Gefühle wieder ins Lot bringen |
15.07.2008 11:25 Uhr |
<typohead type="3">Gefühle wieder ins Lot bringen
Von Hannelore Gießen, München
Jeder Zehnte leidet an einer Persönlichkeitsstörung, einer trotz ihrer Häufigkeit wenig bekannten Erkrankung. Lange Zeit galt sie in der Psychiatrie als schwer beeinflussbar. Neben verschiedenen psychotherapeutischen Methoden spielt inzwischen auch die medikamentöse Behandlung eine zunehmende Rolle.
»Stritten sich in den Achtziger Jahren noch Psychiater, ob Psychoanalyse oder Psychopharmaka dem Patienten besser helfen, arbeitet man heute zusammen«, sagte Professor Dr. Matthias Dose beim 6. Internationalen Kongress über Theorie und Therapie von Persönlichkeitsstörungen Anfang Juli in München. Inzwischen würden etwa 80 Prozent aller Patienten mit Persönlichkeitsstörungen auch medikamentös behandelt, zitierte der Chefarzt des Klinikums Traunstein eine 2005 publizierte Studie. 1998 waren es nur 70 Prozent. Dose wertete dies als deutlichen Fortschritt. Allerdings werde noch immer Polypragmasie betrieben, kritisierte der Psychiater: Ein Drittel der Patienten erhalte mindestens zwei, ein Viertel sogar mehr als drei Wirkstoffe. Zwar gebe es durchaus sinnvolle Kombinationen wie Lithiumverbindungen mit Antidepressiva, doch die Rationale einer Therapie mit mehr als drei Substanzen sei äußerst fraglich.
Persönlichkeitsstörungen spielen in der Psychiatrie eine große Rolle: In der psychiatrischen Praxis leiden 30 bis 40 Prozent, in der Klinik sogar 40 bis 50 Prozent der Patienten an einer Persönlichkeitsstörung. Doch auch in der Allgemeinbevölkerung sind 11 Prozent betroffen, die meisten von einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS, siehe Kasten).
Der Name »Borderline = Grenzlinie« weist darauf hin, dass man die Störung früher im Grenzbereich zwischen neurotischen und psychotischen Störungen eingeordnet hat, da man Symptome aus beiden Bereichen erkannte. Das Klassifikationssystem der American Psychiatric Association DSM-IV beschreibt eine Borderline-Persönlichkeitsstörung folgendermaßen: Ein tief greifendes Muster von Instabilität in den zwischenmenschlichen Beziehungen, im Selbstbild und in den Affekten sowie deutliche Impulsivität. Die Bereiche der Gefühle, des Denkens und des Handelns sind beeinträchtigt, was sich durch negatives und teilweise paradox wirkendes Verhalten in zwischenmenschlichen Beziehungen sowie im gestörten Verhältnis zu sich selbst äußert.
Gerade eine BPS beeinträchtige das Leben der Patienten in besonderem Maße, sagte Dose. Auf einer Skala, die als »Global Assessment of Functioning« bezeichnet wird, gibt jeder zweite BPS-Patient an, in seiner Lebensführung zu 50 Prozent beeinträchtigt zu sein, sei es durch Zwangsrituale, Suizidgedanken oder die Unfähigkeit zu beständigen sozialen Kontakten. Zwanghafte und depressive Menschen stufen sich dagegen als nur zu 10 bis 20 Prozent in ihrem Alltag eingeschränkt ein.
Drang zur Selbstverletzung
Innere Spannungen, kaum beherrschbare Wut, aber auch Selbstentwertung und Niedergeschlagenheit sind Facetten der vielfältigen Symptome, die einen BPS-Patienten quälen. Aus nichtigem Anlass überfällt ihn eine unerträgliche Anspannung. Dann greift er zur Rasierklinge, um sich zu verletzen. Oder er verbrennt sich absichtlich am Bügeleisen, um den inneren Druck loszuwerden. Überwiegend sind Frauen von dieser Form einer Persönlichkeitsstörung betroffen. Oft leiden BPS-Patienten noch an einer weiteren psychiatrischen Störung wie einer Depression, einer posttraumatischen Belastungsstörung oder ADHS, das auch bei Erwachsenen immer häufiger diagnostiziert wird.
Symptom-orientiert behandeln
Die meist langwierige Therapie umfasst zahlreiche Methoden sozio- und psychotherapeutischer Behandlungsformen. »Bei der medikamentösen Therapie handeln wir pragmatisch und Symptom-orientiert«, erläuterte Dose. Dabei stütze man sich, ähnlich wie bei der Behandlung einer Depression, auf das Modell einer fehlerhaften Signalübertragung. Mehrere Studien belegen, dass bei Borderline-Patienten die Aktivität des serotonergen Systems vermindert ist. Zudem liegen morphologische Veränderungen vor: Bildgebende Verfahren zeigen bei BPS-Patienten eine verkleinerte, jedoch übererregbare Amygdala (Mandelkern). Die Amygdala ist ein zentraler Teil des stressverarbeitenden Systems und ist mit dem Furchtgedächtnis verbunden.
Zur Symptomenbehandlung werden in erster Linie Antidepressiva eingesetzt. Für die selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) ist mittels randomisierter Studien die Wirksamkeit bei BPS nachgewiesen. Sie zeigen eine positive Wirkung bei depressiven Verstimmungen, Angstgefühlen, Selbstverletzungsdrang und aggressiven Impulsen. Bei kognitiv-perzeptionellen Symptomen werden Neuroleptika eingesetzt. Sie lassen paranoide Gedanken schwinden und eine gestörte Ich-Wahrnehmung wieder Konturen gewinnen. »Dass psychotische Krankheitsbilder mit einem Überschuss an Dopamin zusammenhängen, ist zwar schlüssig, jedoch noch immer eine Hypothese«, gab Dose jedoch zu Bedenken. Die Gabe von Neuroleptika sei aufgrund ihrer Nebenwirkungen nach wie vor umstritten. Da dopaminerge Neuronen auch in die Pyramidenbahn des Motorcortexes verlaufen, könne die Gabe eines Dopamin-Antagonisten in höherer Dosierung extrapyramidale Störungen hervorrufen. Auch die Achse Hypothalamus-Hypophyse werde durch Dopamin beeinflusst. Dadurch steige die Ausschüttung an Prolaktin, was zu hormonellen Störungen führt. Dieses Risiko sei besonders hoch bei Risperidon sowie bei Amisulprid, berichtete der Psychiater aus seiner klinischen Erfahrung.
Benzos nur im Notfall
»Die Verordnung von Benzodiazepinen ist glücklicherweise rückläufig«, sagte Dose. Sie hätten ihren Platz in der Notfallsituation sowie einer kurzzeitigen Therapie. Borderline-Patienten, die oftmals unter starken Spannungen litten, würden von Benzodiazepinen profitieren. Doch ihr erhebliches Potenzial für physische und psychische Abhängigkeit begrenze ihren Einsatz. Um starke Impulse unter Kontrolle zu bringen, böten Antikonvulsiva eine Alternative zu Benzodiazepinen, da sie andere Wirkmechanismen aufweisen. So moduliert Valproinsäure Ionenkanäle, Vigabatrin greift in die GABA-erge Neurotransmission ein und Pregabalin beeinflusst exzitatorische Neurotransmitter wie Glutamat.
Der Opiatantagonist Naltrexon zeige eine gute Wirkung bei autistischen Störungen sowie autoaggressiven Impulsen. Man gehe davon aus, dass diese Handlungen Endorphine ausschütten, die die Opiatrezeptoren stimulieren. Sind diese Rezeptoren durch Naltrexon besetzt, werden autoaggressive Antriebe unterdrückt.
Stufenweise therapieren
Zeige ein SSRI keine ausreichende Wirkung, werde entweder zusätzlich ein zweites SSRI oder Venlafaxin gegeben, das sowohl am noradrenergen als auch serotonergen System ansetze. Erst in der dritten Stufe kommt ein Neuroleptikum oder eventuell ein lang wirksames Benzodiazepin hinzu. Bei Patienten mit Schlafstörungen hat sich Mirtazapin bewährt.
Leidet ein BPS-Patient dagegen unter Störungen der Impulskontrolle, wird ebenfalls mit einem SSRI begonnen. Spricht der Patient nicht ausreichend auf die Medikation an, wird ein niedrig dosiertes Neuroleptikum eingesetzt, eventuell ergänzt durch Lithium und Antikonvulsiva.