Pharmazeutische Zeitung online
Bakteriophagen

Biologische Waffen gegen Bakterien

29.08.2016  11:10 Uhr

Von Ilse Zündorf und Theo Dingermann / Bei Gärtnern ist die ­Verwendung von Nützlingen gegen Lästlinge schon seit Längerem en vogue. Auch Bakterien haben natürliche Feinde, die seit mehr als 100 Jahren bekannt sind. Angesichts der Gefahr durch pathogene Mikroorganismen, die gegen viele Antibiotika resistent sind, kommen Phagen wieder als potenzielle Waffen ins Gespräch.

Die Natur bietet ein erstaunliches Ökosystem: Im Prinzip hat jeder Organismus seinen natürlichen Fraßfeind; ­beide existieren relativ stabil neben­einander und halten die Menge des jeweils anderen in Schach. Gibt es zu viel Beute, kann sich der Jäger stark vermehren, bis er nichts mehr zu fressen findet. Das gilt auch für die allerkleinsten Organismen, die Bakterien und ­deren biologische Feinde, die Phagen. Bereits 1896 beobachtete Ernest Hanbury Hankin, dass in den Flüssen Ganges und Yamuna in Indien irgendetwas vorkommt, was die dort lebenden ­Cholerabakterien plötzlich umbringt – allerdings konnte er dieses Phänomen nicht genauer identifizieren.

Während des Ersten Weltkriegs entdeckten der Brite Frederick Twort und der Kanadier Félix d’Hérelle unabhängig voneinander unsichtbare »Mikroben«, die Bakterien eliminieren können. D’Hérelle schlug daher den Begriff »Bakteriophagen« vor, abgeleitet von dem griechischen Wort phagein für »essen« (1).

 

Was man heute weiß: Bakteriophagen können Bakterien gar nicht »fressen«. Es handelt sich um Pakete aus Proteinen und Nukleinsäuren, die für ihre eigene Vermehrung auf die Biochemie eines Organismus oder einer Zelle angewiesen sind – ähnlich wie Influenza-, Masern- oder Rhinoviren. Die Bakterien-«Viren« brauchen sehr spezifisch Prokaryonten als Wirtszelle und haben keinerlei Interesse an unseren eukaryontischen Zellen.

 

Lebensraum und Einteilung

 

Bakteriophagen sind also keine richtigen Organismen. Überall dort, wo Bakterien leben, sind auch Phagen zu finden: im Erdreich, in Gewässern, im Darm, auf der Haut oder im Respira­tionstrakt. Circa 104 bis 108 Phagenpartikel kommen in einem Milliliter wäss­rigem Milieu und ungefähr 109 Phagen in einem Gramm Erdboden vor (2). Auf der ganzen Erde schätzt man die Zahl der Phagen auf 1032 (3)!

 

Um die Phagen zu finden, reicht es aus, Bakterien aus ihrem natürlichen Lebensraum stark verdünnt auf einer Agarplatte auszubringen. Nachdem die Mikroorganismen zu einem Rasen ausgewachsen sind, lassen sich eventuell lichtere Stellen als Hemmhöfe (Plaques) entdecken. Hier ist das Bakteriumwachstum durch eine Infektion mit ­einem Phagen entweder komplett in­hibiert oder zumindest verlangsamt. Sticht man mit einem (sterilen) Zahnstocher in diese Stellen, bleiben genügend Phagenpartikel am Zahnstocher hängen, um eine neue Bakterienkultur zu infizieren und sich massiv zu vermehren.

 

Über die Plaques im Bakterienrasen, die initial aus der Infektion einer einzigen Bakterienzelle mit einem Phagen entstanden sind, können Bakteriophagen quantifiziert werden. Dazu werden alle Plaques auf einer Agarplatte ausgezählt, um dann anhand des eingesetzten Volumens der Phagenlösung auf die Menge der enthaltenen Phagen in PFU/ml (Plaque forming units) zurückzurechnen.

 

Mehr als 6000 verschiedene Bakteriophagen sind bisher bekannt, die sich anhand verschiedener Kriterien einteilen lassen (1). Nur sehr wenige Bakteriophagen haben eine Lipidhülle vergleichbar mit der humanpathogener Influenzaviren oder des HI-Virus. Stattdessen umhüllt ein Proteinkapsid die genetische Information in Form von einzelsträngiger (single stranded: ss) oder doppelsträngiger (double stranded: ds) RNA oder DNA.

 

Die vermutlich größte Gruppe sind die Caudovirales (lateinisch: cauda, Schwanz). Im Elektronenmikroskop sind diese Phagen an einem bis zu 230 nm langen Schwanz zu erkennen, der an dem 45 bis 170 nm großen ikosaedrischen Kopf hängt (Abbildung 1). Im Kopf befindet sich das lineare doppelsträngige DNA-Genom. Innerhalb der Caudovirales lassen sich verschiedene Phagen-Familien einteilen, die leicht unterschiedliche Infektionswege bei den Bakterien einschlagen.

 

Vermehrungszyklus von Bakteriophagen

Wie die humanpathogenen Viren sind auch Bakteriophagen extrem spezifisch für ihre jeweilige Wirtszelle. Als Erkennungsmoleküle dienen verschiedene bakterielle Oberflächeneigenschaften. Nachdem die Phagen über spezielle Strukturen am Schwanzende an das bakterielle Erkennungsmolekül angedockt haben, wird – eventuell nach lokalem Auflösen der Zellwand – die DNA durch den Phagen-Schwanz in die Bakterienzelle injiziert. Das Kapsid bleibt außen an der Bakterienzelle haften.

 

Was danach passiert, ist je nach Phagen-Familie unterschiedlich. Sogenannte virulente Phagen bringen die Bakterienzelle sofort dazu, in kurzer Zeit möglichst viele Phagen-Nachkommen zu bilden. Dann platzt die übervolle Wirtszelle auf und entlässt neu gebildete infektiöse Partikel. Der T4-Phage, den die Molekularbiologen als Quelle der wichtigen T4-DNA-Ligase zur Verknüpfung von DNA-Molekülen kennen, gehört zur Gruppe dieser virulenten Phagen. Dieser sehr aggressive Vermehrungszyklus wird auch als »lytischer Zyklus« bezeichnet.

 

Sehr viel schonender geht der lambda-Phage mit seiner Wirtszelle um. Ebenso wie der T4-Phage infiziert auch lambda das Darmbakterium Escherichia coli. Allerdings integriert er sein dsDNA-Genom in die DNA der Bakterienzelle. Der lambda-Phage kann so beliebig lange als »Prophage« in der Bakterienzelle persistieren und wird bei jeder Zellteilung mit an die Tochterzellen weitergegeben. Man bezeichnet dieses Stadium auch als lysogenen Zyklus eines temperenten Phagen. Erst unter bestimmten Bedingungen wird der Prophage reak­tiviert. Es kommt zur Bildung neuer ­Phagenpartikel, wodurch ein lytischer Zyklus – analog zum T4-Phagen – eingeleitet wird (Abbildung 2).

 

Eine dritte Gruppe umfasst filamentöse Phagen wie M13. Sie sehen wie Miniaturwürmer aus, die an einem Ende sehr spezielle Proteine aufweisen, über die sie ihre Wirtszellen erkennen und binden. Ihr Genom besteht aus einzelsträngiger DNA (ssDNA), die in der Bakterienzelle zu einem doppelsträngigen Ring ergänzt wird. Anschließend werden kontinuierlich neue Phagen produziert und vom Bakterium abgegeben – die Wirtszelle bleibt am Leben und wird nur in ihrer Zellteilungsaktivität eingeschränkt (1).

 

Frühe Therapieansätze

 

Bereits kurz nach ihrer Entdeckung zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Bakteriophagen tatsächlich als Therapeutika eingesetzt (Grafik). Noch während des Ersten Weltkriegs entwickelte d’Hérelle 1917 eine Phagenpräparation, um französische Soldaten von der Ruhr zu heilen (3). 1919 begann er am Hôpital des Enfants-Malades in Paris weitere Studien. Der erste Patient war ein zwölfjähriger Junge mit schwerer Dysenterie, der nach einer einzigen Behandlung nach wenigen Tagen vollständig gesund war. Erfolge gelangen auch Richard Bruynoghe und Joseph Maisin gegen Staphylokokken-Hautkrankheiten. D’Hérelles Laboratoire du Bactériophage in Paris stellte fünf verschiedene Phagenmischungen gegen verschiedene Krankheiten her.

 

Besondere Kontakte pflegte d’Hérelle mit dem georgischen Wissenschaftler Georgiy Eliava, der sich für Phagen gegen die Cholera-Erreger interessierte. 1936 gründeten die beiden in Tiflis das »Georgiy-Eliava-Institut für Bakteriophagen, Mikrobiologie und Virologie«, wo die ersten Phagenmischungen für die Therapie der Cholera im Südosten der damaligen UdSSR kommerziell hergestellt wurden.

D’Herelle wurde für seine Forschungen zu Bakteriophagen nach 1925 insgesamt achtmal für den Nobelpreis vorgeschlagen, hat ihn allerdings nie erhalten (3).

 

Jenseits des Atlantiks wurden ebenfalls bereits in den 1920er-Jahren am Oswaldo-Cruz-Institut in Rio de Janeiro kommerzielle Bakteriophagen gegen Dysenterie produziert. In den USA stellte in den 1940er-Jahren die Eli Lilly Company sieben verschiedene Produkte für die Anwendung am Menschen her.

 

Doch erst durch die Arbeiten von Max Schlesinger aus den 1930er-Jahren und von Helmut Ruska, der 1940 Bak­teriophagen im Elektronenmikroskop sichtbar machte, bekam man eine klarere Vorstellung über deren Organisa­tionsform. Unklar war jedoch die reproduzierbare Herstellung von Phagen­präparationen, sodass die damaligen Therapeutika nicht stabil waren und nicht zuverlässig wirkten. Mit der Entdeckung des Penicillins durch Alexander Fleming gerieten die Bakteriophagen als Wirkstoffe in Europa und in den USA in Vergessenheit (2, 3).

 

In der früheren UdSSR hörte man ­jedoch nie mit der Forschung auf. In Russland, Georgien und Polen sind ­Phagenpräparationen zugelassen und in Apotheken erhältlich (3).

 

Infektionsprophylaxe mit Bakteriophagen

 

In der Sowjetunion wurde unter anderem die prophylaktische Verabreichung von Phagen getestet. Dies geschah beispielsweise während des Zweiten Weltkriegs in und um Stalingrad, um Cholera-Epidemien vorzubeugen. Tausende Soldaten waren bereits infiziert, bevor der Mikrobiologe Zinaida Vissarionovna Yermolyeva um Unterstützung gebeten wurde. Yermolyeva ließ riesige Mengen Phagensuspension herstellen, die fünf Tage lang nach einem bestimmten Schema täglich an etwa 50 000 Menschen verabreicht wurde. Nach wenigen Tagen waren keine Cholera-Erreger mehr in den Faeces der Patienten nachweisbar und der Ausbruch konnte gestoppt werden.

 

Ähnlich erfolgreich waren Phagentherapien gegen Cholera-Bakterien in Ost-Pakistan und Afghanistan 1958 und 1960. Das »prophylactic phaging« gegen Dysenterie- und Typhus-Epidemien erfolgte bei der Roten Armee regelmäßig: Die Soldaten erhielten während der Zeit des höchsten Infektionsrisikos alle fünf bis sieben Tage zwei Tabletten mit Phagen. Die Infektionen gingen dramatisch zurück (3).

In der ehemaligen Sowjetunion und in Osteuropa wurden Bakteriophagen unterschiedlich angewendet:

 

  • oral als Tablette oder als flüssige ­Formulierungen mit einer ­Konzentration von 105 bis 107 plaque forming units (PFU)/Dosis,
  • rektal,
  • lokal auf der Haut, im Auge, im Ohr als Tropfen, Cremes oder Aerosol,
  • als intrapleurale Injektionen (in die Brusthöhle) sowie seltener ­intravenös.
     

Aktuelle Präparationen aus Georgien und Russland bestehen üblicherweise aus einer Mischung virulenter Phagen, die sich in ihrer Wirtsspezifität überlappen und auch gegen antibiotikaresistente Bakterien aktiv sind (3).

 

Revival »im Westen«

 

In Europa und den USA wächst das Interesse an Bakteriophagen – auch wegen der rasanten Ausbreitung multiresistenter Bakterienstämme. 2050 werden weltweit 10 Millionen Menschen an multiresistenten Erregern sterben, postulierte die RAND-Corporation 2014 in einer Modellrechnung (4).

 

Die Zahl der Veröffentlichungen, die in PubMed unter dem Stichwort »phage therapy« auftauchen, steigt rasant an. Etliche Artikel berichten von erfolgreichen Therapiestudien an Menschen mit schwierig zu behandelnden bakteriellen Infektionen, zum Beispiel chronischen Ohrinfektionen mit Pseudomonas aeruginosa, Durchfallerkrankungen infolge Escherichia-coli-Infek­tion oder hartnäckigen Pseudomo­- nas-aeruginosa-Ansiedelungen in der Lunge von Mukoviszidose-Patienten. Überwiegend handelt es sich um Einzelanwendungen, die nicht als Grundlage für eine Zulassung als Arzneimittel dienen können.

 

In Europa: P.H.A.G.E. und Phagoburn

 

Ein Schritt in Richtung einer rechtlichen Etablierung der Phagentherapie als Alternative zu Antibiotika war 2009 die Gründung der internationalen Non-Profit-Organisation P.H.A.G.E. (Phages for Human Applications Group Europe, www.p-h-a-g-e.org) mit Sitz in Brüssel. Ihr Ziel ist es, die Forschung an Bakteriophagen zu verstärken und alles in die Wege zu leiten, um Phagen als zuge­lassene Therapie in Europa einzuführen. In Zusammenarbeit mit dem Leibniz-Institut Deutsche Sammlung von Mikro­organismen und Zellkulturen GmbH (DSMZ) wird zudem eine Sammlung potenziell therapeutischer Phagen angelegt, die bei Bedarf vermehrt und eingesetzt werden könnten.

 

Seit 2013 läuft die europäische klinische Phase-I/II-Studie »Phagoburn« an elf Spezialkliniken für Brandverletzte in Frankreich, Belgien und Schweiz (Laufzeit insgesamt 36 Monate). Geprüft werden zwei Cocktails aus zwölf sowie 13 verschiedenen Bakteriophagen gegen die häufigsten mit Brandwunden assoziierten Bakterien, Pseudomonas aeruginosa und Escherichia coli.

 

In diese erste große, randomisierte, multizentrische klinische Studie sind 220 Patienten eingeschlossen, deren Brandwunden mit einem dieser Bakterien infiziert sind. Als Vergleich dient eine topische Behandlung mit Silbersulfadiazin. Mit immerhin 3,85 Millionen Euro wird die Studie unter dem 7th European Framework Programme for research and development (FP7) ­gefördert. Bisher sind noch keine Ergebnisse veröffentlicht.

Vielfach einsetzbare Bakteriophagen

Bakterien können ganz schön lästig sein – auf vielerlei Weise. Sie können jedoch auch mit Bakteriophagen bekämpft werden, zum Beispiel in der Lebensmittelproduktion.

 

Nach Zahlen der WHO sterben jährlich weltweit 420 000 Menschen an Lebensmittelvergiftungen. In Europa sind es etwa 5000 Menschen. Erst im vergangenen Mai machte eine Großmetzgerei in Bayern Schlagzeilen, die ihre Schinken- und Wurstprodukte zurückrufen musste, weil Listerien gefunden worden waren. Wenige Wochen vorher traf das gleiche Schicksal eine Allgäuer Käserei mit einem Bio-Weichkäse.

 

Phagen-Cocktail für Fleischwaren

 

Eine Kontamination von Lebensmitteln mit dem Bakterium Listeria monocytogenes kann in den USA nicht so leicht passieren. Die FDA hat vor zehn Jahren einen Cocktail aus sechs verschiedenen Bakteriophagen zugelassen, das als Suspension kurz vor der Verpackung über Ready-to-use-Fleisch- und Geflügelprodukte versprüht wird. Neben Listex™ oder ListShield™ gegen Listerien wurden weitere Produkte entwickelt wie Salmonelex™ und SalmoFresh™ gegen Salmonellen oder EcoShield™ gegen Escherichia coli.

 

Hersteller von Listex™ und Salmonelex™ ist die niederländische Firma Micreos in Wageningen (www.micreos.com), die unter dem Label Gladskin auch ein Endolysin-Produkt, Staphefekt XDR.300, gegen eine Infektion mit Staphylococcus aureus bei Akne und Rosacea auf den Markt gebracht hat. Zukünftige Geschäftsbereiche von Micreos werden Tiergesundheit und Pflanzenanbau sein. Beides sind Märkte, in denen die Einführung von Bakteriophagen einfacher ist als bei Humanarzneimitteln.

 

ListShield™, SalmoFresh™ und Eco­Shield™ werden von Intralytix Inc. in Baltimore hergestellt und können ­neben einer Dekontamination von Ready-to-use-Fleischprodukten auch zur Reinigung von Produktionsgeräten verwendet werden. Interessante Anwendungsgebiete könnten Hygienemaßnahmen in Krankenhäusern sein. Mit PLSV-1™ und INT-401™ hat Intralytix zudem zwei Phagenpräparationen für die orale Anwendung entwickelt, die gegen Salmonella-Arten sowie Clostridium perfringens in der Geflügelhaltung als Alternative zu Antibiotika einsetzbar sind. Auch für Aquakulturen von Fischen oder Austern ist eine Anwendung von Bakteriophagen in naher Zukunft denkbar.

 

Eine Waschsuspension mit Bakteriophagen ist BacWash™ (OmniLytics, Inc., Salt Lake City). Diese Phagensuspension wird auf Schlachttiere gesprüht, um die Anzahl der Salmonellen oder Coli-Bakterien auf den Tierhäuten zu verringern. Ein anderes interessantes Produkt von OmniLytics ist ­AgriPhage™. Der Phagencocktail schützt Tomaten- und Paprikapflanzen bei Infektionen mit Xanthomonas campestris pv vesicatoria oder Pseudomonas syringae pv tomato.

 

Hilfsmittel in der Molekularbiologie

 

Bakteriophagen werden schon seit Jahrzehnten in der Molekularbiologie als Hilfsmittel eingesetzt. Über die 1985 eingeführte Phage-Display-Technologie lassen sich auf der Phagen­oberfläche Fremdproteine exprimieren, die an bestimmte Oberflächen binden können. Über diesen Ansatz und eine Selektion auf Bindung an den humanen Tumornekrosefaktor-α wurde beispielsweise der humane Antikörper Adalimumab (Humira®) ent­wickelt. Entsprechend modifizierte Phagenpartikel könnten im mensch­lichen Körper auch dazu dienen, um nach Andocken an spezielle Zellrezeptoren Gene zur Gentherapie oder für eine Vakzinierung »abzuliefern«.

 

Literatur 

  1. Tiwari, R., et al., Bacteriophage therapy for safeguarding animal and human health: a review. Pak J Biol Sci. 17 (2014) 301-315.
  2. García, P., et al., Food biopreservation: promising strategies using bacteriocins, bacteriophages and endolysins. Trends in Food Science & Technology 21 (2010) 373e382.
  3. Ly-Chatain, M. H., The factors affecting ­effectiveness of treatment in phages therapy. Front Microbiol. 5 (2014) 51.
  4. Haq, I. U., et al., Bacteriophages and their implications on future biotechnology: a ­review. Virol J. 9 (2012) doi: 10.1186/1743-422X-9-9.

Rechtliches zur Phagen­therapie in Europa

 

Innerhalb der Europäischen Union ist nur in Polen eine Phagentherapie als »Compassionate Use« möglich. Seit 2005 besteht am Ludwik Hirszfeld Institute of Immunology and Experimental Therapy eine Abteilung für Phagentherapie, an der sich Patienten, bei denen eine Antibiotikatherapie versagt hat und die keine andere ­Heilungschance haben, nach der ­Deklaration von Helsinki einem Therapieversuch mit Phagen unterziehen ­können. Derzeit sind Infektionen mit 15 verschiedenen Bakterien behandelbar, darunter Staphylococcus, Enterococcus, Pseudomonas, Escherichia und Acinetobacter.

 

Ein Therapieversuch dauert sechs bis acht Wochen und kostet etwa 650 bis 1400 Euro (www.iitd.pan.wroc.pl/en/OTF).

 

Auch die EMA beschäftigt sich intensiv mit dem Thema: Am 8. Juni 2015 fand ein Workshop zur Phagentherapie statt, bei dem auch die Erfahrungen aus Phagoburn diskutiert wurden. Zu den großen regulatorischen Problemen gehörte die Herstellung einer größeren Menge der Phagen-Cocktails unter GMP-Bedingungen sowie die Qualitätssicherung und -kontrolle (5).

 

Diskutiert wurde auch, unter welcher Arzneimittelkategorie die Zulassung der Phagentherapeutika erfolgen kann. Zählen sie eher zu den Biologika gemäß der Commission Directive 2001/83/EC oder aber zu den »Advanced therapy medicinal products« (ATMP) nach Commission Directive 2003/63/EC? Der Vorteil einer Zulassung als ATMP wäre, dass diese eher auf der Basis des Herstellungsprozesses und weniger auf der Basis des Endprodukts erfolgt. Ähnlich wie bei den saisonalen und pandemischen Influenza-Impfstoffen wäre dann ein Austausch der verwendeten Bakteriophagen relativ einfach möglich (6).

 

Die EMA hat noch keine Guidelines für die Herstellung von Phagentherapeutika veröffentlicht. In jedem Fall muss für die Phagentherapie als solche zunächst die Wirksamkeit und Sicherheit nachgewiesen sein, bevor eine ­Zulassung erfolgen kann.

 

Diese Daten sind noch nicht im nötigen Umfang erbracht. Das liegt auch daran, dass sich die großen Pharmafirmen bisher sehr zurückhalten. Die Entwicklung ist teuer, der Einsatz bei bakteriellen Infektionen limitiert und die Wildtyp-Bakteriophagen sind nur bedingt patentierbar, sodass ein Return-of-Investment sehr fraglich ist (6).

 

Risiken einer Phagen­therapie

Während in Osteuropa und Russland eher die Vorteile einer nebenwirkungsarmen Phagentherapie gegen multiresistente Bakterien geschätzt werden, sah man bislang in Westeuropa vor allem die Risiken. Es ist nicht einfach, für eine gezielte Therapie die richtigen Bakterien-»Killer« auszusuchen. Durch deren enorme Spezifität muss ganz genau bekannt sein, welches Bakterium attackiert werden soll. Im Bedarfsfall müssen die Erreger aus Patienten zunächst kultiviert und hinsichtlich ihrer Phagen-Sensitivität getestet werden. Erst wenn ein »Phagogramm« erstellt und ausgewertet wurde, kann der richtige Phagencocktail definiert und hergestellt werden. Dadurch vergeht Zeit – eventuell zu viel Zeit für die Patienten.

 

Stehen mehrere Phagen zur Auswahl, ist die Effizienz ein weiteres Entscheidungskriterium (7):

 

  • Wie gut und schnell findet der Bakteriophage seine Wirtszelle?
  • Wie lange dauert es, bis neue Bakteriophagen gebildet sind?
  • Wie viele Phagen werden pro befallener Bakterienzelle freigesetzt?
     

Unter optimalen Bedingungen lässt sich mit einer relativ geringen Anfangsdosis ein maximaler Effekt erzielen, denn solange die fraglichen Bakterien vorhanden sind, vermehren sich die Phagen rasant und zerstören ihre Wirtszellen sehr effizient. Aber zunächst müssen die applizierten Phagen auch tatsächlich ihre Wirtszellen erreichen. In der Phagoburn-Studie werden die Phagen topisch verabreicht und haben einen recht kurzen Weg.

 

Komplizierter wird es bei Infektionen der Lunge und des Darms und vor ­allem bei inneren Organen, zum ­Beispiel einer Herzklappe. Bei einer ­intravenösen Gabe größerer Phagenmengen ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass das Immunsystem des ­Patienten reagiert und die Phagen neutralisiert, bevor sie die Bakterien attackieren.

 

In den meisten Therapieversuchen werden lytische Phagen eingesetzt. Dies kann bei einer massiven bakteriellen Infektion jedoch zu Problemen führen. Werden in zu kurzer Zeit zu viele Bakterien lysiert, kann es zu einer überschießenden Entzündungsreaktion und zu massiven unerwünschten Wirkungen kommen (1). Daher sind lysogene Phagen eventuell interessanter als ihre lytischen Verwandten. Andererseits gehen die Bakterien dabei nicht so schnell zugrunde, was den Heilungs­erfolg verzögert.

 

Bakterien können relativ schnell resistent gegen Phagen werden. Geringfügige Mutationen in ihrem Genom reichen aus, um die Erkennungsstrukturen für die Phagen zu verändern. Wie man seit wenigen Jahren weiß, haben Bakterien zudem eigene Schutzmechanismen, zum Beispiel CRISPR/Cas9, entwickelt, um nicht erneut von einer bestimmten Phagenart infiziert zu werden.

 

Neue Therapieansätze

 

Eine neue Idee ist die Kombination aus Antibiotika und Bakteriophagen. Die Phagen könnten beispielsweise einen bakteriellen Biofilm auflösen und darüber die Wirksamkeit des Antibiotikums steigern. Ein anderer Ansatz: Anstelle von Wildtyp-Phagen können genetisch veränderte Varianten eingesetzt werden, die die Bakterien langsam zerstören, ohne die abrupte Freisetzung von Toxinen aus den plötzlich lysierten Wirtszellen zu induzieren.

 

Interessante Aspekte liefert auch die genauere Analyse der Bakteriophagen. Für die Infektion der Wirtszelle und die Freisetzung der neuen Phagengeneration sind spezielle Enzyme nötig, um die Zellwand der Bakterien an- oder aufzulösen. Genau diese ­Enzyme, zu denen beispielsweise die Virion-assoziierten Peptidoglykan-Hydrolasen (VAPGH) gehören, könnten sich als therapeutisch hoch interessant erweisen.

 

Bleibt das Problem der Finanzierung der klinischen Studien. Ob sich hier die Pharmafirmen beteiligen, die sich jetzt schon aus der Suche nach neuen Antibiotika ausgeklinkt haben, darf bezweifelt werden. Es ist auf jeden Fall spannend, welche Ergebnisse die Phagoburn-Studie liefert – nicht nur medizinisch, sondern auch gesundheitspolitisch. /

 

Literatur 

  1. Wittebole, X., De Roock, S., Opal, S.M., A historical overview of bacteriophage therapy as an alternative to antibiotics for the treatment of bacterial pathogens. Virulence 5 (2014) 226-235.
  2. Drulis-Kawa, Z., Majkowska-Skrobek, G., Maciejewska, B., Bacteriophages and phage-derived proteins – application approaches. Curr Med Chem 22 (2015) 1757-1773.
  3. Chanishvili, N., Bacteriophages as Therapeutic and Prophylactic Means: Summary of the Soviet and Post Soviet Experiences. Curr Drug Deliv 13 (2016) 309-323.
  4. Taylor, J., et al., Estimating the economic costs of antimicrobial resistance Model and Results. www.rand.org/pubs/research_reports/RR911.html
  5. Gabard, J., Experience from the ongoing Phagoburn clinical trial. Präsentation beim Workshop on the therapeutic use of bacteriophages. www.ema.europa.eu
  6. Henein, A., What are the limitations on the wider therapeutic use of phage? Bacteriophage 3:2 (2013), e24872, DOI: 10.4161/bact.24872.
  7. Nilsson, A. S., Phage therapy – constraints and possibilities. Upsala J Med Sciences 119 (2014) 192-198.

Die Autoren

Theodor Dingermann studierte Pharmazie in Erlangen. Nach der Approbation 1976 folgten Promotion und 1987 Habilitation. Von 1991 bis 2013 war er Geschäftsführender Direktor des Instituts für Pharmazeutische Biologie an der Goethe-Universität Frankfurt/Main. Jetzt ist er Seniorprofessor der Universität. Dingermann war von 2000 bis 2004 Präsident der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft und arbeitete in zahlreichen wissenschaftlichen Gremien, unter anderem bei BfArM. Die Apotheker kennen ihn als Referenten, Autor und Co-Autor von wissenschaftlichen Fach- und Lehrbüchern. Seit April 2010 ist er externes Mitglied der Chefredaktion der PZ.

 

Ilse Zündorf studierte Biologie von 1984 bis 1990 an der Universität Erlangen. Nach einem Forschungsaufenthalt an der University of Kentucky, Lexington, USA, wurde sie 1995 am Institut für Pharmazeutische Biologie der Universität Frankfurt promoviert. Zunächst als Akademische Rätin, seit 2001 als Akademische Oberrätin arbeitet sie am Institut für Pharmazeutische Biologie der Goethe-Universität Frankfurt. Ihre Forschungsthemen betreffen Herstellung und Charakterisierung monoklonaler Antikörper, Herstellung und Modifikation rekombinanter Antikörperfragmente sowie die Etablierung von zellulären Testsyste­men zur Wirkstoffsuche.

 

E-Mail: Dingermann@em.uni-frankfurt.de

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