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Quartett der Neuen

04.08.2015  13:46 Uhr

Von Brigitte M. Gensthaler, Kerstin A. Gräfe, Annette Mende und Sven Siebenand / Cangrelor, Ceritinib, Lenvatinib und Nivolumab heißen die neuen Arzneistoffe des Monats Juli. Sie erweitern die Therapieoptionen zur Plättchenaggregationshemmung, bei Lungen- und Schilddrüsenkrebs sowie bei malignem Melanom.

Plättchenhemmstoffe lassen sich in drei Gruppen einteilen: GPIIb/IIIa- Inhibitoren wie Abciximab, Tirofiban und Eptifibatid, den COX-1-Hemmer Acetylsalicylsäure (ASS) und Hemmstoffe des ADP-Rezeptors P2Y12 wie Prasugrel, Clopidogrel, Ticlopidin und Ticagrelor.

Während die ersten drei Substanzen der zuletzt genannten Klasse die ADP-vermittelte Aktivierung der Thrombozyten durch irreversible Blockade des Rezeptors P2Y12 blockieren, ist Tica­grelor ein reversibler P2Y12-Hemmer.

 

Das ist bei Cangrelor (Kengrexal® 50 mg Pulver für ein Konzentrat zur Herstellung einer Injektions- beziehungsweise Infusionslösung, The Medicines Company) ebenso der Fall. Cangrelor bindet selektiv und rever­sibel an den P2Y12-Rezeptor, um eine weitere Signalgebung und Plättchenaktivierung zu verhindern. Seit Mitte Juli ist das Präparat, das ausschließlich für den intravenösen Einsatz im Krankenhaus vorgesehen ist, auf dem deutschen Markt verfügbar.

 

Cangrelor


Cangrelor, in Kombination mit ASS verabreicht, ist indiziert zur Senkung von thrombotischen kardiovaskulären Ereignissen bei erwachsenen Patienten mit koronarer Herzkrankheit, die sich einer perkutanen Koronarintervention (PCI) unterziehen und vor Einleitung der PCI keine oralen P2Y12-Hemmer erhielten und bei denen eine orale Therapie mit P2Y12-Hemmern nicht möglich oder wünschenswert ist.

Die Behandlung wird mit einer intra­venösen Injektion in einer Dosis von 30 µg pro Kilogramm Körpergewicht eingeleitet, die innerhalb von maximal einer Minute abgeschlossen sein sollte und an die sich im Minutenabstand weitere Infusionen von jeweils 4 µg/kg Körpergewicht unmittelbar anschließen. Diese Behandlungsabfolge sollte vor der PCI erfolgen und mindestens zwei Stunden lang oder für die Dauer der PCI fortgesetzt werden, je nachdem, welcher Zeitraum länger ist. Die Infusion kann nach Ermessen des Arztes für eine Zeitdauer von insgesamt vier Stunden fortgesetzt werden. Cangrelor hat eine Halbwertszeit von drei bis sechs Minuten. Die Funk­tion der Thrombozyten ist innerhalb von 60 Minuten nach Infusionsstopp wiederhergestellt. Nach Abschluss der Infusion sollten die Patienten daher auf eine orale Dauertherapie mit Clopido­grel, Ticagrelor oder Prasugrel umgestellt werden. 

Zur Einstellung sollte die Anfangsdosis des oralen P2Y12- Hemmers unmittelbar nach Absetzen der Cangrelor-Infusion verabreicht werden. Alternativ dazu kann eine Anfangsdosis von Ticagrelor oder Prasu­grel, jedoch nicht von Clopido­grel, 30 Minuten vor Ende der Infusion verabreicht werden.

 

Kontraindiziert ist Cangrelor bei Patienten mit aktiven Blutungen oder einem erhöhten Blutungsrisiko aufgrund von beeinträchtigter Hämostase und/oder irreversiblen Koagulationsstörungen oder kürzlich erfolgten großen chirurgischen Eingriffen/Traumata oder unkontrollierter schwer einstellbarer Hypertonie. Ebenso ist der neue Wirkstoff tabu bei Schlaganfall oder trans­ienter ischämischer Attacke in der Anamnese. Bei Patienten mit Erkrankungen, die mit einem erhöhten Blutungsrisiko einhergehen, ist Cangrelor mit Vorsicht anzuwenden. Das gilt auch, wenn Arzneimittel zum Einsatz kommen, die zu einem erhöhten Blutungsrisiko führen können.

 

Erhöhtes Blutungsrisiko

 

Den klinischen Wirksamkeitsnachweis von Cangrelor lieferte eine randomisierte, doppelblinde Studie über den Vergleich von Cangrelor mit Clopido­grel, verabreicht in Kombination mit ASS und anderen Standardtherapien, unter anderem unfraktioniertem Heparin. Darin reduzierte Cangrelor verglichen mit Clopidogrel nach 48 Stunden den primären kombinierten Endpunkt, bestehend aus Gesamt­sterblichkeit, Myokardinfarkt, ischämie­bedingter Revaskularisation und Stentthrombose, signifikant. Im Vergleich zu 5,9 Prozent (322 von 5469 Patienten) im Clopidogrel-Arm hatten nur 4,7 Prozent (257 von 5470 Patienten) der Patienten unter Cangrelor eines der genannten Ereignisse oder verstarben. Die absolute Risikoreduktion betrug somit 1,2 Prozent, die relative 22 Prozent.

 

Sehr häufige Nebenwirkungen unter Cangrelor sind leichte und mäßige Blutungen sowie Dyspnoe. Zu den schwerwiegenden Nebenwirkungen zählen ernsthafte und lebensbedroh­liche Blutungen sowie allergische Reaktionen. Hinsichtlich des Sicherheitsprofils von Cangrelor stellte der Ausschuss für Humanarzneimittel der Europä­ischen Arzneimittelagentur fest, dass die Inzidenz von Blutungen bei Cangrelor zwar höher war als bei Clopidogrel, dies aber in Anbetracht der besseren Wirksamkeit von Cangrelor zu erwarten war und durch die Tatsache, dass die Aktivität des neuen Wirkstoffs nach Ende der Infusion rasch abklingt, ausgeglichen werde.

 

Bei Schwangeren sollte Cangrelor nicht zum Einsatz kommen, bei der Anwendung in der Stillzeit kann ein Risiko für das gestillte Kind nicht ausgeschlossen werden.

 

--> Vorläufige Bewertung: Schrittinnovation

 


Ceritinib


Seit Juli ist mit Ceritinib (Zykadia® 140 mg Hartkapseln, Novartis) eine neue Therapieoption für Patienten mit einer seltenen Form von Lungenkrebs auf dem Markt. Der neue Wirkstoff darf zur Behandlung von erwachsenen Patienten mit fortgeschrittenem, ALK-positivem, nicht kleinzelligem Bronchialkarzinom (NSCLC) eingesetzt werden, wenn der Tyrosinkinase- Hemmer Crizotinib (Xalkori®) keine Wirkung (mehr) erzielt.

Ceritinib ist wie Crizotinib ein Tyrosin­kinase-Inhibitor. Beide Wirkstoffe hemmen das Enzym anaplastische Lymphom-Kinase (ALK). Diese Tyrosinkinase ist bei den betroffenen Lungenkrebspatienten überaktiv und sorgt für Wachstum und Vermehrung bestimmter Tumoren wie NSCLC. Etwa 2 bis 7 Prozent der nicht kleinzelligen Bronchialkarzinome sind aufgrund einer Mutation ALK-positiv, das heißt, sie zeigen eine verstärkte Aktivität dieses Enzyms. In vitro zeigte Ceritinib im Vergleich zu Crizotinib eine 20-fach stärkere ALK-Inhibition. Zudem scheinen Hirnmetastasen, die beim ALK- positiven NSCLC im fortgeschrittenen Stadium häufig sind, nicht ausreichend auf eine Crizotinib-Behandlung anzusprechen.

 

Vor Therapiebeginn muss zwingend der ALK-positive Status nachgewiesen werden. Die empfohlene Ceritinib- Dosis beträgt 750 mg einmal täglich. Sie sollte immer zur selben Zeit und auf nüchternen Magen eingenommen werden. Tipp für die Beratung: Der Patient sollte zwei Stunden vor und nach der Einnahme nichts essen. Hintergrund ist, dass die Bioverfügbarkeit von Ceritinib in Abhängigkeit vom Fettgehalt der Mahlzeit zunimmt. Des Weiteren sollte der Patient darauf hingewiesen werden, Grapefruits und Grapefruitsaft zu meiden. Auch hier kann infolge der Hemmung von CYP3A4 in der Darmwand die Bioverfügbarkeit von Ceritinib erhöht werden. Zudem sollte der Patient darüber informiert werden, dass unter der Therapie Müdigkeit und Sehstörungen auftreten können und insofern beim Autofahren oder beim Bedienen von Maschinen Vorsicht geboten ist. Frauen sollten darauf hingewiesen werden, dass die Wirksamkeit von oralen Kontra­zeptiva eingeschränkt sein kann.

 

Hat der Patient die Einnahme vergessen, sollte er sie nur nachholen, wenn die nächste Dosis nicht innerhalb der nächsten zwölf Stunden fällig ist. In den klinischen Studien benötigte etwa die Hälfte der Patienten aufgrund von Nebenwirkungen eine Dosisanpassung. Diese sollte in Schritten von jeweils 150 mg täglich erfolgen. Bei Patienten, die 300 mg täglich nicht tolerieren, ist die Therapie dauerhaft abzusetzen. Ansonsten wird die Behandlung solange fortgesetzt, bis sich kein klinischer Nutzen mehr einstellt.

 

Leberfunktion beobachten

 

Keine Dosisanpassung ist erforderlich bei Patienten, deren Nierenfunktion leicht bis mäßig eingeschränkt ist. Gleiches gilt für Patienten mit leichter Leberfunktionsstörung. Nicht empfohlen wird der neue Arzneistoff jedoch bei starker Nierenfunktionsstörung und bei mäßig bis stark eingeschränkter Leberfunktion. Letzteres ist der Tatsache geschuldet, dass bei etwa einem Viertel der Patienten unter der Behandlung ein Anstieg der Transaminasen auf Grad 3 oder 4 beobachtet wurde. Die Mehrzahl der Fälle war durch ein Unterbrechen oder eine Dosisreduktion handhabbar. Zur Überwachung sollten vor Behandlungsbeginn sowie alle zwei Wochen im ersten Monat und danach monatlich Leberfunktionstests durchgeführt werden. Wird ein Anstieg der Transaminasen festgestellt, sollte das Intervall verkürzt werden. Zudem sollten die Patienten auf Anzeichen einer Pneumonitis überwacht werden, da in den Studien Fälle von schwerer, lebensbedrohlicher oder teils tödlich verlaufender interstitieller Lungen­erkrankung auftraten.

 

Bei mit Ceritinib behandelten Pa­tienten wurde eine Verlängerung des QTc-Intervalls beobachtet. Daher wird der neue Arzneistoff nicht empfohlen für Patienten mit einem angeborenen Long-QT-Syndrom oder bei denjenigen, die Arzneimittel einnehmen, die das QT-Intervall verlängern. Besondere Sorgfalt ist geboten, wenn Ceritinib Patienten gegeben wird, bei denen ein erhöhtes Risiko für Torsade de Pointes während der Behandlung mit einem das QTc-Intervall verlängernden Arzneimittel besteht.

 

Bei knapp 2 Prozent der Patienten wurden asymptomatische Bradykardien (weniger als 60 Schläge pro Minute) beobachtet. Herzfrequenz und Blutdruck sind daher regelmäßig zu kontrollieren. Je nach Schwere der Brady­kardie, muss die Medikation unterbrochen oder abgesetzt werden. Die gleichzeitige Anwendung mit Arzneimitteln, die Bradykardien verursachen, ist zu vermeiden. Dazu zählen zum Beispiel Betablocker, manche Calciumantagonisten, Clonidin und Digoxin.

 

Da unter der Therapie Hyperglyk­ämien beobachtet wurden, muss vor Behandlungsbeginn der Nüchternblutzucker kontrolliert werden. Ein erhöhtes Risiko wurde für Diabetiker und/oder bei gleichzeitiger Anwendung mit Stero­iden ermittelt. Gegebenenfalls muss eine antihyperglykämische Medikation eingeleitet werden und eine regel­mäßige Kontrolle der Werte stattfinden.

 

Diarrhö und Übelkeit sind sehr häufig

 

Sehr häufig traten in den Studien Diarrhö, Übelkeit und Erbrechen auf. Rund 12 Prozent der Patienten waren davon mit dem Schweregrad 3 bis 4 betroffen. Sie sollten überwacht und mit Antidiarrhoika, Antiemetika oder Flüssigkeitsersatz behandelt werden.

Unter Ceritinib gibt es zahlreiche Wechselwirkungen zu beachten. Die gleichzeitige Einnahme mit starken CYP3A4-Inhibitoren sollte vermieden werden. Lässt sich dies nicht realisieren, ist die Dosis um etwa ein Drittel zu reduzieren. Dabei ist auf das nächste Vielfache einer Dosis von 150 mg zu runden. Nach Absetzen des starken CYP3A4-Inhibitors ist wieder die ursprüngliche Ceritinib-Dosis einzunehmen. Ceritinib ist ein Substrat des Effluxtransporters P-Glyko­protein (P-GP). 

Daher ist bei der gleichzeitigen Anwendung mit P-GP-Inhibitoren Vorsicht geboten, da infolgedessen die Ceritinib-Konzentration steigt. Die gleichzeitige Anwendung mit starken CYP3A4-Induktoren führt zu einer Senkung der Ceritinib-Plasmakonzentration und sollte daher vermieden werden. Vorsicht ist geboten bei der gleichzeitigen Einnahme mit P-GP- Induktoren. Magensäureblocker können die Löslichkeit von Ceritinib beeinflussen und seine Bioverfügbarkeit reduzieren, da Ceritinib mit steigendem pH-Wert schlechter löslich ist.

 

Die gleichzeitige Anwendung von Ceritinib mit Substraten von CYP3A und von CYP2C9 mit enger therapeutischer Breite sollte vermieden werden. In-vitro-Daten zufolge hemmt Ceritinib in klinisch relevanten Konzentrationen auch CYP2A6 und CYP2E1. Bei gleichzeitiger Anwendung von Ceritinib mit Substraten dieser Enzyme ist Vorsicht geboten; die Patienten sind sorgfältig auf Nebenwirkungen zu überwachen.

 

In-vitro-Daten deuten darauf hin, dass Ceritinib in klinisch relevanten Konzentrationen das intestinale P-GP und BCRP hemmt. Deshalb kann Ceri-tinib die Plasmakonzentrationen von gleichzeitig gegebenen Arzneimitteln, die durch diese Proteine transportiert werden, erhöhen.

 

Frauen im gebärfähigen Alter sollten während der Behandlung und bis zu drei Monate danach eine zuverlässige Verhütungsmethode anwenden. Ceritinib darf während der Schwangerschaft nicht angewendet werden, es sei denn, dass der klinische Zustand der Frau eine Therapie erforderlich macht. Es ist nicht bekannt, ob Ceritinib oder seine Metaboliten in die Muttermilch übergehen. Daher ist darüber zu entscheiden, ob das Stillen oder die Behandlung zu unterbrechen sind.

Die Zulassung basiert auf den offenen, einarmigen Studien ASCEND-1 und ASCEND-2. Vergleichbare Wirksamkeitsdaten randomisierter, klinischer Studien sind nicht verfügbar. Primärer Endpunkt beider Studien war die Gesamtansprechrate, definiert als komplettes Ansprechen oder partielles Ansprechen bei Patienten, die mit 750 mg Ceritinib behandelt worden waren. Weitere Endpunkte umfassten die Dauer des Ansprechens, das progressionsfreie Überleben sowie das Gesamtüberleben.

 

ASCEND-1 ist eine Phase-I-Studie, in der unter anderem eine Dosiseskalations- und Extensionsphase bis zur empfohlenen Dosierung von 750 mg untersucht wurde. Die Studie umfasste insgesamt 246 ALK-positive NSCLC-Patienten. 163 hatten vorher eine Behandlung mit einem ALK-Inhibitor erhalten, bei 83 Patienten war das nicht der Fall. Mit der Ceritinib-Behandlung konnte bei 56,4 Prozent der Crizotinib-vorbehandelten Patienten eine erneute Remission erzielt werden. Die Ansprechdauer betrug 8,3 Monate, das progressionsfreie Überleben 6,9 Monate.

 

Auch Hirnmetastasen sprechen an

 

An der Phase-II-Studie ASCEND-2 nahmen 140 Patienten mit lokal fortgeschrittenem oder metastasiertem ALK-positivem NSCLC teil, die zuvor ein bis drei Zyklen Chemotherapie erhalten hatten, gefolgt von einer Behandlung mit Crizotinib, unter der es dann zu einem Fortschreiten der Erkrankung gekommen war. Unter Ceritinib erreichten 37,1 Patienten eine Remission. Die Ansprechdauer betrug 9,2 Monate, das progressionsfreie Überleben 5,7 Monate.

 

In den ASCEND-1- und ASCEND-2- Studien wiesen 60,1 beziehungsweise 71,4 Prozent der Patienten bereits zu Behandlungsbeginn Metastasen im Gehirn auf. Auch diese Patienten sprachen auf die Behandlung an; die Daten zur Wirksamkeit waren mit denen der gesamten Studienpopulation vergleichbar.

 

Die häufigsten unerwünschten Wirkungen (≥ 10 Prozent) waren Durchfall, Übelkeit, Erbrechen, chronische Müdigkeit (Fatigue), pathologische Leberwerte, Bauchschmerzen, verminderter Appetit, Obstipation, Hautausschlag, pathologische Nierenwerte, Sodbrennen und Anämie. Unerwünschte Wirkungen vom Schweregrad 3 bis 4 (bei mehr als 5 Prozent) waren patholo­gische Leberwerte, Fatigue, Durchfall, Übelkeit und Hyperglykämie.

 

--> Vorläufige Bewertung: Schrittinnovation

 


Lenvatinib

 

Der Multikinasehemmer Lenvatinib (Lenvima® 4 mg und 10 mg Hartkapseln, Eisai) erweitert seit Juli das Therapiespektrum bei Schilddrüsenkrebs. Er darf bei erwachsenen Patienten mit progressiver, lokal fortgeschrittener oder metastasierter differenzierter Erkrankung eingesetzt werden, die auf eine Radioiodtherapie nicht angesprochen haben. 

Lenvatinib hemmt selektiv die Kinaseaktivitäten der Rezeptoren des vaskulären Endothelwachstumsfaktors VEGFR 1 bis 3, des Fibroblasten-Wachstumsfaktors FGFR 1 bis 4 sowie des Blutplättchen-Wachstumsfaktors PDGFRα, KIT und RET.

 

Die empfohlene Dosis von 24 mg soll einmal täglich jeweils zur gleichen Tageszeit mit einer Mahlzeit oder unabhängig davon eingenommen werden. Die Kapseln sollen unzerkaut und mit etwas Wasser geschluckt werden. Pflegekräfte sollten die Kapseln nicht öffnen, um den Kontakt mit dem Kapsel­inhalt zu vermeiden. Hat der Patient eine Dosis vergessen, soll diese innerhalb von zwölf Stunden nachgeholt werden, danach ist bis zum nächsten regulären Einnahmezeitpunkt zu warten und die vergessene Dosis auszulassen. Die Behandlung mit Lenvatinib soll so lange fort­gesetzt werden, wie ein klinischer Nutzen zu beobachten ist oder bis eine nicht akzeptable Toxizität auftritt.

 

Dosis anpassen bei Unverträglichkeit


Unter anderem ältere Patienten ab 75 Jahren, Patienten mit asia­tischer Abstammung oder Patienten mit einem Körpergewicht unter 60 kg scheinen Lenvatinib schlechter zu vertragen als andere. Dennoch sollen auch sie anfangs 24 mg täglich erhalten. Bei Unverträglichkeit ist die Dosis dann anzupassen. Leichte bis mittelschwere Leber- oder Nierenfunktionsstörungen sind kein Grund, die Anfangs­dosis zu senken. Bei schwerer Ausprägung soll die Therapie mit 14 mg täglich begonnen werden; eine terminale Niereninsuffizienz ist eine Kontra­indikation für Lenvatinib.

Der neue Arzneistoff kann – in der Regel innerhalb einiger Wochen – Bluthochdruck auslösen. Der Grund dafür ist vermutlich die Hemmung von VEGFR 2 in den Endothelzellen der Blutgefäße. Daher sollte der Blutdruck von Patienten mit bekannter Hypertonie vor dem Therapiestart gut eingestellt sein. Bei allen Patienten ist der Blutdruck nach der ersten Behandlungs­woche, anschließend in den ersten zwei Monaten alle zwei Wochen und dann monatlich zu kontrollieren. Steigt er auf Werte ab 140 mmHg systolisch oder ab 90 mmHg diastolisch, soll eine antihypertensive Therapie begonnen und die Einnahme von Lenvatinib dabei fortgesetzt werden. 

Weiter steigende Blutdruckwerte können eine Intensivierung der antihypertensiven Therapie, ein vorübergehendes Absetzen und eine Dosisreduktion von Lenva- tinib erforderlich machen. Dies kann auch aufgrund anderer möglicher Nebenwirkungen notwendig werden: Proteinurie, Nierenfunk­tionsstörung, Herzinsuffizienz, Blutungen, gastrointestinale Perforationen oder Fisteln sowie das posteriore reversible Enzephalopathiesyndrom (PRES). Dabei handelt es sich um eine neuro­logische Störung, die mit Kopfschmerzen, Krampfanfällen, Verwirrtheit, Lethargie und Sehstörungen bis hin zur Blindheit einhergehen kann. Aufgrund der potenziellen Hepatotoxizität müssen die Leberfunktionswerte vor dem Start einer Therapie mit Lenvatinib, in den ersten zwei Monaten in 14-tägigem Abstand und danach monatlich kontrolliert werden. Bei auffälligen Werten ist die Behandlung zu unterbrechen, abzusetzen beziehungsweise in ihrer Dosis zu reduzieren.

 

Erhöhtes Thromboserisiko

 

Aufgrund der möglichen Gefahr von arteriellen Thromboembolien wie Herzinfarkt oder Schlaganfall sollte Lenvatinib bei Patienten, die innerhalb der vergangenen sechs Monate ein solches Ereignis erlitten haben, mit Vorsicht angewendet werden. Zudem sollten bei allen Patienten regelmäßige EKG-Kontrollen erfolgen und die Elektrolytwerte überwacht werden, da eine Verlängerung der QT-Zeit unter Lenvatinib in Studien häufiger vorkam als unter Placebo. Lenvatinib stört die exogene Schilddrüsensuppression. Bei Patienten unter Schilddrüsenhormontherapie muss daher der TSH-Spiegel regelmäßig kontrolliert und die Hormondosis angepasst werden. Um mögliche additive Toxizitäten zu vermeiden, sollte zwischen dem Ende einer vorangegangenen Therapie mit Sorafenib oder anderen Krebsmitteln und dem Beginn der Lenvatinib-Einnahme eine Auswaschphase von mindestens vier Wochen liegen.

 

Ausschlaggebend für die Zulassung war die randomisierte, doppelblinde, placebokontrollierte SELECT-Studie mit 392 Teilnehmern. Darin verlängerte Lenvatinib das mediane progressionsfreie Überleben signifikant von 3,6 auf 18,3 Monate. Sekundäre Endpunkte waren die Gesamtansprechrate und das Gesamtüberleben. Die Analyse von Letzterem wurde durch die Tatsache verfälscht, dass Patienten aus dem Placebo-Arm bei Fortschreiten der Erkrankung auf Wunsch mit Lenvatinib weiterbehandelt werden konnten. Das mediane Gesamtüberleben ist noch nicht erreicht. Die objektive Ansprechrate war mit 4 versus 0 kompletten Remissionen und 165 versus 2 partiellen Remissionen (63,2 Prozent versus 1,5 Prozent) unter Lenvatinib signifikant höher als unter Placebo.

 

Kaum Interaktionen über CYP3A4

 

Neben den oben beschriebenen Nebenwirkungen kam es in Studien sehr häufig, also bei mindestens einem von zehn Patienten, unter anderem zu Harnwegsinfektionen, Thrombozytopenie, Insomnie, Schwindel, Kopfschmerz gastrointestinalen Beschwerden, Diarrhö, Übelkeit, Erbrechen, Hand-Fuß-Syndrom, Muskel- und Knochenschmerzen und Proteinurie.

Lenvatinib ist ein Substrat für P-GP und BCRP, hemmt diese Transport­proteine aber nur minimal. Der Metabolismus findet überwiegend über CYP3A4, aber auch über andere Stoffwechselwege statt. Induktion oder Inhibition von CYP3A4 wirken sich daher nur sehr wenig auf den Wirkstoffspiegel aus. Eine Hemmung von CYP3A4 durch Lenvatinib kann nicht ausgeschlossen werden, was bei gleichzeitiger Einnahme von Substraten dieses Enzyms mit enger therapeutischer Breite berücksichtigt werden muss.

 

Nicht angewendet werden darf Lenvatinib bei Kindern unter zwei Jahren und während der Stillzeit. Gebär­fähige Frauen sollten während der Behandlung und bis mindestens einen Monat danach möglichst nicht schwanger werden. Um das zu verhindern, sollten sie eine Barrieremethode anwenden und nicht allein die Pille, da noch nicht bekannt ist, ob Lenvatinib die Wirksamkeit hormoneller Kontrazeptiva herabsetzt. In der Schwangerschaft darf der neue Arzneistoff nicht angewendet werden, wenn es nicht eindeutig erforderlich ist. Bei der Entscheidung für oder gegen die Behandlung ist der Nutzen für die Mutter gegen das Risiko für das Kind sorgfältig abzuwägen.

 

--> Vorläufige Bewertung: Analogprodukt

 


Nivolumab

 

Mitte Juli kam mit Nivolumab ein neues Arzneimittel zur Behandlung von Patienten mit malignem Melanom auf den deutschen Markt (Opdivo® 10 mg/ml Konzentrat zur Herstellung einer Infusionslösung, Bristol-Myers-Squibb). Der Antikörper ist der erste PD-1-Inhibitor in der Krebstherapie. Er ist zugelassen zur Monotherapie des fortgeschrittenen, nicht resezierbaren oder metastasierten malignen Melanoms bei Erwachsenen – auch in der Erst­linientherapie. Wenige Tage später erhielt er zudem die Zulassung für Patienten mit lokal fortgeschrittenem oder metastasiertem nicht kleinzelligem Plattenepithelkarzinom der Lunge in der Zweitlinientherapie.

 

Angriff am Checkpoint- Rezeptor PD-1

 

Opvido wird als intravenöse Infu­sion über 60 Minuten in einer Dosierung von 3 mg/kg Körpergewicht alle 14 Tage verabreicht. Bei älteren Patienten oder bei leicht oder mäßig ein­geschränkter Nieren- oder Leberfunktion ist keine Dosisanpassung erforderlich.

 

Nivolumab ist ein humaner mono­klonaler Immunglobulin (Ig)-G4-Antikörper, der gegen den Checkpoint- Rezeptor PD-1 (Programmed Death 1) auf aktivierten T-Zellen gerichtet ist. Bindet Nivolumab an den PD-1-Rezeptor, kann dieser nicht mehr mit seinen Liganden PD-L1 und -L2 interagieren, die von Antigen-präsentierenden Zellen, Tumoren oder anderen Zellen aus dem Mikromilieu des Tumors exprimiert werden.

 

Physiologischerweise unterbindet der PD-1-Signalweg eine dauerhafte T-Zell-Aktivierung, um den Körper vor überschießenden Immunreaktionen zu schützen. Die Bindung des PD-1- Rezeptors an seine Liganden hemmt die T-Zell-Proliferation und die Zytokin­ausschüttung und somit die Immunantwort. Der PD-1-Rezeptor ist also ein negativer Regulator der T-Zell-Aktivität. Wenn monoklonale PD-1-Inhibitoren diesen Regulationsweg hemmen, potenzieren sie damit die Tumorabwehrreaktion der T-Zellen. Der Antikörper richtet sich also nicht direkt gegen den Tumor, sondern aktiviert die körpereigene Immun­antwort.

 

Wirksam auch beim fortgeschrittenen Melanom

In der zulassungsrelevanten, doppelblinden Phase-III-Studie Check­Mate-066 erhielten 418 Patienten mit fortgeschrittenem, aber noch unbehandeltem Melanom vom BRAF-Wildtyp im Stadium III oder IV randomisiert entweder Nivolumab (3 mg/kg Körpergewicht alle zwei Wochen) oder das Chemotherapeutikum Dacarbazin (1000 mg/m2 alle drei Wochen). Die Ein-Jahres-Über­lebensrate betrug unter Nivolumab 73 Prozent im Vergleich zu 42 Prozent unter Dacarbazin. Das mediane progressionsfreie Überleben (PFS) war mit 5,1 Monaten signifikant länger als im Vergleichsarm (2,2 Monate). Insgesamt erreichten 40 Prozent der Patienten eine komplette oder teilweise Remission gegenüber 14 Prozent unter Dacarbazin. Die Studie zeigte, dass die Wirkung von Nivolumab verzögert einsetzt, sodass es zwei bis drei Monate dauern kann, bis ein Vorteil erkennbar wird.

 

Auch bei vorbehandelten Patienten mit fortgeschrittenem Melanom ist der neue Antikörper wirksam, wie die randomisierte offene Phase-III-Studie CheckMate-037 zeigte. 405 mit Ipilimumab oder einem BRAF-Kinase-Inhibitor vorbehandelte Patienten erhielten entweder Nivolumab als Mono­therapie oder eine Chemotherapie entweder mit Dacarbazin oder Carboplatin plus Paclitaxel. Fast 32 Prozent der Pa­tienten sprachen ganz oder teilweise auf Nivolumab an, aber nur rund 10 Prozent auf die Chemotherapie. Das Ansprechen hing nicht davon ab, ob die Patienten Tumoren mit oder ohne BRAF-Mutation und ob sie PD-L1-posi­tive oder -negative Tumoren hatten.

 

Es gab keine Unterschiede in Wirksamkeit und Sicherheit zwischen Pa­tienten unter und über 65 Jahren. Die häufigsten Nebenwirkungen in beiden Studien waren Fatigue (33 Prozent), Hautausschlag (20 Prozent) und Juckreiz (18 Prozent), Übelkeit und Durchfall (16 und 14 Prozent). Über die Anwendung in der Schwangerschaft liegen keine Daten vor, ebenso ist nicht bekannt, ob Nivolumab in die Muttermilch übergeht.

 

Studien bei Lungenkrebs

 

Bei Lungenkrebs basiert die Zulassung auf den Ergebnissen der randomisierten Open-Label-Studie CheckMate-017 mit rund 270 Patienten. Darin wurde Nivolumab (3 mg/kg Körpergewicht intravenös über 60 Minuten alle zwei Wochen) verglichen mit dem Therapiestandard Docetaxel (75 mg/m2 intra­venös alle drei Wochen). Primärer Endpunkt war das Gesamtüberleben, das im Median bei gut neun Monaten unter Nivolumab lag im Vergleich zu sechs Monaten unter Docetaxel. Die Ein-Jahres-Überlebensrate betrug 42 Prozent versus 24 Prozent. Im Nivolumab-Arm führten behandlungsbedingte unerwünschte Ereignisse bei 3 Prozent der Patienten zum Therapieabbruch (am häufigsten Pneumonitis mit 1,5 Prozent), im Docetaxel-Arm bei 10 Prozent. Unter dem Handelsnamen Nivolumab BMS® will Bristol-Myers-Squibb den Antikörper Mitte August als Lungenkrebsmedikament in den Markt einführen.

 

--> Vorläufige Bewertung: Sprunginnovation

Kommentar

Von allem etwas

Mit Cangrelor ist nach Ticagrelor der zweite reversible P2Y12-Hemmer auf den Markt gekommen. Während Ticagrelor nur als orale Arzneiform im Handel ist, wird Cangrelor als Injek­tion oder Infusion zur Verfügung gestellt. Damit ist das Anwendungsspektrum gegenüber den bisher verfügbaren P2Y12-Hemmern erweitert worden. Cangrelor ist deshalb eine Schrittinnovation.

 

Mit Ceritinib ist nach Crizotinib ein zweiter Tyrosinkinase-Inhibitor zu Behandlung von ALK-positivem nicht kleinzelligem Bronchialkarzinom auf den Markt gekommen. Ceritinib soll dann eingesetzt werden, wenn Crizotinib nicht oder nicht mehr wirksam ist. Ceritinib kann also als Reserve- Tyrosinkinase-Inhibitor und als Schritt­innovation bewertet werden.

 

Lenvatinib ist nach Vandetanib und Cabozantinib der dritte Vertreter aus der Gruppe der Multikinasehemmer, die bei Schilddrüsenkarzinomen eingesetzt werden. Da es keine Vergleichsstudien untereinander gibt, sondern ausschließlich placebokon­trollierte Studien vorliegen, können die drei Vertreter nicht in eine Rangfolge eingeordnet werden. Lenvatinib muss somit als Analogprodukt bewertet werden.

 

Nivolumab ist der erste PD-1-Inhibitor auf dem Markt. Er führt dazu, dass die Tumorabwehrreaktion der T-Zellen potenziert wird. Nivolumab richtet sich also nicht direkt gegen den Tumor, sondern aktiviert die körper­eigene Immunabwehr. Der mono­klonale Antikörper ist aufgrund des neuen Wirkmechanismus eine Sprung­innovation.

 

Professor Dr. Hartmut Morck, 

Universität Marburg

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