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Nichtallergisches Angioödem

Nebenwirkung von ACE-Hemmern

22.08.2011  07:26 Uhr

Von Charlotte Both, Murat Bas, Rainer Wendland und Georg Kojda / Jedes Jahr erleiden etwa 30 000 Patienten, die ACE-Hemmer oder AT1-Blocker einnehmen, ein Angioödem. Die Schleimhäute in Hals und Rachen können dabei lebensbedrohlich anschwellen. Oft tritt die Nebenwirkung erst nach jahrelanger Einnahme auf. Darüber sollte die Apotheke aufklären, damit der Patient schon die Frühzeichen eines Angioödems erkennt.

Die Angiotensin-Converting-Enzym-Inhibitoren (ACE-I) wurden erstmals 1981 zur Behandlung der Hypertonie und Herzinsuffizienz eingesetzt. Aktuell werden weltweit schätzungsweise mehr als 40 Millionen Patienten damit behandelt (1). Diese Zahl wird in Zukunft weiter steigen – nicht zu Unrecht. Denn eine Vielzahl von groß angelegten Studien belegt sowohl den klinischen Nutzen als auch das günstige Nebenwirkungsprofil bei Herzinsuffizienz, Hypertonie, koronarer Herzkrankheit und diabetischer Nephropathie. ACE-Hemmer und die Angiotensin-Rezeptor-Typ1-Blocker (AT1-Blocker) beeinflussen das Renin-Angiotensin-System, ein zentrales System für die Blutdruckregulation.

 

Zu den klassischen Nebenwirkungen der ACE-I gehören der trockene unproduktive Husten, Hyperkaliämie und – obgleich häufig übersehen oder fehldiagnostiziert – das Angioödem. Diese Nebenwirkung ist eher selten und kann auch Jahre nach Beginn der Einnahme auftreten. Umso wichtiger ist die Beratung in der Apotheke.

 

Was ist ein Angioödem?

 

Vor annähernd 130 Jahren beschrieb Heinrich Irenäus Quincke ein akutes und klar umrissenes Ödem, das er von der Urticaria abgrenzte (2). Damit wurde der Begriff »Quincke-Ödem« gebräuchlich. Ein Angioödem zeigt sich klinisch als akute, ödematöse Schwellung der Subkutis und/oder Submukosa, die sich neben dem Gesicht praktisch ausschließlich entlang der oberen Atem-Schluckstraße – Lippen, Zunge, Zungengrund, Rachen und Kehlkopf – manifestiert (3). Eine Verlegung der Atemwege infolge eines akuten Angioödems am Zungengrund oder Kehlkopf (Larynx) ist ein Notfall, der eine intensivmedizinische Betreuung mit Beatmung und Luftröhrenschnitt (Intubation, Koniotomie, Tracheotomie) notwendig machen kann.

 

Die Ursachen eines Angioödems sind vielfältig; oft ist es eine Folge allergischer Reaktionen, genetisch bedingt oder arzneimittelinduziert. Grundsätzlich unterscheidet man zwischen allergischen, histaminergen Angioödemen und nicht allergischen, meist Bradykinin-vermittelten Angioödemen. Die exakte Diagnose und Differenzierung (7) ist Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie. Heute werden fünf Formen des nicht allergischen Angioödems, die sich in Ursache und Behandlungsmöglichkeiten unterscheiden, klassifiziert (4) (Tabelle):

 

  • das idiopathische Angioödem (IAE),
  • das pseudoallergische Angioödem (PAE),
  • das hereditäre (erbliche) Angioödem (HAE),
  • das erworbene Angioödem (AAE) und
  • das Renin-Angiotensin-Aldosteron-System-(RAAS)-Blocker-induzierte Angioödem (RAE) (2, 4).

Tabelle: Formen von nicht allergischen Angioödemen, Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten; modifiziert aus (2)

Form des Angioödems Auslöser Mediatoren Pharmakotherapie
idiopathisches Angioödem (IAE) unbekannt (chronische Urticaria) unbekannt Corticosteroide, Adrenalin inhalativ, im Notfall bei Bedarf ggf. Icatibant (off-label)
pseudoallergisches Angioödem (PAE) Arzneimittel, zum Beispiel NSAR Cysteinyl- Leuko­triene Corticosteroide, Adrenalin inhalativ
RAAS-Blocker induziertes Angioödem (RAE)* Arzneimittel: ACE-Hemmer, AT1-Blocker Bradykinin derzeit: C1-INH-Substitution, Adrenalin inhalativ, Corticosteroide Neuere Arzneistoffe: Icatibant, Ecallantide, rhC1-INH (nur bei HAE)
hereditäres Angioödem (HAE) angeboren, C1-INH-Mangel Bradykinin dito
erworbenes Angioödem (AAE) erworben, zum Beispiel Lymphome Bradykinin dito

RAAS: Renin-Angiotensin-Aldosteron-System

*) Zum Einsatz von C1-INH und rhC1-INH bei RAE sind im Gegensatz zu Icatibant (14) keine Daten verfügbar. Die Gabe von Adrenalin und Corticosteroiden beim Bradykinin-induzierten Angiödem ist allenfalls als initiale Notfallmaßnahme vertretbar.

Kurz zur Pathophysiologie: Beim Angioödem steigt die vaskuläre Permeabilität von postkapillären Venolen rasch an; in der Folge tritt Plasmaflüssigkeit in umgebende Gewebe aus und verursacht lokale Schwellungen. Eine Vielzahl von vasoaktiven Substanzen kann diesen Prozess auslösen. Beim allergischen Angioödem spielen vor allem aus Mastzellen freigesetzte Mediatoren, zum Beispiel Histamin, Bradykinin und Proteasen, eine ursächliche Rolle. Dagegen laufen die meisten Formen nicht allergischer Angioödeme (HAE, AAE, RAE) hauptsächlich Bradykinin-vermittelt ab (4).

 

Hereditär oder erworben

 

Alle drei Subtypen des HAE treten klinisch ähnlich in Erscheinung. Jedoch scheint nur bei Typ 1 (85 Prozent) und 2 ein genetischer Mangel oder eine Dysfunktion der Serinprotease C1-Esterase-Inhibitor (C1-INH) zu bestehen. Grund sind Mutationen im codierenden Gen auf Chromosom 11 (4, 7). C1-INH ist ein endogener Kallikrein-Inhibitor; fehlt er, kann Kallikrein, ebenfalls eine Serinprotease, vermehrt den Mediator Bradykinin bilden. Der Mangel an C1-INH wird autosomal vererbt. Die Inzidenz beträgt 1 : 50 000 unabhängig von Ethnie oder Geschlecht (4). Die HAE gilt daher als seltene Erkrankung (»orphan disease«). Abbildung 1A zeigt eine Manifestation am Scrotum.

Das erworbene Angioödem ist äußerst selten und tritt überwiegend bei Erwachsenen auf, typischerweise bei Patienten mit lymphoproliferativer Störung, oder autoimmun bedingt. Hier liegt ebenfalls ein Mangel an C1-INH-Inhibitor vor, jedoch nicht aufgrund einer Veränderung der Erbanlagen, sondern durch gegen C1-INH gerichtete Autoantikörper oder durch gesteigerten Verbrauch. Die Folge ist wiederum eine stark erhöhte Bradykinin-Konzentration (5, 7).

 

RAAS-Blocker-induzierte Angioödeme

 

Das häufigste nicht allergische Angioödem ist das ACE-I-induzierte Angioödem. Die Nebenwirkung ist arzneiklassenspezifisch und hängt nicht von der Dosis ab. Sie manifestiert sich praktisch ausschließlich im Kopf-Hals-Bereich. Die Gesamtinzidenz von ACE-Hemmer-induzierten Angioödemen wird mit 0,1 bis 0,7 Prozent angegeben; sie sind weitaus häufiger bei schwarzen als bei kaukasischen Patienten. In einer aktuellen Metaanalyse aller aufgetretenen Nebenwirkungen kardiovaskulärer Arzneistoffe war das Risiko, ein RAE zu entwickeln, bei dunkelhäutigen Menschen um das Dreifache erhöht (6).

 

Bei einer durchschnittlichen Angioödemrate von 0,4 Prozent und circa 7 Millionen ACE-I-Anwendern in Deutschland erkranken jedes Jahr annähernd 30 000 Patienten. Wichtig: Die Erstmanifestation kann auch nach jahrelanger Pharmakotherapie auftreten (7). Nach eigenen Untersuchungen trat das Angioödem im Durchschnitt nach drei Jahren zum ersten Mal auf (8).

 

Interessanterweise lösen auch AT1-Blocker Angioödeme aus, obwohl sie nicht direkt in den Bradykinin-Metabolismus eingreifen. Ein Vergleich der Inzidenzen von RAE in der VALIANT-Studie, die 14 703 Patienten einschloss, zeigte keinen signifikanten Unterschied zwischen Valsartan (0,2 Prozent) und Captopril (0,5 Prozent) (9). In einer neueren Studie mit hypertensiven Patienten wurden sowohl nach Losartan als auch nach Eprosartan erhöhte Bradykininspiegel gemessen (10). Es liegt daher nahe, dass auch AT1-Blocker den Bradykinin-Abbau hemmen, möglicherweise über eine Hemmung des negativen Feedback-Mechanismus am AT1-Rezeptor. Der molekulare Mechanismus ist nicht bekannt. Ein Ersatz der ACE-Hemmer durch AT1-Blocker nach einem aufgetretenen Angioödem ist daher nur in besonders begründeten Fällen sinnvoll. Die Abbildungen 1, Mitte und unten, zeigen unterschiedliche Schweregrade eines RAE.

 

Bislang gibt es keine offiziellen Empfehlungen und kein zugelassenes Arzneimittel zur Behandlung selbst schwerer Fälle von RAE.

 

Wie wirken ACE-Hemmer auf Bradykinin?

 

Die Entdeckung des Kallikrein-Kinin-Systems (Abelous und Bardier) reicht ins Jahr 1909 zurück (11). Hochmolekulares und niedermolekulares Kininogen sind Vorläuferpeptide von Bradykinin und werden durch die Serinprotease Kallikrein zu den biologisch aktiven Formen Kallidin und Bradykinin gespalten und in Körperflüssigkeiten und Gewebe abgegeben (Abbildung 2).

Bradykinin ist ein potenter lokaler Mediator von Vasodilatation und vaskulärer Permeabilität, vor allem in den postkapillären Venolen, und wirkt über die Bindung an Bradykinin-Rezeptoren vom Typ 2 (BRK-2). Typischerweise wird das kurzlebige Nonapeptid (Halbwertszeit: 7 Sekunden) von spezifischen Metalloproteasen in Gewebe und Serum abgebaut. Daran sind das Angiotensin-Converting-Enzym (ACE), die neutrale Endopeptidase (NEP), die Aminopeptidase (APP), und indirekt auch die Dipeptidylpeptidase IV (DPPIV) beteiligt.

 

Hier greifen die ACE-Hemmer ein. Sie hemmen das Angiotensin-Converting-Enzym, das identisch mit der Kininase 2 des Kallikrein-Kinin-Systems ist. Somit beeinflussen sie zwei wichtige Regulationssysteme:

 

  • die Renin-Angiotensin-Kaskade durch Blockade der Produktion von Angiotensin 2, das einer der stärksten physiologischen Vasokonstriktoren ist; die Folgen sind Vasodilatation und Blutdrucksenkung;
  • das Kallikrein-Kinin-System; hier erhöhen sie die Bradykinin-Konzentra­tion am vaskulären BRK-2. In der Folge steigen der c-GMP-Spiegel und NO-Freisetzung in den Endothelzellen an. Dies trägt zu den vasodilatierenden und permeabilitätsfördernden Effekten bei.

 

Aufgrund der funktionellen Kopplung zwischen Kallikrein-Kinin- und RAA-System könnten die kardiovaskulären Wirkungen der ACE-Hemmer auch auf ihrem Effekt auf das Kallikrein-Kinin-System beruhen. So wurden dem Bradykinin bereits kardioprotektive Effekte, unter anderem beim ventrikulären Remodeling, zugesprochen (12) und von insulinotropen Wirkungen berichtet (13).

 

Medikamentöse Notfalltherapie

 

Vorrangiges Ziel der Notfallbehandlung eines akuten Ödems der oberen Atem-Schluckstraße ist es, die Atmung zu stabilisieren. Dies geschieht durch Sauerstoffgabe, Intubation und bei Bedarf durch Tracheotomie (Luftröhrenschnitt) oder Koniotomie (Kehlkopf­ligamentschnitt).

 

Beim akuten allergischen Verlauf steht neben der Unterbrechung der Allergenzufuhr die intravenöse Gabe von Antihistaminika, zum Beispiel Clemastin 2 mg, und Glucocorticoiden, zum Beispiel Methylprednisolon 500 bis 1000 mg, und gegebenenfalls die Inhalation von Adrenalin (Beispiel Infectokrupp Inhal®) im Vordergrund. Diese Arzneistoffe sind unwirksam bei Bradykinin-vermittelten, nicht allergischen Ödemen!

Fallbeispiel: Symptomatische Therapie

Eine Seniorin unterzog sich einer Hammerzeh-Operation in 20-minütiger Larynx-Maskennarkose mit Diso­privan und Remifentanyl. Es war bekannt, dass sie an arterieller Hypertonie, Osteoporose, Anämie und enzymatischer Hepatopathie litt. Eingestellt war sie auf eine Dauermedikation mit Enabeta®.

 

Die Patientin überstand die Narkose gut, war postoperativ kreislaufstabil und schmerzfrei. Drei Stunden später klagte sie über eine geschwollene Zunge und bekam sofort Antihistaminika und Solu Decortin (750 mg). Die Ärzte verlegten sie zur Beobachtung auf die Intensivstation. Trotz intravenöser antiallergischer Therapie verschlimmerte sich die Luftnot rasch, sodass sie präventiv orotracheal intubiert und für 24 Stunden analgosediert und kontrolliert beatmet wurde. Es dauerte 24 Stunden, bis sich das massive angioneurotische Ödem zurückgebildet hatte.

 

Im Lauf des dreitägigen stationären Aufenthalts berichtete die Frau, dass sie vor etwa zwei Monaten schon einmal eine ähnliche Schwellung der Zunge erlebt habe, die sich allerdings nach drei Stunden spontan zurückgebildet habe. Die Ärzte klärten die Patientin darüber auf, dass unter chronischer ACE-Hemmer-Einnahme angioneurotische Ödeme in Verbindung mit Narkosen auftreten können. Sie wird auf Losartan anstelle von Enalapril eingestellt.

Da der Arzt in der Notfallsituation einen allergischen Auslöser oft nicht ausschließen kann, wird er versuchsweise auch antiallergisch behandeln. Diese Medikation erfolgt außerhalb der Zulassung (klassischer »Off-Label-Use«) und verlangt eine engmaschige Kontrolle von Blutdruck und Puls. Bei Unwirksamkeit der antiallergischen Therapie oder bei gesichertem nicht allergischen Angioödem könnte gegebenenfalls der Off-Label-Einsatz von Icatibant (siehe unten) erwogen werden. Icatibant ist ebenso wie C1-INH-Konzentrat derzeit nur für Patienten mit hereditären Angioödem zugelassen.

 

C1-INH-Konzentrat

 

In den USA ist C1-INH-Konzentrat erst seit Kurzem verfügbar; bisher wurden Androgenderivate (Danazol, Stanazol) oder wenig effektive Antifibrinolytika (Tranexamsäure) peroral eingesetzt.

 

In Deutschland ist Danazol außer Handel und Tranexamsäure nicht zu­gelassen. Hier stellt intravenöses C1-INH-Konzentrat aus gepooltem menschlichen Plasma (Berinert P®; 20 I. E./kg/KG) eine wirkungsvolle Therapie dar, die akute Angioödeme rasch beseitigt. Erwartungsgemäß wirkt exogenes C1-INH genauso wie natives Protein (Abbildung 2). Das Konzentrat ist zugelassen für Patienten mit hereditärem Angioödem, aber nicht für die Anfallsprophylaxe. Kürzlich erhielt das nanofiltrierte C1-INH (Cinryze®) in Deutschland die Zulassung für die Behandlung und die Prophylaxe schwerer HAE-Attacken. In den USA hat Cinryze® ebenfalls die Zulassung für die Anfallsprophylaxe erhalten.

 

Das geringe Risiko der Kontamina­tion von menschlichem Plasma mit Krankheitserregern kann durch Einsatz eines rekombinanten humanen C1-INH-Inhibitors aus der Rohmilch transgener Kaninchen weiter minimiert werden. Conestat alfa wurde kürzlich in Deutschland unter dem Namen Ruconest® zugelassen (siehe dazu Neu auf dem Markt: Asenapin, Bazedoxifen, Bilastin, Conestat alfa und..., PZ 01/2011). Nachteilig ist die Verpflichtung, dass sich der behandelnde Arzt einer Schulung und Patienten einer regelmäßigen Überprüfung auf eventuelle allergische Reaktionen gegenüber Kaninchenproteinen unterziehen müssen. Ein weiterer Nachteil ist der höhere Bedarf an C1-INH. Die Dosierungsempfehlung liegt bei 50 I. E./kg KG gegenüber 20 I. E./kg KG bei Berinert P® und Cinryze®.

 

Icatibant

 

Der selektive BRK-2 Antagonist (Abbildung 2) ist seit 2008 für die Behandlung des HAE in Deutschland zugelassen (Firazyr®). Obwohl es ein Dekapeptid mit ähnlicher Struktur wie Bradykinin ist, interagiert Icatibant nicht mit anderen Peptidrezeptoren, wie es beispielsweise Angiotensin II oder Sub­stanz P tun. Ist der Rezeptor blockiert, kann Bradykinin seine permeabilitätsfördernden und vasodilatierenden Effekte nicht mehr ausüben. Icatibant wird in einer Dosierung von 30 mg subkutan injiziert. Eine Verbesserung der Symptomatik zeigte sich im Median nach 45 Minuten. Flüchtige Erytheme an der Injektionsstelle wurden allerdings regelhaft beobachtet (7). Kürzlich wurde Icatibant auch zur Heimselbsttherapie durch die Patienten zugelassen.

 

Die Autoren dieses Titelbeitrags haben zum Einsatz bei RAE eine Fallserie publiziert, in der eine rasche Symptomverbesserung gezeigt werden konnte (14). Die Wirkung von Icatibant bei RAE wird derzeit in einer doppelblinden Studie geprüft (ClinicalTrials.gov Identifier: NCT01154361). Vor einer generellen Therapieempfehlung müssen die Ergebnisse abgewartet werden.

 

Ecallantide

 

Der rekombinante Kallikrein-Inhibitor Ecallantide (Kalbicor®) reduziert die Biosynthese von Bradykinin (Abbildung 2). Beobachtet wurde eine verlängerte aPPT-Zeit, die sich durch Hemmung von Faktor 12 (Hagemann-Faktor) und Kallikrein, beide Auslöser der Gerinnungskaskade, erklärt. Mögliche Wechselwirkungen bei gleichzeitiger Verwendung von Acetylsalicylsäure, Heparin und anderen Gerinnungshemmern sowie Hypersensitivitätsreaktionen sind daher nicht auszuschließen.

 

Beratung in der Apotheke

 

Häufigkeit und Schweregrad des RAE scheinen in den letzten Jahrzehnten zuzunehmen. Auch wenn Angioödeme, die sich unter ACE-Inhibitoren entwickeln, nicht zwangsläufig Bradykinin-induziert sind, erscheint das sofortige Absetzen des RAAS-Blockers – sowohl von ACE-Inhibitoren als auch AT1-Blockern – insbesondere bei wiederholten Anfällen zwingend erforderlich.

 

Dies bestätigt eine im JAMA veröffentlichte Studie, die einen zehnfachen Anstieg der Rezidive bei weiterführender ACE-Inhibitor-Gabe im Vergleich zur Unterbrechung der Behandlung zeigte (15).Unter Umständen dauert es jedoch Jahre, bis der Arzneimittelbezug erkannt wird. Dies mag daran liegen, dass die Symptome des RAE innerhalb eines Tages bis zu acht Jahren nach Therapiebeginn auftreten können (4).

Fallbeispiel: Stationäre Behandlung mit Icatibant

Eine 53-jährige Frau stellte sich in der Notaufnahme der HNO-Klinik des Klinikums rechts der Isar der Technischen Universität München mit progredienter Schwellung der Gesichtsweichteile und Zunge sowie Schluckbeschwerden vor. Die Schwellung des Gesichts hatte sich innerhalb von drei Stunden entwickelt und sei zum ersten Mal aufgetreten. Eine allergische Vorerkrankung war nicht bekannt, die Familienanamnese unauffällig.

 

Aufgrund einer arteriellen Hypertonie nahm die Patientin seit vier Jahren einen ACE-Hemmer (5 mg Enalapril einmal täglich) ein. Bei der HNO-ärztlichen und endoskopischen Untersuchung zeigte sich neben der merklichen Weichteilschwellung des Gesichts ein deutliches Angioödem des Zungenkörpers mit Vorwölbung des Zungengrunds in den Rachen hinein. Die Stimme klang etwas kloßig. Die ödematöse Schwellung der Zunge betraf vor allem die tieferen Schleimhautschichten. Auch das Gesichtsödem reichte bis in tiefere Schichten. Die Patientin hatte weder Fieber oder Schmerzen noch Quaddelbildung, Hautrötungen oder Juckreiz.

 

Sie wurde aufgrund des Zungenangioödems stationär unter Monitoring der Sauerstoffsättigung aufgenommen. Wegen des Verdachts auf ein ACE-Blocker-induziertes Angioödem erhielt sie einmalig den Bradykinin-Rezeptorantagonisten Icatibant (Firazyr®). Nach etwa einer Stunde berichtete sie über ein Nachlassen des Druckgefühls im Rachen. Eine erneute HNO-Untersuchung zeigte ein deutliches Abschwellen des Angioödems. Die Stimme normalisierte sich. Nach etwa sechs Stunden war die Patientin beschwerdefrei. Die erneute HNO-ärztliche Untersuchung am nächsten Morgen zeigte keine Auffälligkeiten. Am zweiten Tag normalisierten sich auch die leicht erhöhten Leukozytenwerte. Wir setzten den ACE-Hemmer ab und leiteten eine Behandlung mit dem Calciumkanalblocker Amlodipin ein.

Dass die Erkrankung oft nicht erkannt wird, ist insofern erstaunlich, da entsprechende Warnhinweise in den Fachinformationen der ACE-Inhibitoren stehen und anamnestisch bekannte ACE-I-induzierte Angioödeme als Kon­traindikation gelten. Ein Warnhinweis in den Fachinformationen der AT1-Blocker wäre wünschenswert. Nur in der Fachinformation von Lorzaar® steht ein Hinweis, dass bei einigen Patienten mit Angioödem bereits über frühere angioneurotische Ereignisse infolge ACE-I-Gabe berichtet wurde und Patienten unter AT1-Blockertherapie daher engmaschig überwacht werden sollten.

 

Angioödeme durch ACE-Hemmer und AT1-Blocker mit Schwellungen im Kopf-Hals-Bereich können unter Umständen zu lebensgefährlichen Situa­tionen eskalieren. Daher sollte das Apothekenteam den Patienten auch bei jeder leichten Schwellung (»dicke Lippe«) im Kopf-Hals-Bereich nach der Einnahme von ACE-Hemmern und AT1-Blockern fragen und ihn auf die Möglichkeit einer Arzneimittelnebenwirkung hinweisen. Auch wenn der Patient nur geringe Beschwerden hat, sollte er seinen Arzt aufsuchen und über die »unerklärlichen« Schwellungen berichten. Apotheker und Ärzte sollten jedes RAE dem BfArM melden. /

 

Literatur

  1. Sanchez-Borges, M., Gonzales-Aveledo, L. A., Angiotensin-Converting Enyme Inhibitors and Angioedema. Allergy Asthma Immunol Res 2 (2010) 195-198.
  2. Bas, M., Kojda, G., Das nicht allergische Angioödem – Alte und neue Arzneimittel als Auslöser und Therapeutika. Fortbildungstelegramm Pharmazie 2 (2008) 85-100.
  3. Bas, M., Hoffmann, T. K., Kojda, G., Evaluation and management of angioedema of the head and neck. Curr Opin Otolaryngol Head Neck Surg 14 (2006) 170-175.
  4. Bas, M., et al., Nonallergic angioedema: role of bradykinin. Allergy 62 (2007) 842-856.
  5. Markovic, S. N., et al., Acquired C1 esterase inhibitor deficiency. Ann Intern Med 132 (2000) 144-150.
  6. McDowell, S. E., Colemann, J. J., Ferner, R. E., Systematic review and meta-analysis of ethnic differences in risks of adverse reactions to drugs used in cardiovascular medicine. BMJ 332 (2006) 1177-1181.
  7. Bas, M., et al., Notfallsituation akutes Angioödem. Dtsch Med Wschr 135 (2010) 1027-1031.
  8. Bas, M., et al., ACE inhibitor-induced angio­edema in the head and neck region. A matter of time? HNO 52 (2004) 886-890.
  9. Pfeffer, M. A., et al., Valsartan, captopril, or both in mycocardial infarction complicated by heart failure, left ventricular dysfunction, or both. N Engl J Med 349 (2003) 1893-1906.
  10. Campbell, D. J., Krum, H., Esler, M. D., Losartan increases bradykinin levels in hypertensive humans. Circulation 111 (2005) 315-320.
  11. Abelous, J. E., Bardier, E., Les substances hypotensives de lurine humaine normale. CR Soc Biol 66 (1909) 511-520.
  12. Giannella, E., Mochmann, H. C., Levi, R., Ischemic preconditioning prevents the impairment of hypoxic coronary vasodilatation caused by ischemia/reperfusion role of adenosine A1/A3 and bradykinin B2 receptor activation. Circ Res 81 (1987) 415-422.
  13. Yang, C., Hsu, W. H., Glucose-dependency of bradykinin-induced insulin secretion from the perfused rat pancreas. Regul Pept 71 (1997) 23-28.
  14. Bas, M., et al., Therapeutic efficacy of icatibant in angioedema induced by angiotensin-converting-enzyme inhibitors: a case series. Ann Emerg Med 56 (2010) 278-282.
  15. Brown, N, Snowden, M, Griffin M. R., Recurrent angiotensin-converting-enzyme inhibitor-associated angioedema. JAMA 278 (1997) 232-233.

Die Autoren

Charlotte Both studierte Pharmazie von 2003 bis 2008 in Bonn. Ihr Praktisches Jahr absolvierte sie im Institut für Pharmakologie in Bonn und in der Potsdamer-Platz-Apotheke in Berlin. Im Oktober 2009 erhielt die Diplom-Pharmazeutin die Approbation zur Apothekerin. Seit 2010 promoviert sie unter der Leitung von Professor Dr. Georg Kojda im Institut für Pharmakologie und Klinische Pharmakologie in Düsseldorf. Den Schwerpunkt ihrer Doktorarbeit bilden Untersuchungen zum Einfluss körperlichen Trainings auf den Erhalt kognitiver Funktionen.

 

Murat Bas studierte Humanmedizin an der Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf, und wurde Ende 2002 promoviert. Nach seiner Tätigkeit als Assistenzarzt an der HNO-Klinik des Universitätsklinikums Düsseldorf erhielt er 2007 die Anerkennung als Facharzt für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde. Von 2007 bis 2009 arbeitete er als Facharzt, seit Oktober 2009 als Oberarzt an der HNO-Klinik des Klinikums rechts der Isar der TU München. Dr. Bas erwarb die Zusatzbezeichnung Allergologie und habilitierte sich im November 2010 an der Technischen Universität München zum Thema »Pathophysiologie von Bradykinin-induzierten Angioödemen«.

 

Rainer Wendland studierte Humanmedizin an der Universität Düsseldorf. Nach Approbation und Promotion absolvierte er die Weiterbildung zum Arzt für Anästhesie an der Medizinischen Hochschule Hannover und erhielt 1984 die Anerkennung als Arzt für Anästhesiologie. Seit 1987 arbeitete Dr. Wendland als Chefarzt der Abteilung für Anästhesie, operative Intensivmedizin und Schmerztherapie am St. Josef-Hospital in Gelsenkirchen, dem er von 1998 bis 2003 als Ärztlicher Direktor vorstand. 1989 erwarb er die Qualifika­tionen zur Leitung eines Blutdepots und als Leitender Notarzt. Seit September 2004 ist Dr. Wendland als Chefarzt des Instituts für Anästhesie der Katholischen Kliniken Emscher Lippe tätig.

 

Georg Kojda studierte Pharmazie in Bonn und Medizin in Köln und wurde 1990 im Fachgebiet Pharmakologie promoviert. 1997 folgten Habilitation und Venia Legendi sowie die Anerkennung zum Fachpharmakologen und zum Fachapotheker für Arzneimittelinformation. 1996 und 1998 verbrachte Kojda Forschungsaufenthalte an der Cardiology Division, Emory University, Atlanta (USA). Seit 2003 ist er Professor an der Medizinischen Fakultät des Universitätsklinikums Düsseldorf, seit 2005 Fortbildungsbeauftragter des Apothekerverbands Köln und der Apothekerkammer Nordrhein und seit 2007 Herausgeber des Fortbildungstelegramms Pharmazie.

 

Korrespondenzautor: Professor Dr. Georg Kojda, Institut für Pharmakologie und Klinische Pharmakologie, Universitätsklinikum, Heinrich-Heine-Universität, Moorenstraße 5, 40225 Düsseldorf E-Mail: kojda(at)uni-duesseldorf.de

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