Training für das Immunsystem |
05.09.2018 10:22 Uhr |
Von Christina Hohmann-Jeddi / Impfungen haben über die Wirkung gegen das Zielpathogen hinaus noch weitere Effekte, die sich positiv, aber auch negativ auf Krankheitslast und Mortalität auswirken können. Wie diese unspezifischen Effekte zustande kommen und wie relevant sie sind, ist aber noch nicht vollständig erforscht.
Impfungen schützen vor Infektionen, indem sie eine spezifische Immunität gegen bestimmte Erreger induzieren, etwa durch Produktion von Antikörpern. Bei späterem Kontakt mit diesen Erregern kann das Immunsystem schneller und effektiver reagieren als ohne vorhergehende Impfung.
Die spezifische Wirkung von Impfungen beruht auf der sofortigen Freisetzung von Antikörpern bei erneutem Kontakt mit einem Erreger. Unspezifische Effekte sind weniger leicht zu erklären.
Foto: iStock/selvanegra
Über diese erregerspezifische Wirkung hinaus scheinen Impfungen auch weitere Effekte zu haben, die den Gesundheitszustand des Geimpften entweder positiv oder negativ beeinflussen. Dies zeigen vor allem epidemiologische, aber auch einzelne klinische Studien. Demnach sind Lebendvakzinen mit einer niedrigeren Mortalität und Krankheitslast assoziiert, während Totimpfstoffe, die Mehrheit aller Impfstoffe, mit einer erhöhten Mortalität und Morbidität in Zusammenhang stehen.
Lebendimpfstoffe enthalten geringe Mengen vermehrungsfähiger abgeschwächter Krankheitserreger. Was zu ihren positiven Effekten bekannt ist, fasste ein Team um Professor Dr. Mihai Netea von der Radboud-Universität in Nijmegen, Niederlande, im Juli im Fachjournal »Seminars in Immunology« in einem Review zusammen (DOI: 10.1016/j.smim.2018.06.002). Am besten untersucht sind die Bacillus Calmette-Guérin (BCG)-Impfung gegen Tuberkulose und die Masernimpfung. So berichtete unter anderem der dänische Epidemiologe Professor Dr. Peter Aaby bereits 1984, dass nach Einführung der Masernimpfung in dem afrikanischen Land Guinea-Bissau die Kindersterblichkeit deutlicher zurückging, als durch den reinen Masernschutz zu erwarten war.
Einfluss auf die Mortalität
Ähnliche Berichte gab es auch von der BCG-Impfung, ebenfalls aus Guinea-Bissau, aber auch aus Schweden. Dort wurde die Impfung, die eine abgeschwächte Variante des Erregers der Rindertuberkulose (Mycobacterium bovis) enthält, 1931 eingeführt. In der Folge sank die Kindersterblichkeit ebenfalls deutlicher, als durch den Rückgang der Tuberkulose-Todesfälle zu erklären war. Studien aus den USA und Großbritannien aus den 1940er- und 1950er-Jahren zufolge senkt ein BCG-Impfung die Gesamtmortalität um etwa 25 Prozent, heißt es in dem Review von Netea und Kollegen. Beobachtungsstudien zeigen, dass Mädchen stärker profitieren als Jungen und dass eine wiederholte Impfung einen Zusatzeffekt hat.
Die immunmodulierenden Effekte der BCG-Vakzine sind somit schon länger bekannt. Seit fast 60 Jahren wird daher auch ihr Einsatz bei verschiedenen Krebserkrankungen wie Leukämien und Hautkrebs untersucht. Bei der Behandlung von Harnblasenkrebs wird BCG tatsächlich eingesetzt. Die Spülung der Blase mit dem abgeschwächten Bakterium ist der Goldstandard der adjuvanten Therapie, um Rezidive zu bekämpfen. BCG regt in der Blase das Immunsystem an, gegen die Tumorzellen vorzugehen.
Da Beobachtungsstudien nur Zusammenhänge aufdecken, aber keine Kausalität belegen können, wurden auch klinische Studien zu den unspezifischen Effekten initiiert. Drei davon fanden in Guinea-Bissau statt, wo Kinder normalerweise bei Geburt den BCG-Impfstoff erhalten. Bei Kindern mit niedrigem Geburtsgewicht wird die Impfung allerdings auf später verschoben, was Forscher für eine Kontrollgruppe nutzten: Sie randomisierten Kinder mit niedrigem Geburtsgewicht auf zwei Gruppen. Eine wurde bei Geburt geimpft, die andere später. Eine Metaanalyse dieser drei Studien ergab, dass eine BCG-Impfung bei Geburt die Neugeborenen-Sterblichkeit um 38 Prozent und die Kindersterblichkeit (bis zwölf Monate) um 16 Prozent senkte.
In Malaysia wird die BCG-Impfung noch gegeben. Hierzulande sieht man davon ab, weil die Schutzwirkung vor Lungentuberkulose begrenzt ist.
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In Industrienationen, in denen die Kindersterblichkeit deutlich niedriger liegt als in Entwicklungsländern, scheint der Effekt allerdings nicht so ausgeprägt zu sein. So gab es in einer klinischen Studie mit fast 4300 Kindern in Dänemark, die entweder zur Geburt eine BCG-Impfung erhielten oder nicht, nach 15 Monaten keine Unterschiede zwischen den Gruppen hinsichtlich der Anzahl der Krankenhausaufenthalte aufgrund von Infektionen. Nur die Untergruppe der geimpften Kinder, deren Mütter im Laufe ihres Lebens auch geimpft worden waren, musste um 35 Prozent seltener im Krankenhaus behandelt werden als die Kontrollgruppe.
Auch zur Masernimpfung gibt es eine klinische Studie, die den Effekt einer zusätzlichen frühen Impfung im Alter von 4,5 Monaten im Vergleich zu einer einzelnen späten im Alter von neun Monaten untersuchte. Hier verbesserte die zusätzliche Immunisierung das Gesamtüberleben nur geringfügig; deutlicher war der Effekt wiederum bei Kindern von geimpften Müttern. Neben der BCG- und der Masern-Impfung scheinen auch zwei weitere Lebendvakzinen – der orale Polio- (OPV) und der Pockenimpfstoff – positive Effekte zu haben.
Zwei Hypothesen
Wie kommen diese Effekte zustande? Dazu gibt es zwei Hypothesen. Es könnte eine heterologe Immunität auftreten. Diese beruht darauf, dass die durch die Impfung erzeugten T-Zellen auch gegen strukturell ähnliche Epitope anderer Erreger reagieren. Dass eine solche Kreuzprotektion vorkommt, konnte in Tier- und Zelluntersuchungen bereits in Teilen nachgewiesen werden.
Die andere Hypothese besagt, dass unspezifische Effekte auf einem Immuntraining beruhen, einer Verbesserung der angeborenen Abwehr. Hierfür spricht, dass Mäuse mit schwerer kombinierter Immundefizienz, die weder B- noch T-Zellen aufweisen, nach einer BCG-Impfung deutlich besser gegen eine nachfolgende Candida-Infektion geschützt sind als ungeimpfte Kontrolltiere. In Zellkultur schütten zudem von BCG-geimpften Menschen isolierte mononukleäre Zellen bei Kontakt mit anderen Erregern deutlich mehr proinflammatorische Zytokine aus als Zellen von ungeimpften Personen. Dieser Effekt wird wohl in Teilen epigenetisch gesteuert, heißt es in dem Review von Netea. Man stehe bei der Erforschung der Mechanismen noch ganz am Anfang.
Noch nicht verstanden ist, wie es zu den geschlechtsspezifischen Unterschieden kommt. Diskutiert wird hier neben dem Hormonstatus eine geschlechtsspezifische Genaktivität. Unklar sei auch noch, ob sich die positiven Effekte eventuell verstärken lassen. Den Autoren des Reviews zufolge hat eine wiederholte Gabe einen zusätzlichen Nutzen ebenso wie das Impfen der Mutter vor Geburt.
Totimpfstoffe enthalten anders als Lebendimpfstoffe keine vermehrungsfähigen Erreger, sondern abgetötete Erreger oder Bestandteile davon. Ihre Effekte sind weniger gut untersucht als die von Lebendvakzinen. In einem Review aus dem Jahr 2016, der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Auftrag gegeben wurde, fanden die Autoren keine klinischen Studien, sondern nur zehn Kohortenstudien zu den unspezifischen Effekten der DTP-Impfung gegen Diphtherie, Tetanus und Pertussis (»British Medical Journal«, DOI: 10.1136/bmj.i5170). Diese hatten stark heterogene Ergebnisse, die von Halbierung bis zum vierfachen Anstieg der Mortalität reichten. Die meisten Studien zeigten aber einen Anstieg der Sterblichkeit, über alle Studien war die Sterblichkeit um 38 Prozent erhöht. Die Autoren betonen aber, dass die untersuchten Studien ein hohes Risiko für relevante Verzerrungen hätten.
Lebendimpfung am Schluss
Auch wenn noch einige Fragen offen sind: Dass Impfungen unspezifische Effekte haben können, ist inzwischen gut belegt und auch von der WHO weitestgehend akzeptiert (lesen Sie dazu auch Impfen: Reden wir darüber). Die Daten aus klinischen Studien reichen der Organisation bislang aber nicht aus, um die bestehenden Impfempfehlungen zu ändern. Das fordern aber Netea und Kollegen. Aufgrund der Erkenntnisse zum Immuntraining sei es sinnvoll, als letzte Impfung der Grundimmunsisierung stets eine Lebendvakzine zu geben.
In Deutschland ist das prinzipiell schon der Fall. Hier endet der Impfkalender, wenn denn alle Impfungen laut Empfehlung vorgenommen wurden, mit der Impfung gegen Masern, Mumps und Röteln im Alter von 15 bis 23 Lebensmonaten. Die Autoren geben aber zu bedenken, dass insgesamt nur noch wenige Vakzinen Lebendimpfstoffe sind. Auch alles, was nach der Grundimmunisierung noch eingesetzt wird, wie die DTP-Auffrischimpfung oder die HPV-Impfung, sind Totimpfstoffe. /