Antidepressiva gehen an die Substanz |
27.08.2007 12:19 Uhr |
Antidepressiva gehen an die Substanz
Von Hannelore Gießen
Moderne Antidepressiva wie selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer werden häufig verordnet, weil sie ebenso gut wirken wie die älteren Trizyklika, jedoch besser verträglich sind. Möglicherweise begünstigen sie jedoch eine Osteoporose.
So zeigte die Arbeit einer Forschungsgruppe von der Universität von Minnesota in Minneapolis, dass die im Beckenkamm gemessene Knochendichte von über 65-jährigen Frauen, die über mehrere Jahre einen selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) erhalten hatten, jährlich um 0,82 Prozent abgenommen hatte. Demgegenüber betrug der Verlust an Knochensubstanz bei Frauen, die nicht antidepressiv oder mit einem trizyklischen Antidepressivum behandelt worden waren, lediglich 0,47 Prozent. Dabei entsprach der Verlust an Knochenmasse unter SSRI etwa dem unter einer mehrjährigen Corticosteroid-Therapie. SSRI hemmen gezielt den Serotonin-Transporter und erhöhen so die Serotonin-Konzentration im synaptischen Spalt zwischen Nervenzellen. Trizyklische Antidepressiva blockieren nicht nur die Wiederaufnahme von Serotonin, sondern auch von anderen Neurotransmittern wie Noradrenalin und verlängern auf diesem Weg deren Wirkdauer.
Weniger Knochenmasse unter SSRI
Eine Querschnittstudie aus Kanada, die ebenfalls kürzlich in den »Archives of Internal Medicine« publiziert wurde, zeigte ein ähnliches Ergebnis bei über 65-jährigen Männern: Studienteilnehmer, die SSRI erhalten hatten, wiesen im Hüftknochen eine um 3,9 Prozent, in der Lendenwirbelsäule eine um 5,9 Prozent niedrigere Knochendichte auf als gleichaltrige Probanden, die entweder Trizyklika oder überhaupt keine Antidepressiva eingenommen hatten.
Eine frühere Arbeit aus Kanada, zu Beginn des Jahres veröffentlicht, hatte für Erwachsene unter einer SSRI-Therapie ein zweifach erhöhtes Knochenbruch-Risiko errechnet. Auch Tierversuche stützen die Hypothese eines Knochenschwund-fördernden Effektes dieser Substanzen. So wiesen Mäuse, die Fluoxetin erhalten hatten, einen verminderten Knochenmineralgehalt auf. Knockout-Mäuse, deren Serotonin-Transporter gentechnisch ausgeschaltet worden war, zeigten eine geringere Knochenmasse sowie eine veränderte Knochenarchitektur im Vergleich mit nicht gentechnisch veränderten Tieren des Wildtyps.
Diese Studienergebnisse passen zu der neueren Erkenntnis, dass Serotonin und sein Transporter nicht nur im Gehirn vorkommen, sondern auch in Osteoklasten, Osteoblasten und Osteozyten.
Brüchigere Knochen bei Depression
Allerdings erhöht auch eine schwere Depression selbst das Risiko, an einer Osteoporose zu erkranken. Dies beruht einerseits darauf, dass depressive Menschen sich oftmals schlecht ernähren und wenig bewegen. Andererseits fördert eine Depression eine vermehrte Cortisolausschüttung, die das fein austarierte Gleichgewicht zwischen Knochenauf- und -abbau zugunsten des Abbaus verschiebt. Um diesen bekannten Effekt aus der Bewertung der Studie auszuschließen, führten die Wissenschaftler aus Minnesota noch eine zweite Analyse durch, in der Probandinnen mit deutlich ausgeprägter Depression, bestimmt anhand des Geriatric Depression Scale, von der Auswertung ausgeschlossen wurden. Das Ergebnis änderte sich dadurch jedoch nicht.
In den USA nehmen 8,5 Prozent der Bevölkerung Antidepressiva ein. Mit der Entwicklung der SSRI ist die Verordnung von Antidepressiva vor allem an alte Menschen deutlich gestiegen, sodass ein den Knochenschwund fördernder Effekt der SSRI von hoher klinischer Relevanz wäre.
Die beiden kürzlich publizierten Untersuchungen legen den Verdacht nahe, dass selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer einer Osteoporose Vorschub leisten können. Allerdings beschränkt sich die Aussagekraft beider Studien auf ältere Menschen, sodass über die Befunde in anderen Bevölkerungsgruppen nichts bekannt ist. Zudem wurde nur die Knochendichte der Patienten, jedoch nicht das tatsächliche Frakturrisiko bestimmt. Mit den aktuellen Befunden liegt deshalb noch kein Beweis für ein erhöhtes Osteoporoserisiko unter SSRI vor, sondern lediglich ein Hinweis, der jetzt in weiteren, möglichst placebo-kontrollierten Studien geprüft werden muss.
Quelle: Archives of Internal Medicine 167, 1231/1232, 1240-1251 (2007)