Zum Fressen gern |
05.07.2011 14:11 Uhr |
Von Conny Becker, Berlin / Der menschliche Körper interessiert den Mediziner und Sammler Thomas Olbricht auch in der Kunst. In der aktuellen Ausstellung in seinem Berliner Privatmuseum spielt die menschliche Gestalt eine ungewöhnliche Doppelrolle, ist gleichsam Täter wie Opfer. Denn die Schau widmet sich dem Kannibalismus und seinen mannigfachen künstlerischen Deutungen.
Kannibalismus stellt ein immer wiederkehrendes Phänomen dar, überliefert in Schriften des Aristoteles, der Bibel, bei Shakespeare oder in Kindermärchen. Er bildet jedoch eine solche Grenzüberschreitung alles Menschlichen, ein derartiges Tabu, dass Sigmund Freud festgestellt haben soll, er komme noch nicht einmal in Träumen vor. Auch in der Kunst ist die sogenannte Anthropophagie selten explizit Thema, wird aber in jüngster Zeit offenbar immer häufiger im übertragenen Sinn behandelt.
Die Künstlerin Dana Schutz thematisiert den Kannibalismus in ihrem Gemälde »Self Eater 3« (2003) verglichen mit anderen Künstlern der Ausstellung sehr direkt.
Foto: Florence und Philippe Segalot, New York
Die Ausstellung »Alles Kannibalen?« fragt vor allem nach dem Monster in uns. Denn Menschenfresser sind nicht nur Teufel in mittelalterlichen Höllendarstellungen, die die Sündigen verschlingen, oder einige wenige Naturvölker, die sich ihre Ahnen im Bestattungsritual oder Gegner als Potenzmittel einverleiben. Auch unsere westliche Gegenwart bietet diesbezüglich einen großen Fundus an Bezugspunkten, was die rund 40 internationalen Künstler auf verschiedenen Ebenen deutlich machen. »In ihren Werken geht es ja nicht um das Klischee von wilden Menschenfressern, sondern um einen erweiterten Begriff des Kannibalismus: den imaginär-subjektiven, biologischen und sozial-politischen Bezug zu sich selbst wie zu Anderen im Sinne einer Einverleibung«, so die Kuratorin Jeanette Zwingenberger im Begleittext zur Ausstellung.
Die Künstlerin Oda Jaune etwa wirft mit ihren surrealistischen Landschaftsbildern, in denen Teile des menschlichen Körpers wie selbstverständlich eingebaut sind, die Frage nach dem Organhandel auf. Andere Arbeiten widmen sich dem immensen Druck, den das gesellschaftliche Schönheitsideal auf Frauen ausübt, was neben Schönheitsoperationen zu Krankheiten wie Anorexie oder Bulimie führt. Gilles Barbier schließlich zeigt sich in einer großformatigen Fotografie gleich sechsmal, gewissermaßen als Klon, der sich selbst auf die Schlachtbank legt. Unter der Metapher Kannibalismus können heute sowohl Selbstzerstörung und Gewalt gegen Andere als auch grenzenloser Konsum und Konkurrenzkampf verstanden werden.
Einverleibung alter Meister
Die Ausstellung umfasst größtenteils zeitgenössische Werke, sei es Malerei, Fotografie, Zeichnung oder Skulptur. Einige von ihnen beziehen sich aber ganz konkret auf den Hofmaler Francisco de Goya, dessen berühmte Stiche der Serie »Los Caprichos« (1799) ebenfalls zu sehen sind. Eine wesentliche Rolle spielt der spanische Künstler etwa in den Zeichnungen der Chilenin Sandra Vásquez de la Horra, die wie Goya Dämonen und mystische Rituale zu Papier bringt, welche in Südamerika weiterhin stärker präsent sind als in Europa. Trotz oder gerade wegen des per se unheimlichen Themas finden sich bei den Künstlern auch sehr spielerische Herangehensweisen. So gestaltete Wim Delvoye im Eingangsbereich einen Teil des Fußbodens, der an einen roten Teppich sowie an herrschaftliche Marmorböden erinnert, dessen Muster bei genauem Betrachten aber auf verschiedene Wurstarten zurückgeht.
Abgerundet wird die Ausstellung mit historischen Fotos von (vermeintlichen) Kannibalen, die auf Expeditionen im 19. Jahnhundert gemacht wurden. Nicht selten wurden damals Ängste vor den Fremden pauschal in eine Anklage als grausame Menschenfresser verwandelt. Betrachtet man retrospektiv das Verhalten der Kolonialisten, aber auch unsere eigenen persönlichen oder sozialen Beziehungen, so muss man dem Anthropologen Claude Lévi-Strauss zustimmen, auf den sich der Ausstellungstitel bezieht: »Wir sind alle Kannibalen. Das einfachste Mittel, sich mit dem Anderen zu identifizieren, ist noch ihn zu essen.« Selbstverständlich im übertragenen Sinn. /
»Alles Kannibalen?« bis 21. August 2011, me Collectors Room Berlin, Auguststraße 68, 10117 Berlin, Di - So 12 - 18 Uhr, www.me-berlin.com