»Schmerzen haben wir im Griff« |
13.09.2016 10:41 Uhr |
Von Ulrike Abel-Wanek / Sven Gottschling ist Chefarzt am Zentrum für Palliativmedizin und Kinderschmerztherapie des Uniklinikums Saarland. Die Palliativmedizin kann eine lebensbegrenzende Krankheit nicht heilen, aber die Symptome lindern. Den Satz »Wir können nichts mehr für Sie tun« gibt es bei Gottschling nicht.
PZ: Viele Menschen wissen nicht genau, was Palliativmedizin eigentlich ist. Sie verbinden den Begriff ganz allgemein mit dem Lebensende und reagieren mit Angst und Abwehr. Was sagen Sie denen?
Professor Dr. Sven Gottschling leitet ab Oktober die erste altersübergreifende Palliativstation Europas am Uniklinikum des Saarlandes.
Foto: Cover Face
Gottschling: Dass sie ganz falsche Vorstellungen von unserer Arbeit haben. Palliativmedizin leitet sich von lateinischen Wort »Pallium« – der Mantel – ab und beschreibt etwas Umhüllendes, Schützendes. Meine Aufgabe besteht darin, die verbleibenden Tage, Wochen, Monate und manchmal auch Jahre meiner Patienten mit der bestmöglichen Lebensqualität zu füllen und ihnen das sichere Gefühl zu geben, bis zum Ende für sie da zu sein.
PZ: Welche Rolle spielt die Schmerztherapie dabei?
Gottschling: Sterbenskranke Menschen haben häufig Angst vor Schmerzen. Die ist meistens aber unbegründet. In über 90 Prozent aller Fälle können Palliativmediziner auch starke tumorbedingte Schmerzen so weit kontrollieren, dass sie erträglich sind und die Menschen vor allem noch am Leben teilnehmen können. Das ist wichtig, denn viele Patienten fürchten sich nicht nur vor Schmerzen, sondern auch davor, völlig benebelt zu sein.
Die sehr guten schmerztherapeutischen Möglichkeiten stehen jedoch leider im krassen Gegensatz zur Lebenswirklichkeit. In Deutschland leidet jeder fünfte bis sechste Mensch unter lang anhaltenden Schmerzen. Und über 70 Prozent der lebensbegrenzend kranken Erwachsenen und fast neunzig Prozent der Kinder sterben nicht beschwerdearm.
PZ: Was sind die Gründe dafür und wie kann man das ändern?
Gottschling: Hier lohnt sich ein Blick auf die Ausbildung von Medizinern. Sowohl die Palliativmedizin als auch die Schmerztherapie sind erst seit Kurzem Pflichtbestandteil des Medizinstudiums. Erst wenn die Studenten von heute in acht bis zehn Jahren in Entscheidungspositionen kommen, als Fach- und Oberärzte in Kliniken oder als niedergelassener Arzt, wird sich durchgreifend etwas ändern. Wenn man aktuell Kollegen zum Thema Schmerz- und Palliativmedizin befragt, kennen die in aller Regel noch das Stufenschema der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 1986. Wenn man weiß, dass dieses Stufenschema als Therapie für Krebsschmerzen in Entwicklungsländern dienen sollte, die kaum Zugang zu medizinischen Behandlungsmöglichkeiten hatten, könnte man überspitzt sagen: Viele Ärzte in Deutschland sind heute in puncto Schmerztherapie noch auf Dritte-Welt-Niveau von vor 30 Jahren.
PZ: Sie beschreiben aber noch ein anderes Phänomen in Ihrem gerade erschienenen Buch »Leben bis zuletzt«: Patienten fürchten sich vor Opioiden.
Gottschling: Das liegt an diesen verkorksten Morphin-Mythen: Opioide machen abhängig, werden nicht gut vertragen und beschleunigen sogar den Tod – um nur einige zu nennen.
Ich habe mir in meinem Buch alle erdenkliche Mühe gegeben, sämtliche Vorurteile vollständig zu entkräften. Natürlich muss sich der behandelnde Arzt mit der Steuerung dieser Medikamente auskennen, aber dann gehört Morphin zu den segensreichsten Medikamenten, die wir in der Versorgung schwerstkranker und sterbender Patienten haben. Studien belegen, dass sich un- oder unterbehandelte Schmerzen lebensverkürzend auswirken, nicht die Einnahme schmerzlindernder Medikamente. Menschen sterben durch den Stress der Schmerzen, nicht durch Morphin.
PZ: Die palliative Schmerztherapie stützt sich aber nicht nur auf die Gabe von Morphin. Sie ist eine ganzheitliche Therapie nach dem sogenannten Total-Pain-Konzept, das heißt, sie berücksichtigt körperliche Schmerzen ebenso wie seelische, soziale und spirituelle Schmerzen. Was heißt das?
Gottschling: Es gibt viele Fragen, die einen sterbenskranken Menschen umtreiben. Warum ich? Werden meine Kinder Zeit für mich haben, wenn ich sterbe? Wird man sich an mich erinnern? Wohin gehe ich mit meiner Angst?
Wenn Sie den ganzen Menschen auf allen Ebenen würdigen wollen, brauchen Sie ein interprofessionelles Team. Wir werden hier am Uniklinikum des Saarlandes im Oktober eine Palliativstation eröffnen – die erste altersübergreifende in Europa, wo wir jeden Menschen mit einer lebensbegrenzenden Krankheit vom Baby bis zum Greis versorgen können. 45 bis 50 Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter, Kunst- und Musiktherapeuten und Seelsorger werden sich dann um die Menschen kümmern. Und das nicht um den »metastasierende Darmkrebs« aus Zimmer drei, sondern um »Herrn Müller« mit seinen Sorgen, Nöten, Ängsten und seinem gesamten sozialen Umfeld.
PZ: Wie steht es um die palliative Versorgung in Deutschland? Nicht jedes Krankenhaus hat eine Palliativstation.
Gottschling: Vor einigen Jahren hätte ich noch gesagt, Deutschland ist palliativmedizinisches Entwicklungsland. Heute wird die Versorgung zwar immer besser, ist aber noch lange nicht ausreichend. Im letzten Jahr haben wir hier im Uniklinikum über 1200 lebensbegrenzt erkrankte Menschen versorgt –und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Wir haben etwa 300 Palliativstationen für Erwachsene in Deutschland. Für Kinder gibt es seit Kurzem zwei, eine in Datteln, Nordrhein-Westfalen, und eine hat jetzt in München eröffnet. Zwei Dinge kommen der klinischen Palliativmedizin zugute: Sie ist seit 2014 Prüfungsfach in der Mediziner-Ausbildung – Unikliniken müssen also entsprechend ausgestattet sein. Punkt zwei: Wenn sich größere Kliniken als onkologisches Zentrum qualifizieren wollen, brauchen sie auch stationäre palliative Strukturen. Palliativstationen mit nur sechs Betten an Kliniken mit 1500 Betten sind aber natürlich viel zu klein. Gebraucht würden dort eigentlich 50. Was selten an die Öffentlichkeit dringt: Die Stationen sind immer voll, die meisten Patienten kommen nicht hinein und stehen auf Wartelisten. Die Wartezeiten auf ein Palliativ-Bett betragen oft zwei Wochen und länger – häufig leben unsere Patienten nicht so lange.
PZ: Seit 2007 gibt es aber in Deutschland einen Rechtsanspruch auf ambulante palliative Versorgung zu Hause.
Gottschling: Die sogenannte spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV) ist aber auch 9 Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes noch nicht flächendeckend. Bei Kindern haben wir vielleicht eine Abdeckung von 20 bis 25 Prozent. Viele SAPV-Teams, die das hauptberuflich machen, haben ökonomische Schwierigkeiten und sind trotz Finanzierung durch die Krankenkassen auf Spenden angewiesen. Es gibt aber auch Hausärztenetze, die sich absprechen, wer wann wohin fährt. Eine große Bedeutung haben die Kooperationsapotheken, mit denen fast alle SAPV-Teams zusammenarbeiten. Hier bekommt man nachts auch schnell mal eine gefüllte Schmerzpumpe oder eine Medikation, um einen mechanischen Ileus zu behandeln. Grundsätzlich ist die SAP sehr unterschiedlich organisiert und wird von Bundesland zu Bundesland auch unterschiedlich abgerechnet. Das ist zum Beispiel ein Problem, wenn man in Grenzgebieten länderübergreifend versorgt.
Hinzu kommt: Palliativmedizin ist unsexy. Sie haben es mit Patienten zu tun, die Sie als Mediziner nicht heilen konnten. Da wollen viele – auch Kollegen – nicht hingucken. Dennoch: Man darf hier keinen Fürsorgeabbruch betreiben, diese Patienten müssen weiterversorgt werden. Ich denke, es wird in Zukunft zwei große Standbeine der Medizin geben: die Palliativmedizin und die Geriatrie.
PZ: An wen richtet sich Ihr Buch?
Gottschling: Ich habe es für Laien geschrieben und will sie motivieren, wirksame Therapien und ganzheitliche Versorgung bei schweren Erkrankungen einzufordern. Sie haben ein Recht da-rauf. Ich bekomme aber auch viel Post von Kollegen, die sagen, das sei auch ein Buch, auf das die Ärzte gewartet haben. Das zeigt, wie viel Aufklärungsarbeit noch notwendig ist.
Mein Ziel ist es aber auch zu zeigen, dass es für alle Beteiligten in fast allen Fällen möglich ist, auch am Lebensende noch Lebensqualität zu haben. Wenn mich ein mit starken Schmerzen geplagter Patient eine Stunde nach Veränderung seiner Schmerztherapie wieder anstrahlt, ist das der beste Beweis. /