Pharmazeutische Zeitung online
Zweiter Weltkrieg

Die Seele leidet bis heute

06.09.2011  17:08 Uhr

Von Nicole Schuster / Die Zeit heilt viele Wunden, aber nicht alle. Bei der Kriegsgeneration schlummern die Schreckensbilder aus dem Zweiten Weltkrieg tief im Inneren. Das hat Folgen für die psychische und physische Gesundheit, wie neue Studien zeigen.

Unter den Menschen ab 60 Jahren leiden bis zu 12 Prozent an den Symptomen einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Das haben Forscher von der Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie am Uniklinikum Leipzig jetzt belegen können. Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung ist diese Quote sehr hoch. Dass die Zunahme nicht allein abhängig von den Lebensjahren sein kann, erklärte Professor Dr. Elmar Brähler von dem Institut im Gespräch mit der Pharmazeutischen Zeitung: »Verglichen mit ähnlichen Untersuchungen aus dem Ausland, zum Beispiel der Schweiz oder den USA, zeigt sich, dass die Häufung von Posttraumatischen Belastungsstörungen im Alter nur in Deutschland so extrem ist.«

Für ihre Studien haben die Forscher gemeinsam mit Kollegen aus Greifswald und Zürich die Daten von mehr als 8000 Menschen zwischen 14 und 93 Jahren von 2005 bis 2008 ausgewertet. Das Ergebnis: Posttraumatische Belastungsstörungen sind in Deutschland vor allem eine Krankheit der Über-60-Jährigen. Bis zu 4 Prozent von ihnen weisen eine solche Störung auf. Auch geringer ausgeprägte Formen eingeschlossen, leiden sogar etwa 12 Prozent der älteren Generation unter posttraumatischen Symptomen. Somit sind in Deutschland circa 2,5 Millionen Menschen betroffen. Im Vergleich dazu: Die jüngere Generation der 30- bis 59-Jährigen leidet nur zu einem Anteil von bis zu 2,7 Prozent an einer PTBS.

 

Die Ursachen für die signifikanten Unterschiede sind nach Ansicht der Forscher die schrecklichen Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg. Zwischen 40 und 50 Prozent der älteren Betroffenen haben eigenen Berichten zufolge mindestens ein traumatisches Ereignis erleben müssen, von denen die meisten in den Kriegszeiten stattfanden.

 

Folgen für Seele und Körper

 

Deutliche Unterschiede bezüglich der Symptome und Häufigkeit bei Männern und Frauen gab es dabei nicht. »Das ist eher ungewöhnlich, da normalerweise Frauen von psychischen Erkrankungen deutlich stärker betroffen sind«, sagte Dr. Heide Glaesmer aus der Leipziger Arbeitsgruppe der PZ. Worin sich die Geschlechter jedoch unterschieden, sei die Art der Erlebnisse. Männer gaben häufiger an, traumatische Erlebnisse durch Inhaftierung oder körperliche Gewalt erlitten zu haben. Von Vergewaltigungen berichteten hingegen fast ausschließlich Frauen. Auf etwa 1,5 Prozent der weiblichen Befragten traf dies zu, während die Männer dazu fast immer schwiegen. Die Forscher gehen hier bei beiden Geschlechtern von einer hohen Dunkelziffer aus. »Vergewaltigungen sind mit extrem viel Scham behaftet. Man spricht nicht darüber«, so Glaesmer.

 

Die ständige Angst vor Bomben­angriffen, erlittene Vertreibungen und der Verlust geliebter Angehöriger, Erlebnisse aus einer Inhaftierung oder Schreckensbilder aus Kampfhandlungen haben sich fest in der Seele der Kriegsgeneration eingebrannt. An sich völlig harmlose Dinge aus dem Alltag, bestimmte Orte, Aktivitäten, Gerüche oder Geräusche, können dazu führen, dass die Betroffenen das Trauma in Bildern und Gefühlen erneut durch­leben. Auch in Albträumen verfolgt viele von ihnen das schreckliche Geschehen immer wieder. Depressionen, Schlafstörungen, Ängste, Konzentrationsschwierigkeiten und sozialer Rückzug können die Folgen sein. Doch nicht nur für die Seele ist eine PTBS schädlich. Der Körper leidet auch und wird anfälliger für Krankheiten.

 

So zeigen die Ergebnisse aus Leipzig, dass die PTBS-Patienten an den in der Befragung erfassten körperlichen Krankheiten häufiger leiden als Vergleichsgruppen. Beispielsweise kommen bei ihnen Erkrankungen der Herzkranz­gefäße, Schlaganfälle oder Infekte wie eine Bronchitis dreimal häufiger vor als bei nicht traumatisierten Menschen.

Die körperlichen und seelischen Folgen nach einem Kriegstrauma spielen eine besonders große Rolle, wenn Patienten zu Pflegefällen werden. »Ärzte sollten immer bedenken, dass körperliche Leiden bei älteren Patienten nicht zwangsläufig eine Alterserscheinung sind, sondern auch seelische Ursachen haben können«, sagte Brähler. Um dagegen anzugehen, muss man die zugrunde liegende Posttraumatische Belastungsstörung zu behandeln versuchen.

 

Entsprechende Therapieangebote für ältere Menschen müssen sensibel auf deren besonderen Bedürfnisse eingehen. Von normalen Psycho- und Gesprächstherapien fühlen sich die Älteren oft nicht angesprochen. Man spricht einfach nicht über die Kriegs­erlebnisse und hat sich jahrzehntelang eingeprägt, als Mitglied des »Tätervolks« kein Recht auf Bewältigungs­probleme zu haben.

 

Das Schweigen brechen

 

Therapieangebote für ältere Menschen müssen daher berücksichtigen, dass die Betroffenen mitunter nicht über alles reden wollen und können. Ein Beispiel, das dem gerecht wird, ist das Angebot »Lebenstagebuch« vom Behandlungszentrum für Folteropfer Berlin in Kooperation mit der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, das speziell auf durch Kriegserleb­nisse traumatisierte ältere Patienten zugeschnitten ist (www.lebenstagebuch.de). In einer sechswöchigen Therapie im Rahmen einer Studie können Teilnehmer, die als Kinder traumatisiert wurden, hier kostenfrei ein Behandlungskonzept aus verschiedenen wirksamen Therapie­elementen nutzen. Das Besondere: Die Kommunikation zwischen Therapeut und Patient findet hauptsächlich über das Internet statt, auf Nachfrage auch über den Briefweg oder per Fax.

 

»Da mittlerweile Untersuchungen zufolge 5,7 Millionen der über 60-Jährigen in Deutschland online sind, ist dieser Kommunikationsweg eine wirkliche Alternative für ältere Menschen«, sagte Projektkoordinatorin Diplom-Psychologin Maria Böttche vom Berliner Behandlungszentrum für Folteropfer der PZ. Ein erstes Resümee lässt sich auch schon ziehen: »In der Nachbeobachtungphase konnten wir feststellen, dass sich die Symptome der Posttraumatischen Belastungsstörung signifikant verbessert haben.«

 

Um Patienten dazu zu bewegen, sich überhaupt Hilfe zu suchen und eine Bewältigung der traumatischen Erlebnisse anzugehen, braucht es oftmals viel Unterstützung und Motiva­tion von außen. Für Angehörige und Betreuer ebenso wie für Ärzte und Apotheker ist es daher wichtig, bei den verschiedensten psychischen und physischen Krankheiten eines älteren Menschen auch an eine PTBS zu denken. Therapieangebote kann der Hausarzt am ehesten an die Betroffenen herantragen. Doch auch ein Apotheker, der ein offenes Ohr für seine Patienten hat, kann für eine seelische Entlastung sorgen. Ein Bewusstsein für die Problematik zu schaffen, ist auch der Wunsch der Leipziger Forscher. Glaesmer: »Wir hoffen, dass wir mit unseren Ergebnissen für Posttraumatische Störungen und deren Folgen bei älteren Menschen sensibilisieren können.« / 

 

Literatur

...bei der Verfasserin

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