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Glymphatisches System

Reinigung des Gehirns

29.08.2018  10:53 Uhr

Von Christina Hohmann-Jeddi / Das Gehirn verfügt über ein effizientes System, um Proteinreste und andere Abfallstoffe auszuspülen: Das bis vor wenigen Jahren noch unbekannte glymphatische System pumpt Flüssigkeit durch das Gehirn und entsorgt diese über die Lymphgefäße der Hirnhäute. Störungen können zu neurologischen Erkrankungen beitragen.

Obwohl das Gehirn nur etwa 1,5 kg wiegt, verbraucht es etwa 25 Prozent der gesamten Energie des Körpers. Bei dieser hohen Umsatzrate fallen auch große Mengen an Stoffwechsel­produkten und Proteinmüll an. Diese potenziell toxischen Stoffe müssen ­effektiv abtransportiert werden. Lange Zeit ging man davon aus, dass das ­Gehirn nicht wie der Rest des Körpers über ein lymphatisches System verfügt und dass Abfallstoffe langsam passiv aus dem Gewebe in die Blutgefäße des Gehirns diffundieren. Man nahm an, dass ein großer Teil von anfallenden Proteinresten in den Gehirnzellen selbst abgebaut wird.

Perivaskulärer Raum

 

Dass die Reinigung des Gehirns aber deutlich besser organisiert ist, entdeckte 2012 ein Team um Professor Dr. Maiken Nedergaard von der University of Rochester im US-Bundestaat New York. Ihre Erkenntnisse zum Reinigungssystem des Organs veröffentlichten die Forscher im Fachjournal »Science Translational Medicine« (DOI: 10.1126/scitranslmed.3003748). Den Neurologen zufolge sind die Blutgefäße des Gehirns von einem Hohlraum, dem sogenannten persivaskulären Raum, umgeben, durch den Flüssigkeit fließt. Die innere Wand dieses Hohlraums bilden die Endothelzellen der Blutgefäße, die äußere Wand spezielle plattenförmige Ausläufer von Astrozyten, die sogenannten Astrozyten-Endfüße, die sich zu einem dichten Geflecht zusammenlagern. Die sternförmigen Astrozyten gehören zu den Gliazellen und nehmen im Gehirn eine Reihe von wichtigen Aufgaben wahr.

 

Dass dieser Hohlraum um Arterien und Venen existiert, war schon länger bekannt, schreibt Nedergaard in einem Artikel in der Zeitschrift »Scientific American« (März 2016). Doch eine Funktion konnte ihm nicht zugeordnet werden. Sie und ihr Team wurden auf den perivaskulären Raum aufmerksam, weil die Astrozyten-Endfüße eine hohe Zahl an Wasserkanälen aufweisen – in der Größenordnung von Zellen der Niere. Die Endothelzellen der Blutgefäße besitzen diese aber nicht. Die Forscher vermuteten, dass der Hohlraum als Leitungsbahn für Zerebrospinalflüssigkeit dient, die angetrieben durch den Blutdruck in den Arterien durch das Gehirn gepumpt wird.

 

Mithilfe eines Farbstoffs und einer speziellen Mikroskopier-Technik, die die Bildgebung bei lebenden Organismen erlaubt, konnten die Forscher den Weg der Flüssigkeit im Gehirn von Mäusen beobachten: Aus dem Subarachnoidalraum, einem Raum zwischen den beiden Hirnhäuten Arachnoidea und Pia Mater, wird ein kleiner Teil des Liquors, angetrieben durch den Pulsschlag in den Arterien, durch den perivaskulären Raum um Arterien gepumpt. Von dort kann die Flüssigkeit durch die Wasserkanäle in den Endfüßen in die Astro­zyten gelangen, diese als Leitung ­benutzen und schließlich in den Raum zwischen den Zellen, den interstitiellen Raum, gelangen. Dort sammelt sie Proteinreste auf, gelangt schließlich in den perivaskulären Raum um die Venen und verlässt das Gehirn. Dieses pseudo­lymphatische System nannten Neder­gaard und ihr Team glymphatisches System – eine Zusammensetzung aus den Begriffen Glia und lymphatischem System.

 

Lymphgefäße der Hirnhaut

Ein Teil des Liquors, der sich im perivaskulären Raum befindet, fließt vermutlich über die Lymphgefäße der äußeren Hirnhaut Dura Mater ab, die in die Halslymphknoten münden. Dass diese Hirnhaut auch Lymphgefäße aufweist, wurde erst 2015 von Professor Dr. Jonathan Kipnis und Kollegen der University of Virginia entdeckt (»Nature«, DOI: 10.1038/nature14432). Die meningealen Lymphgefäße können neben der Flüssigkeit auch Immunzellen transportieren. Die Forscher schätzten die neu entdeckten Lymphgefäße nach dem glymphatischen System als zweite Stufe des Entsorgungssystems des Gehirns ein und mutmaßten, dass eine Störung dieses Systems zur Pathologie von neurologischen Erkrankungen wie Alzheimer, aber auch Multiple Sklerose oder Morbus Parkinson beitragen kann.

 

Schon Nedergaard hatte vermutet, dass Störungen des Reinigungssystems sich schädlich auf das Gehirn auswirken könnten. Hinweise darauf gab ein Experiment mit Mäusen, deren Wasserkanäle durch einen genetischen Defekt ausfielen. Diese Tiere benötigten erheblich länger, ins Gehirn injiziertes markiertes β-Amyloid zu entsorgen, als gesunde Tiere. Somit könnte eine Störung des Entsorgungssystems zur Entstehung einer Alzheimer-Erkrankung beitragen.

 

Reinigung im Schlaf

 

Auch der Schlaf kann in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen, denn mittlerweile ist bekannt, dass das glymphatische System am besten im Schlaf arbeitet. Nedergaard vermutet sogar, dass die Spülung des Gehirns ein Grund dafür ist, dass Wirbeltiere schlafen. Von Alzheimer-Patienten ist bekannt, dass die Mehrheit von ihnen bereits vor Auftreten erster Symptome an Schlafstörungen leidet. Der gestörte Schlaf könnte die Entsorgung von β-Amyloid behindern und somit zur Pathogenese beitragen, so Nedergaard.

 

Welche Auswirkungen eine Störung des glymphatischen Systems auf die kognitiven Funktionen hat, untersuchte ebenfalls das Team um Kipnis. Aktuell berichten die Forscher im Fachjournal »Nature«, dass bei Modellmäusen, deren meningealen Lymphgefäße beschädigt sind, die Entsorgung von Abfallstoffen aus dem Gehirn verlangsamt ist (DOI: 10.1038/s41586-018-0368-8). Die Tiere zeigen zudem kognitive Funktionseinbußen: Lernen und Gedächtnis sind gestört. Weitere Versuche haben gezeigt, dass im Alter die Funktion der menigealen Lymphgefäße bei den Tieren nachließ und somit auch die Reinigung des Gehirns.

 

Dieser Prozess könnte dazu beitragen, dass im Alter kognitive Einbußen auftreten. Er ließ sich durch Gabe eines Arzneistoffs wieder ausgleichen: Als die Forscher den Tieren ein Hydrogel mit dem Wachstumsfaktor VEGF-C (Vascular Endothelial Growth Factor-C) in den Schädel applizierten, erweiterte der Wirkstoff das Volumen der meningealen Lymphgefäße, verbesserte den Abfluss und in der Folge die kognitiven Funktionen der Tiere.

 

Es sei das erste Mal, dass man Gedächtnisleistung durch die Beeinflussung des Lymphgefäßsystems des Gehirns habe steigern können, erklären die Forscher. Sie wollen nun ein Medikament entwickeln, das an der Lymphgefäßfunktion des Gehirns ansetzt. Dieses könnte eventuell auch bei Menschen mit einem hohen Alzheimerrisiko hilfreich sein. Die Alzheimer-Pathologie ließe sich nur schwer rückgängig machen, sagt Kipnis in einer Pressemitteilung der University of Virginia. Aber durch eine Reparatur des Lymphgefäßsystems könne man den Krankheitsbeginn eventuell so weit hinausschieben, dass man ihn nicht mehr erlebt. /

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