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Leitlinie

Künstliches Knie – Ja oder Nein?

12.09.2018  11:00 Uhr

Von Annette Mende, Berlin / Arthrose-Patienten mit einem künstlichen Kniegelenk sind häufig enttäuscht, wenn ihre Beschwerden trotz Prothese nicht vollständig verschwinden. Dem soll eine Leitlinie vorbeugen, die erstmals die Kriterien für einen Gelenkersatz genau festlegt. Andere Methoden wie Knorpelersatz aus dem Reagenzglas sind nur in Ausnahmefällen eine Alternative.

Die Leitlinie »Indikation Knieendo­prothese« bietet Entscheidungshilfe bei der Frage, ob bei einem Patienten mit Kniearthrose ein Gelenkersatz sinnvoll ist. Die von der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie federführend erstellte Leitlinie listet hierfür vier Hauptkriterien auf, die »im Normalfall erfüllt sein müssen«: eine Schmerzdauer seit mindestens drei bis sechs Monaten, auf dem Röntgenbild sichtbare Schäden am Gelenk, unzureichende Schmerzlinderung durch Medikamente und andere Maßnahmen sowie eine Beeinträchtigung des Patienten im täglichen Leben. Darüber hinaus werden Nebenkriterien, Risikofaktoren sowie Kontraindikationen benannt, die die Entscheidung in die eine oder andere Richtung beeinflussen können.

Anlass für die Erstellung der Leitlinie war die Tatsache, dass die Implantation einer Knie-Totalendoprothese (TEP) mit mehr als 173 000 Eingriffen im Jahr 2015 zwar eine der häufigsten Operationen in Deutschland ist, aber nicht immer zum gewünschten Ergebnis führt. Circa 10 bis 20 Prozent der Patienten seien mit dem Behandlungsergebnis nach Einsatz einer Knie-TEP nicht oder nicht vollständig zufrieden, heißt es in der Leitlinie. Der Grad der Zufriedenheit hängt dabei offenbar nicht unbedingt vom objektiv messbaren Outcome ab, sondern »wesentlich vom Grad der Erreichung der vom Patienten gesetzten Ziele«.

 

Haupt- und Nebenkriterien

 

Die vier Hauptkriterien stellen laut der Leitlinie Mindestvoraussetzungen für die Indikationsstellung für eine Knie-TEP dar. Nebenkriterien wie Einschränkungen beim Gehen, Stehen, Treppensteigen oder im sozialen Leben, aber auch eine Fehlstellung der Beinachse oder das Vermeiden von (kardiovaskulären) Nebenerkrankungen können die Empfehlung zur Operation verstärken. Dagegen lassen Risikofaktoren wie ein erhöhtes Infektionsrisiko, körperliche oder psychische Komorbidität oder die Einnahme von Medikamenten, die das Operationsrisiko erhöhen, Komplikationen erwarten und sprechen deshalb eher gegen den Eingriff. Als Kontraindikationen gelten laut Leitlinie unter anderem eine floride Infektion im Kniegelenk, eine deutlich verkürzte Lebenserwartung aufgrund von Begleit­erkrankungen sowie ein sehr hoher Body-Mass-Index ab 40.

 

Um dem Patienten den großen operativen Eingriff zum Einsetzen eines Kunstgelenks zu ersparen, wäre ein gezielter Ersatz des beschädigten Knorpels wünschenswert. Knorpel lässt sich schon seit Mitte der 1990er-Jahre aus isolierten patienteneigenen Zellen züchten. Dennoch wird auch heute noch in den meisten Fällen eine Prothese eingesetzt: Mehr als 400 000 Implantationen von Endoprothesen (nicht nur des Knies) pro Jahr stehen nur 1700 registrierte Knorpeltransplantationen gegenüber. Warum ist das so?

»Damit eine zellbasierte Knorpel­reparatur infrage kommt, müssen viele Voraussetzungen erfüllt sein«, sagte Professor Dr. Kolja Gelse vom Universitätsklinikum Erlangen in Berlin bei einer Vorab-Pressekonferenz zum Kongress der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie. Geeignet seien nur isolierte, von gesundem Umgebungsgewebe begrenzte Knorpeldefekte. Die gegenüberliegende Gelenkfläche darf ebenso wenig beschädigt sein wie die Menisken und die Bänder.

 

»Diese ideale Konstellation ist in der Klinik nur selten vorzufinden«, sagte Gelse. Meistens entsteht sie infolge einer Verletzung. Für Patienten mit fortgeschrittener Arthrose oder Gelenkschäden aufgrund einer rheumatoiden Arthritis komme die Knorpelrekon­struktion dagegen nicht infrage.

 

Das Problem sei dabei nicht die Züchtung von Knorpel aus patienteneigenen Zellen. Neuartige Strategien hätten sich in den vergangenen Jahren enorm weiterentwickelt. Dazu gehören Cell-Sheet-Technologien, bei denen die Knorpelzellen in Schichten übereinandergelegt werden, Zell-Sphäroide, die winzige Kügelchen aus Knorpelzellen darstellen, sowie der 3D-Druck von Knorpelgewebe (3D-Cell-Printing) oder von Gerüsten (Scaffolds), in denen Knorpelzellen angesiedelt werden. »Es ist mittlerweile möglich, qualitativ hochwertigen Reparaturknorpel in allen denkbaren Formen und größerer Ausdehnung ex vivo herzustellen«, so Gelse.

 

Probleme bei Integration

 

Je höher jedoch die biologische Qualität des Knorpelkonstrukts sei, umso schlechter integriere es sich in den umgebenden Knorpel beziehungsweise hafte am darunterliegenden Knochen. Hier sei die Gleitfunktion der Knorpelmatrix von Nachteil, denn die darin enthaltenen Proteoglykane wirkten antiadhäsiv. Ist der die Läsion umgebende Knorpel ebenfalls beschädigt, kann er zudem das Transplantat nicht schützen, sodass dieses enormen Scherkräften ausgesetzt ist. Konstrukte aus zwei Schichten, einer am Knochen haftenden und einer Knorpelschicht, könnten dieses Problem möglicherweise umgehen und würden derzeit erforscht.

 

Zu beachten sei jedoch auch, dass der neue Knorpel in dieselbe Um­gebung verpflanzt wird, die den alten zerstört hat. »Solange die Ursache der Knorpeldegeneration nicht berücksichtigt und behoben wird, wird auch kein noch so gutes Reparaturkonstrukt langfristig funktionell intakt bleiben«, betonte Gelse. Das Abnehmen wird einem Patienten mit gewichtsbedingter Kniearthrose also nicht erspart bleiben. Dabei gebe es klare Grenzen: »Genetische Ursachen und Alterungsprozesse kann man durch Tissue-Engineering nicht behandeln«, so der Experte. /

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