden in der Impfstoffgruppe sechs Fälle einer Invagination, das heißt eine Einstülpung eines Darmabschnittes, beobachtet. In der Placebogruppe traten fünf Fälle auf. Im Zeitraum von einem Jahr nach der ersten Dosis traten 12 Fälle in der Impfstoffgruppe und 15 in der Placebogruppe auf.
Die am häufigsten berichteten Nebenwirkungen waren Fieber (21 Prozent), Durchfall (18 Prozent) und Erbrechen (10 Prozent). Diese traten in der Rotateq-Gruppe häufiger als in der Placebogruppe auf.