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Citizen Science

Wenn Bürger forschen

22.08.2017  11:04 Uhr

Von Hannelore Gießen / Was hat das Zählen von Tagfaltern und Nachtigallen mit Gravitationswellen und Proteinfaltung gemeinsam? Interessierte Laien unterstützen Wissenschaftler bei Großprojekten, die sonst gar nicht möglich wären.

Sie beobachten, messen oder rechnen. Seit den Neunzigerjahren werden Projekte, bei denen Bürger Wissenschaftler unterstützen, als Citizen Science bezeichnet. Damit wird eine alte Idee wieder aufgegriffen. War es doch früher eher die Regel als die Ausnahme, dass Laien fernab der Universitäten forschten: Von Francis Bacon über Isaac Newton bis Charles Darwin suchten herausragende Persönlichkeiten außerhalb der Universitäten nach Erkenntnis.

Im 20. Jahrhundert gründeten schließlich engagierte Bürger Initiativen zu Umweltverschmutzung und Natur­schutz oder zur Lokalgeschichte. Weiter befeuert wurde die Idee der Citi­zen Science durch das Internet, soziale Netzwerke und Entwicklungen der Mikroelektronik. Je kleiner und mobiler technische Geräte wie Mikroskope werden, je schneller Karten und Luftbilder verfügbar sind, desto besser können Bürger mitforschen.

 

Nicht jeden dürfte das Stechmücken-Monitoring begeistern, auf dessen Ergebnisse sich der jährlich vorgestellte Mückenatlas stützt. Das Projekt ist ein typisches Citizen-Science-Projekt, bei dem interessierte und engagierte Bürger helfen, wissenschaftlich verwertbare Daten zu erheben. Sie sammeln und verschicken Mücken, die von Spezialisten für die wissenschaft­liche Auswertung aufgearbeitet werden. Seit seinem Start im April 2012 hat der Mückenatlas eine enorme Resonanz erfahren und spannende Resultate erbracht. Ein Ziel des laufenden Projektes ist es, die Verbreitung der einzelnen Arten zu ermitteln und Veränderungen zu dokumentieren.

 

Hübscher als Stechmücken sind zweifellos Schmetterlinge, für die sich seit 2005 das Projekt »Tagfalter-Monitoring Deutschland« interessiert. Seither gehen Naturfreaks jede Woche genau festgelegte Strecken ab und zählen alle tagaktiven Schmetterlinge. So sammeln sie Daten, die die Zahl der Falter auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene widerspiegeln.

 

Die Suche nach Aliens

 

Die meisten der bekannten Projekte entfallen zwar auf diese einfache Variante von Citizen Science, aber nicht immer beschränkt sich die Mitarbeit von Laien auf das Sammeln von Daten. Astronomie-Fans können auch an komplexeren Projekten mitarbeiten, beispielsweise der Suche nach außerirdischer Intelligenz. Gegründet wurde SETI@home von der Universität Berkeley und basiert auf einer dezentralen Analyse der Daten, die auf Tausende von Privatrechnern verteilt werden. SETI@home nutzt das Radioteleskop des auf Puerto Rico gelegenen Arecibo-Observatoriums, das mit einem zusätzlichen Empfänger ausgerüstet wurde und so Radiosignale aufzeichnet, während das Teleskop andere wissenschaftliche Beobachtungen macht. Computer auf der ganzen Welt durchforsten diese Signale nach Auffälligkeiten.

Hat sich ein interessierter Bürger mit seinem Computer angemeldet, erhält er eine Software, die immer dann die Signale untersucht, wenn der Bildschirmschoner anspringt. Das Ergebnis wird automatisch an die Universität zur Auswertung zurückgeschickt. So verteilt sich die Suche nach Signalen auf ein Netzwerk mit enormer Rechenkapazität. SETI@home stieß auf großes Interesse. Allerdings zeigt die Fahndung nach »Aliens« bisher keine Erfolge. Gleichwohl hat das Projekt einige interessante Punkte am Himmel ermittelt, die Wissenschaftler näher analysieren.

 

Seti@Home diente als Vorlage für Einstein@home, ein Projekt, das es jedem ermöglicht, am Computer, Laptop oder Smartphone nach Gravitationswellen zu suchen und damit selbst zum Entdecker zu werden. Gegründet wurde dieses Citizen-Science-Projekt 2005 am Max-Planck-Institut (MPI) für Gravitationsphysik in Hannover. Bis heute haben mehrere Hunderttausend Menschen weltweit an dem Projekt mitgemacht, wobei immer wieder welche abspringen, sodass im Durchschnitt 40 000 Hobbywissenschaftler aktiv sind. Einstein@home gehört heute zu den sechzig leistungsfähigsten Supercomputern weltweit.

 

Derzeit stützen sich rund hundert andere Projekte auf verteiltes Rechnen. Die Spanne reicht von der Wirkstoffentwicklung gegen Malaria und Molekülsimulationen von Proteinen bis hin zur Suche nach der größten bekannten Primzahl.

 

Die Faltung macht’s

 

Erst die richtige Faltung eines Eiweißes sorgt für die korrekte räumliche Struktur und die einwandfreie Funktion. Wie gravierend sich Fehler bei der Proteinfaltung auswirken können, zeigen neurolo­gische Erkrankungen, wie eine Alzheimer Demenz, die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, die Bovine Spongiforme Enzephalopathie (BSE) oder Chorea Huntington. Auch bei manchen Krebserkrankungen liegen falsch gefaltete Proteine vor.

 

Ziel des Projekts Folding@home der Universität in Stanford ist es, durch verteiltes Rechnen den räumlichen Aufbau von Proteinen zu verstehen. Erst wenn die variantenreichen Eiweißstrukturen besser erforscht sind, können daraus Behandlungsansätze, beispielsweise gegen Alzheimer Demenz, abgeleitet werden. Würde die Proteinfaltung lediglich auf den Rechnern der Universität simuliert, würde dies trotz deren hoher Rechenleistung mehrere Jahrhunderte dauern. Mit Folding@home wird die benötigte Kapazität auf viele andere Rechner verteilt und so vervielfacht. Zwar wurde bisher noch kein Wirkstoff entwickelt, der auf diese Forschung zur Proteinfaltung zurückgeht, doch immerhin 137 Publikationen stützen sich auf Folding@home.

 

Eine andere Variante der Proteinfaltung bietet das Wissenschaftsspiel »Foldit«, bei dem Laien selbst Protein-Faltungsstrukturen designen können. Wer Lust am Knobeln hat, faltet mit anderen um die Wette. Dabei geht es bei diesem Spiel darum, an dreidimensionale Formen eines Eiweißes zu tüfteln, die möglichst energiearm und stabil sind.

 

Verteiltes Rechnen

 

Die fortschreitende Digitalisierung erzeugt massenhaft Daten, die sie nicht immer vollautomatisch verarbeiten kann: Aufnahmen aus dem Weltraum beispielsweise oder von Kameras in Nationalparks. Das Internet macht es leicht, diese Daten massenhaft zu verteilen, und mithilfe von Smartphones reicht der Arm der Forschung bis in die entlegensten Regionen.

 

Um ungewöhnliche Beobachtungen zu machen, ist das menschliche Auge bisher jedoch dem besten Computer überlegen. Ein mit Algorithmen programmierter Rechner würde Signale, die von bekannten Mustern geringfügig abweichen, einfach wegfiltern, ein aufmerksamer Beobachter nicht. So füllt Citizen Science eine Lücke in einer zunehmend hoch technisierten Welt. /

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