Pharmazeutische Zeitung online
Brasiliens Gesundheitssystem

Warten bis der Arzt kommt

03.08.2016  08:47 Uhr

Von Jennifer Evans / Ärztemangel, Geldnöte, Korruption – in Brasiliens öffentlichem Gesundheitssystem herrschen Experten zufolge katastrophale Zustände. Menschen auf dem Land haben oft jahrelang keinen Arzt gesehen, in der Stadt stehen sie für eine Behandlung häufig tagelang Schlange. Reiche bestechen Mediziner oder flüchten in private Krankenversicherungen. Mittlerweile hat die Politik das Problem erkannt und handelt.

Mit 49 Prozent ist die Unzufriedenheit der Brasilianer im Gesundheitsbereich so groß wie in keinem anderen Politikbereich – das ergab eine Umfrage des Marktforschungsinstituts Ibope aus dem Jahr 2014. Begonnen hat der Unmut Medienberichten zufolge bereits 2007, als die Regierung das Budget für das staatliche Versorgungsnetz wegen fehlender Steuereinnahmen um ein Viertel kürzte.

Dabei verfolgt das brasilianische Gesundheitssystem, das sogenannte Sistema Único de Saúde (SUS), grundsätzlich einen guten Ansatz: Allen knapp 205 Millionen Einwohnern des Landes ist seit 1990 eine kostenfreie Basisgrundversorgung gesetzlich garantiert, unabhängig von Beschäftigung oder sozialem Status. Doch in der Praxis funktioniert die flächendeckende Versorgung nicht gut: Laut einer brasilianischen Regierungsstudie kommen auf 1000 Einwohner nur rund 1,8 Ärzte und weniger als 1,5 Krankenschwestern. Zum Vergleich: Der Durchschnitt der 34 Mitgliedsstaaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OEDC) liegt bei 3,2 Medizinern und 8,4 Krankenschwestern pro 1000 Einwohner. Um dem Ärztemangel entgegenzuwirken, warb die brasilianische Regierung 2013 mit dem Programm Mais Médicos (mehr Ärzte) Mediziner für zunächst drei Jahre aus dem Ausland an. Vor allem Kubaner meldeten sich für den Einsatz in den zumeist wirtschaftlich schwachen und abgelegenen Gegenden Brasiliens, um dort die prekäre medizinische Situation zu verbessern.

 

Nach Berichten der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) herrschen in den Notaufnahmen von Brasiliens öffentlichen Krankenhäusern unerträgliche Hitze und Gestank, Verletzte müssen oft tagelang auf dem Boden liegen. Häufig würden Patienten sogar in der Klinik-Warteschlange sterben, heißt es. Für eine entsprechende Behandlung fehlen Material, Personal und Kompetenz. Untersuchungen aus São Paulo aus dem Jahr 2014 belegen, dass 59 Prozent der Diplom-Mediziner in Brasilien nicht einmal über das nötige fachliche Basiswissen verfügen.

 

Behandlung erzwingen

 

Weil trotz gesetzlich verankertem Recht auf gesundheitliche Versorgung die Realität ernüchternd ist, gab es in Brasilien immer wieder die Diskussionen, das SUS zu privatisieren. Gut versorgt sei im SUS nur, wer das nötige Kleingeld habe, im Zweifelsfall das Krankenhaus zu verklagen und eine ärztliche Behandlung juristisch erzwingen zu können, so die bpb. Bei den reichen Brasilianern wächst zudem die Nachfrage nach privaten Gesundheitsleistungen, wie Auswertungen der Deutschen Gesellschaft für Außenwirtschaft und Standortmarketing (GTAI) 2013 belegen. Demnach haben sich rund 50 Millionen Bürger bereit­s für eine private Gesundheitsversorgung entschieden.

 

Die Spaltung der Gesellschaft offenbart sich auch in einem anderen Zusammenhang. Während die arme Bevölkerung um ihr Recht im SUS kämpft, steigt parallel bei den Wohlhabenden die Zahl der Schönheitsoperation rasant an: 2014 waren es 1700 Schönheits-OPs täglich. Mit dieser Zahl liegt Brasilien laut bpb gleich hinter den USA. Besonders Po-Vergrößerungen seien beliebt. Denn Schönheit steigert in dem südamerikanischen Land nicht nur das Selbstwertgefühl, sondern auch die Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Kein Wunder, dass 90 Prozent der Frauen allein aus der brasilianischen Mittelschicht mindestens einen plastisch-chirurgischen Eingriff hinter sich haben. Und die Zahl der Operationen nimmt laut GTAI jährlich um 20 Prozent zu.

 

Die vorherrschenden Schieflagen und Missstände im Gesundheitswesen haben die Politik mittlerweile erreicht: Nach GTAI-Angaben legt die brasilianische Regierung seit zwei Jahren ihren Fokus verstärkt auf die Gesundheitspolitik – auch als Reaktion auf die landesweiten Massenproteste der Bevölkerung gegen die öffentliche Gesundheitsversorgung im Jahr 2013. Seitdem hat die Regierung beispielsweise das Budget für die Behandlung von Krebspatienten um 120 Prozent im Vergleich zum Jahr 2012 aufgestockt. Schwerstkranke haben demnach nun innerhalb von maximal 60 Tagen nach Diagnose einen Therapieanspruch (zuvor waren es bis zu sechs Monate). Ein weiterer Schritt zur Optimierung des Gesundheitssystems sei der Einsatz einer neuen Software, um Korruption im SUS zu bekämpfen. Viele brasilianische Bundesstaaten nutzten diese bereits, um den Arzneimitteleinkauf sowie medizintechnische Anschaffungen transparenter zu machen, indem sie die Zulieferer mit Verkaufsmengen und Preisen abglichen.

 

Apotheker profitieren

 

Seit das öffentliche Gesundheitssystem in Sachen Versorgung aufrüstet, steigt auch die Nachfrage an Medikamenten. Die vom SUS kostenfrei zur Verfügung gestellte Arzneimittelpalette erreicht in den letzten Jahren immer mehr Brasilianer. Darunter fallen dem GTAI zufolge fast alle Impfungen sowie Medikamente gegen chronische Erkrankungen wie Bluthochdruck, Zucker oder Asthma. Davon profitiert auch der Apothekeneinzelhandel: Nach Angaben der deutschen Experten für Außenwirtschaft wächst er seit 2013 jährlich um rund 15 Prozent. /

Mehr von Avoxa