Was Senioren gut vertragen |
04.07.2011 13:08 Uhr |
Von Thomas Fiß und Charlotte Kloft / Keine Patientengruppe ist so heterogen wie die Gruppe der Über-65-Jährigen. Eines gilt jedoch generell: Fast jeder nimmt Medikamente ein. Aufgrund der physiologischen Veränderungen im Alter gelten spezifische Vorgaben, und manche Medikamente sind sogar kontraindiziert. Ein Blick ins Detail.
Der Titelbeitrag soll dem Apotheker helfen, potenziell ungeeignete Medikamente besser identifizieren, gemeinsam mit dem Hausarzt und dem Patienten arzneimittelbezogene Probleme vermeiden und Alternativen empfehlen zu können. Die Herausforderungen der alternden Gesellschaft erfordern neue Behandlungskonzepte und machen die Identifikation von Effektivitätsreserven im Gesundheitswesen notwendig. Dazu gehört auch die kritische Analyse von »Fehlern im System«, wie das Vermeiden, Erkennen und Lösen von arzneimittelbezogenen Problemen bei der Arzneimitteltherapie.
Welche Medikamente passen zu älteren Menschen? Es ist eine Aufgabe der Apotheker, potenziell ungeeignete Arzneimittel zu erkennen.
Foto: TK
Seit Langem ist bekannt, dass die Einnahme bestimmter Medikamentengruppen im Alter signifikant mit Stürzen (1) und einem Anstieg der Mortalität (2) assoziiert ist. Weiterhin können Arzneistoffe die kognitiven Eigenschaften verschlechtern (3) und die Lebensqualität reduzieren. Die Einnahme ungeeigneter Medikamente kann zusätzliche Kosten für das Gesundheitssystem auslösen (4).
Funktionsänderungen im Alter
Zur Beschreibung des Alterns genügt das kalendarische Alter keinesfalls. Denn laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) beginnt der Prozess des Alterns bereits mit etwa 40 bis 45 Jahren. Daher ist eine klinische Beschreibung von Symptomen und Symptomkomplexen nötig, um die Prozesse des Alterns besser zu verstehen. Verschiedene Lebensphasen sind mit unterschiedlichen physiologischen Besonderheiten verbunden. Bei Kindern sind dies beispielsweise die nicht ausgereiften Organfunktionen, bei Schwangeren die Veränderungen der Verteilungsräume von Arzneistoffen und bei Älteren vor allem der Verlust von Schutz- und Organfunktionen. Zu den Schutzfunktionen gehört unter anderem die Barrierefunktion der Haut und Schleimhäute. Die Rückbildung und der zunehmende Funktionsverlust werden auch als regressive Veränderungen bezeichnet.
Bestimmte Erkrankungen treten im Alter gehäuft auf. Denn generell nimmt die Leistungsfähigkeit der Organe ab, was zu altersassoziierten Erkrankungen (Morbidität oder in Kombination: Komorbiditäten) führen kann. Hierzu gehören:
Zudem sind generelle physiologische Veränderungen zu beobachten. So reagieren die Homöostase-Regulationsmechanismen weniger, zum Beispiel durch vermindertes Ansprechen der Barorezeptoren mit der Folge von orthostatischen Dysregulationen und Stürzen. Das Temperaturempfinden und die Thermoregulation verändern sich; dies kann zu inadäquatem Kleidungsverhalten bei Älteren führen. Das verringerte Durstgefühl kann im Zusammenhang mit einer Diuretikatherapie zu einer gefährlichen Dehydratation führen.
Sowohl die Komorbiditäten als auch die generellen physiologischen Veränderungen betreffen die Pharmakokinetik (»was macht der Körper mit dem Arzneistoff«) und die Pharmakodynamik (»was macht der Arzneistoff mit dem Körper«). Pharmakokinetische Veränderungen beeinflussen alle Prozesse des sogenannten LADME-Modells. In Tabelle 1 sind altersassoziierte physiologische Veränderungen, deren Einfluss auf die pharmakokinetischen Prozesse und Folgen für die Arzneimitteltherapie zusammengestellt.
PK-Prozess | Physiologische Veränderung | PK-Veränderungen und therapeutische Auswirkung | Wirkstoffe |
---|---|---|---|
L: Liberation | verringerte Produktion von Salzsäure | verändertes Zerfalls- und Auflösungsverhalten von Peroralia => Bioverfügbarkeit sinkt | säurelabile Substanzen: L-Dopa, Pankreasenzyme, Penicilline |
A: Absorption | verringerte Produktion von Salzsäure, Reduktion der Magen-Darm-Motilität | langsamere Absorption, Reduktion aktiver Transportprozesse, Ausmaß der Absorption annähernd unverändert | verringerte Bioverfügbarkeit: Eisen; Vitamin B12; Calcium erhöhte Bioverfügbarkeit: Propranolol, Nifedipin |
D: Distribution | Veränderung der Körperzusammensetzung: Abnahme des Körperwasseranteils und Zunahme des Körperfettanteils; nachlassende Albuminproduktion der Leber | Akkumulation von lipophilen Arzneistoffen: (oft) verlängerte Halbwertszeit und erhöhte Gefahr von UAW, evtl. verzögerter Wirkeintritt | Diazepam, Theophyllin, Propranolol, Opioide, Cumarine, Valproinsäure, Lithium, Digoxin |
M: Metabolismus | reduziertes Herzminutenvolumen: verminderte Leberdurchblutung; verminderte Wirksamkeit der mikrosomalen Leberenzyme | Reduktion der hepatischen Metabolisierung bei »high extraction drugs«; v. a. Phase-I-Reaktionen sind reduziert; Akkumulation hepatisch eliminierter Arzneistoffe: erhöhte Gefahr für UAW | Propranolol, Nifedipin, Benzodiazepine (Diazepam, Flurazepam, Bromazepam) |
E: Exkretion | fortschreitende Einschränkung der Nierenfunktion; verminderte Herzleistung; dadurch Minderdurchblutung der Niere; Reduktion von Anzahl und Größe der Nephrone | Akkumulation renal eliminierter Arzneistoffe: erhöhte Gefahr für UAW | Aminoglykoside, Cefotaxim, Cefuroxim, Ofloxacin, Aciclovir, Digoxin, Morphin |
Pharmakodynamische Veränderungen betreffen sowohl die altersbedingte Änderung von Anzahl und Dichte von Rezeptoren als auch deren Sensitivität. Das wohl bekannteste Beispiel ist die paradoxe Wirkung von Coffein, das bei älteren Patienten Müdigkeit auslösen kann. Weiterhin wird die Wirkung von Anticholinergika auf das Zentralnervensystem verstärkt; in der Folge können vermehrt unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) auftreten. Ein Delir ist häufig das Ergebnis einer ungeeigneten Pharmakotherapie mit lang wirksamen Benzodiazepinen, Opiaten oder anticholinerg wirksamen Neuroleptika oder einer gleichzeitigen Behandlung mit zu vielen Wirkstoffen.
Die Grafik gibt einen Überblick über das Zusammenspiel altersbedingter Veränderungen und deren Auswirkungen auf eine Arzneimitteltherapie. Kognitive Einschränkungen haben oft zur Folge, dass Selbstmanagement und Therapietreue nicht mehr gewährleistet sind.
Grafik: Zusammenspiel altersbedingter Faktoren auf die Pharmakotherapie; modifiziert nach (16)
Letztlich steigert eine unangepasste Medikation im Alter die Mortalität, erhöht die Kosten für das Gesundheitswesen und schmälert die Lebensqualität des Patienten. Der Apotheker hat jedoch die Möglichkeit, zum Beispiel anhand eines Arzneimittelanwendungsprofils, das aktuelle Risiko für den Patienten einzuschätzen. Vor allem die Anwendung von Arzneistoffen mit geringer therapeutischer Breite muss intensiver überwacht werden.
Priscus und PIM
Wo findet der Apotheker spezifische Informationen zu potenziell ungeeigneten, also inadaquäten Medikamenten (PIM)? Grundsätzlich ist festzuhalten, dass das Wissen zur Pharmakotherapie im Alter derzeit unzureichend ist. Eine evidenzbasierte Behandlung ist kaum möglich, da bei den meisten klinischen Studien ein Alter über 65 Jahre ein Ausschlusskriterium ist. Nichtsdestotrotz gibt es eine Reihe guter Konsensuspapiere, die die Orientierung erleichtern. Im Rahmen des Aktionsplans Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) wurden auch in Deutschland entsprechende Therapiehinweise entwickelt.
2010 veröffentlichten Apothekerin Stefanie Holt und Kollegen im Deutschen Ärzteblatt die PRISCUS-Liste potenziell ungeeigneter Medikamente für ältere Patienten (5). Eine umfangreiche PDF-Datei steht kostenlos unter www.priscus.net zur Verfügung. Seit vielen Jahren bestand aus Sicht von Ärzten und Apothekern ein Bedarf für die Entwicklung einer speziell für den deutschen Markt angepassten Liste. In den vergangenen Jahren wurden zwar Listen zur ungeeigneten Medikamentenanwendung im Alter publiziert; jede von ihnen hat jedoch spezifische Schwächen.
Neben Arzneistoff-spezifischen Eigenschaften entscheiden zahlreiche patientenindividuelle Faktoren über die Verträglichkeit einer Arzneitherapie. Frauen sowie Menschen, die mehr als fünf Arzneimittel einnehmen oder die gebrechlich sind, sind besonders gefährdet, Nebenwirkungen zu erleiden.
Foto: KNA
Die bislang bekannteste Liste stammt von Beers und Mitarbeitern aus dem Jahr 1997 (6). Sie wurde von Fick und Mitarbeitern 2003 aktualisiert (7) und von Schwalbe und Mitarbeitern ins Deutsche übersetzt und angepasst (8). Diese Liste galt lange als Standard, war aber für den US-amerikanischen Arzneimittelmarkt entwickelt worden. Diese Liste ist in weiten Teilen für die Anwendung in der Praxis zu unkonkret und bietet nur ungenügende Therapiealternativen.
Auch die START- und STOPP-Kriterien von Gallagher sind nur bedingt für den deutschen Arzneimittelmarkt geeignet (9). Diese Kriterien wurden für Großbritannien entwickelt, dessen Arzneimittelmarkt sich wesentlich vom deutschen Markt unterscheidet.
Andere Listen wurden ebenfalls auf Basis eines Expertenkonsens-Verfahrens erstellt und bleiben in weiten Teilen unkonkret. Hierzu zählt die ältere Konsensusliste von McLeod und Kollegen (10) aus Kanada. Die aktuelle Ausarbeitung von Laroche und Kollegen aus Frankreich (11) führt konkret ungeeignete Wirkstoffe mit therapeutischen Alternativen auf. Sie ist jedoch für praktisch tätige Heilberufler schwer zugänglich und wurde nur in einer englischsprachigen Fachzeitschrift veröffentlicht.
Die PRISCUS-Liste hingegen bietet klare Hinweise zur Identifizierung ungeeigneter Medikamente und nennt daraus resultierende Maßnahmen, zum Beispiel zu überwachende Laborparameter oder therapeutische Alternativen. Leider enthält sie keinen klaren Altersgrenzwert oder eine klinisch adäquate Operationalisierung des Alters, ab der sie gilt (12). Eine klinisch adäquate Operationalisierung beinhaltet unter anderem einen Algorithmus aus Alter, Organfunktion und Komorbiditäten. Bis zu einer anderen Festlegung kann die PRISCUS-Liste für alle Patienten über 65 Jahre empfohlen werden.
Tabelle 2 führt – auf Basis der PRISCUS-Kriterien – mehrere Beispiele für potenziell ungeeignete Medikamente auf. Therapeutische Alternativen sollten Apotheker und Arzt stets gemeinsam besprechen.
Arzneistoffklasse, Arzneistoffe | Mögliche Komplikation | Therapeutische Alternativen |
---|---|---|
NSAID: Indometacin, Acemetacin, Ketoprofen, Piroxicam, Phenylbutazon, Etoricoxib | erhöhtes Risiko für gastrointestinale Blutungen | Paracetamol, niedrig potente Opioide (Tramadol, Codein); falls AM doch angewendet werden soll: Komedikation mit Protonen-Pumpen-Inhibitoren |
Antiarrhytmika: Chinidin, Flecainid, Sotalol | erhöhte Rate von ZNS-UAW: Agitation, Depression, Halluzination | Betablocker, Amiodaron |
Antibiotika: Nitrofurantoin | vor allem bei Langzeitgebrauch problematisch (> 5 d) | andere Antibiotika gemäß Antibiogramm: Cephalosporine, Cotrimoxazol |
Antikoagulanzien: Ticlopidin, Prasugrel (Patienten über 75 Jahre) | möglicherweise ungünstiges Risiko-Nutzen-Verhältnis | niedrig dosierte ASS, Clopidogrel |
Antidepressiva: Amitriptylin, Doxepin, Imipramin, Clomipramin, Maprotilin, Trimipramin, Fluoxetin, Tranylcypromin | anticholinerge UAW, Gefahr eines Delirs | SSRI (Citalopram, Sertralin), Mirtazapin |
Antihypertensiva: Doxazosin, Prazosin, Terazosin, Methyldopa, unretardiertes Nifedipin | erhöhtes Risiko für UAW | andere Antihypertensiva: ACE-Hemmer, Diuretika, Betablocker |
Neuroleptika: Thioridazin, Fluphenazin, Levomepromazin, Perphenazin, Haloperidol (über 2 mg); Olanzapin (über 10 mg; über 75 Jahre); Clozapin | anticholinerge UAW, andere UAW wie Dyskinesien, erhöhte Mortalität, zerebrovaskuläre Ereignisse | atypische Neuroleptika, Melperon, Pipamperon |
Laxanzien: dickflüssiges Paraffin | Lipid-Pneumonie | Macrogol, Lactulose |
Muskelrelaxanzien: Baclofen, Tetrazepam | erhöhte Sturzneigung, Benommenheit | Tolperison, Tizanidin |
Sedativa/Hypnotika: lang wirksame Benzodiazepine: Chlordiazepoxid, Diazepam, Flurazepam, Dikaliumclorazepat, Bromazepam, Prazepam, Clobazam, Nitrazepam, Flunitrazepam, Medazepam Antihistaminika: Doxylamin, Diphenhydramin | erhöhte Sturzneigung, Benommenheit | kurz oder kürzer wirksame Benzodiazepine: Lorazepam (≤ 2 mg/d), Lormetazepam (≤ 0,5 mg/d), Brotizolam (≤ 0,125 mg/d), Zolpidem (≤ 5 mg/d), Zopiclon (≤ 3,75 mg/d), Zaleplon (≤ 5 mg/d); Opipramol sedierende Antidepressiva, zum Beispiel Mirtazapinniederpotente Neuroleptika, zum Beispiel Melperon, Pipamperon; Baldrian |
Generell ungeeignete Wirkstoffe
Von bestimmten Wirkstoffgruppen ist im Alter aufgrund einer negativen Nutzen-Risiko-Relation generell abzuraten. Gemeinsame Merkmale dieser Wirkstoffgruppen sind ein extensiver Metabolismus, hohe Lipophilie, hohe renale Elimination oder geringe therapeutische Breite. Fehlender Nutzen bei der Anwendung sollte immer ein Argument gegen eine bestimmte Therapie sein. Neben dem Alter sind weibliches Geschlecht, Anwendung von mehr als fünf Medikamenten und niedriger Bildungsstatus weitere Risikofaktoren für eine ungeeignete Medikamentenanwendung. Für die Pharmakotherapie gilt grundsätzlich:
Doch zunächst ist es notwendig, die Nierenfiltrationsleistung zu ermitteln. Wichtig: Ein physiologischer Serumkreatininwert ist im Alter kein Maß für eine adäquate Nierenfunktion, da er aufgrund der reduzierten Muskelmasse nicht mehr die glomeruläre Filtrationsrate abbildet. Neben der Cockroft-Gault-Formel existieren einige weitere Formeln zur genaueren Bestimmung der Nierenfunktionsleistung (Kreatinin-Clearance).
Ebenfalls problematisch ist die Anwendung von Kombinationspräparaten. Diesen sollte der Apotheker besondere Aufmerksamkeit widmen. Zum Beispiel kann es zur Überdosierung aufgrund der Kombination von Paracetamol-haltigen Erkältungspräparaten mit einem Paracetamol-Monopräparat kommen. Die Gefahr einer Paracetamol-Überdosierung mit Leberschädigung veranlasste kürzlich die amerikanische Zulassungsbehörde FDA, die Wirkstoffmenge je Arzneimitteldosis zu reduzieren. In Deutschland sind Arzneimittelpackungen mit mehr als 10 g des Analgetikums aus diesem Grund verschreibungspflichtig.
Individuell ungeeignet
Ebenfalls zu beachten ist die ungeeignete Kombination einzelner Arzneistoffe mit bestimmten Komorbiditäten. Neben den typischen altersassoziierten physiologischen Veränderungen sollten Apotheker und Arzt stets beachten, ob weitere Begleiterkrankungen vorliegen.
Da es in Deutschland im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern weder eine systematische Vernetzung der Heilberufler noch eine Diagnoseübermittlung an die Apotheke gibt, muss der Apotheker spezifische Komorbiditäten direkt erfragen, wenn er eine ungeeignete Medikamentenanwendung identifizieren will. Wenn der Patient der systematischen Pharmazeutischen Betreuung in der Hausapotheke zugestimmt hat, liefert ein Blick in das Medikationsprofil ebenfalls Anhaltspunkte. Problematische Komorbiditäten sind zum Beispiel Hypertonie, COPD und Demenz. In Tabelle 3 sind einige Substanzen und ausgewählte Kontraindikationen aufgelistet.
Diagnose | Wirkstoff |
---|---|
Demenz, kognitive Einschränkungen | Alprazolam, Amitriptylin, Bromazepam, Chlorphenamin, Clemastin, Clomipramin, Clozapin, Diazepam, Dimenhydrinat, Dimetinden, Diphenhydramin, Doxepin, Doxylamin, Flunitrazepam, Fluoxetin, Flurazepam, Haloperidol, Levomepromazin, Medazepam, Nitrazepam, Oxazepam, Oxybutynin, Solifenacin, Tolterodin, Trimipramin, Triprolidin, Zolpidem (über 5 mg/d), Zopiclon (über 3,75 mg) |
Hypertonie | Ephedrin |
Magengeschwür | Acetylsalicylsäure |
Epilepsie | Clozapin |
Stressinkontinenz | Doxazosin, Imipramin, Doxepin, Amitriptylin, Flurazepam, Diazepam |
Durchschlafstörungen | Theophyllin |
Morbus Parkinson | Metoclopramid, Haloperidol, Clozapin |
Anticholinerg wirksame Substanzen können bei Patienten mit kognitiven Einschränkungen die Gedächtnisleistung weiter verschlechtern und Blasenentleerungsstörungen bis hin zur Überlaufblase auslösen. Um einen Anhaltspunkt für das Ausmaß der anticholinergen Potenz zu erhalten, hat sich die »Anticholinergic Cognitive Burden Scale« (ACBS) als gutes Maß etabliert (13). Die Skala wurde von Boustani und Kollegen in den USA in einem systematischen Review unter Beteiligung eines klinischen Expertenpaneels erstellt. Die Arzneistoffe werden anhand ihrer anticholinergen Effekte mit »1« bis »3« bewertet, wobei der Wert 3 für das größte Ausmaß steht. Werden mehrere Substanzen zusammen gegeben, werden die Einzelwerte aufsummiert. Grundsätzlich soll der Schwellenwert von 3 gemieden werden.
Hat der Apotheker problematische Arzneistoffe identifiziert, sollte er auch therapeutische Alternativen benennen können. Ein Beispiel: In der PRISCUS-Liste wird Risperidon als therapeutische Alternative zu Neuroleptika bei psychiatrischen Komplikationen auch für Demenzpatienten aufgeführt. Diese Empfehlung ist aber kritisch zu hinterfragen. Risperidon wird seit 2005 für diese Patientengruppe nicht mehr empfohlen; die Fachinformation des Fertigarzneimittels führt dies explizit auf.
Grundlage für die Warnung der amerikanischen Zulassungsbehörde FDA, die auch die europäische Zulassungsbehörde EMA übernommen hat, war eine Metaanalyse von 17 kontrollierten klinischen Studien mit atypischen Antipsychotika einschließlich Risperidon. Die Analyse ergab, dass die Mortalität älterer Patienten mit Demenz, die mit atypischen Antipsychotika behandelt wurden, tendenziell höher war als unter Placebo (Mortalität bei Risperidon 4,0 Prozent versus 3,1 Prozent unter Placebo). Die Odds-Ratio (95-Prozent-Konfidenzintervall) betrug 1,21 (0,7 bis 2,1). Inzwischen sind weitere hochrangige Publikationen erschienen, die das Mortalitätsrisiko von Risperidon bei Demenz-Kranken kritisch hinterfragen und zum Teil einen Gruppeneffekt beobachten.
Praktisch tätige Ärzte sehen Risperidon bei Demenz-Patienten dennoch als (eine) therapeutische Option, zumal die Alternativen sehr begrenzt sind (Tabelle 4). Es muss aber beachtet werden, dass der pharmazeutische Unternehmer mit der Warnung vor der Anwendung bei diesen Patienten in der Produktspezifikation eine eigene Haftung ausschließt.
Erkrankung | Therapeutische Alternative |
---|---|
Demenz | Donepezil, Galantamin (nur Retard-Arzneiform), Memantin (nur Add-on) |
Depression | Citalopram, Escitalopram, Duloxetin, Bupropion |
Morbus Parkinson | Entacapon, Ropinirol, L-Dopa plus Carbidopa |
Psychosen | Risperidon, Haloperidol (nur akut) |
Ein besonderes Augenmerk sollte der Apotheker bei geriatrischen Patienten auf die Abgabe von rezeptfrei erhältlichen Kombinationspräparaten legen. Ein erhöhtes Risiko kann beispielsweise von abschwellend wirkenden Zusatzstoffen wie Ephedrin in gängigen Erkältungspräparaten ausgehen. Sie können zentral anticholinerge Effekte auslösen oder bei einer Hypertonie zum Blutdruckanstieg führen.
Ungeeignete Arzneiformen
Auch wenn die sozialrechtlichen Grenzen sehr eng gefasst sind, so trägt der Apotheker als Arzneimittelfachmann doch wesentliche Verantwortung bei der Auswahl der richtigen Arzneiform. Bei Älteren sind mögliche Defizite in der Feinmotorik, Schluckbeschwerden und abnehmende Sinnesleistungen als limitierende Faktoren zu beachten.
Ein umfassendes Medikationsreview ist Voraussetzung für die Identifizierung von arzneimittelbezogenen Problemen. Mit der computerbasierten Erfassung können Übertragungsfehler vermieden und die Informationen gleichzeitig dem Apotheker und dem Arzt zur Verfügung gestellt werden.
Foto: T. Fiß
Aufgrund häufiger feinmotorischer Defizite fällt es ihnen oft schwerer, kindersichere Behälter selbstständig zu öffnen (Näheres lesen Sie im Titelbeitrag der PZ 26/2007). Hier empfiehlt es sich, Packungen bedarfsweise bereits in der Apotheke leicht zu öffnen, um die Entnahme im Akutfall zu erleichtern. Dabei sind natürlich spezifische Lagerungshinweise des pharmazeutischen Unternehmers zu beachten. Einige Firmen haben bereits reagiert und Primärverpackungen mit Griffrillen versehen, die mithilfe eines Stifts das Öffnen erleichtern.
Einige Insulinpens erfordern einen großen Kraftaufwand (Beispiel: Optipen®; Innovo®) oder sind teilweise mit sehr kleinen Displays ausgestattet. Einen guten Kompromiss zwischen Kraftaufwand und Dosiergenauigkeit stellt der Innolet® mit dem großen Einstellrad, das an eine Eieruhr erinnert, und dem vergleichsweise geringen Kraftaufwand für die Auslösung dar.
Manche Inhalativa erfordern die Koordination von Auslösung und Inhalation, was nicht nur Älteren häufig schwerfällt. Zur Erleichterung kann der Apotheker entweder einen Spacer empfehlen oder die Verordnung eines Atemzug-getriggerten Inhalators anregen.
Bei Patienten mit Schluckbeschwerden sind Dispers-Tabletten, Säfte oder Tropfen zu bevorzugen. Bei Bedarf können diese meist einem Getränk oder dem Essen beigefügt werden. Vorsicht ist geboten bei polyvalenten Kationen in der Nahrung, da die Gefahr der Komplexbildung besteht. Ebenso gibt es Einschränkungen im Einzelfall: So dürfen Risperidon-Tropfen laut Fachinformation nicht in Schwarz- oder Grüntee verabreicht werden.
Klagt der Patient in der Apotheke über Probleme beim Umgang mit einer Arzneiform, kann der Apotheker diese im Rahmen von pharmazeutischen Bedenken austauschen beziehungsweise den Austausch gegen ein schlecht handhabbares Rabattarzneimittel ausschließen. Die Möglichkeit, pharmazeutische Bedenken als Austauschgrund gegen die Umsetzung der Rabattverträge zu nutzen, wird viel zu selten ausgeschöpft.
Wenn ein Patient seine Arzneimittel nicht mehr selbstständig einnehmen kann und keine pflegende Person im Haushalt lebt, kann der geschulte Pflegedienst die Arzneimittelgabe im Rahmen der häuslichen Krankenpflege (§ 37 SGB V) übernehmen. Der Arzt muss dies verordnen. Die Möglichkeiten reichen vom Stellen einer Tagesdosette und selbstständiger Entnahme durch den Patienten bis zur Verabreichung von Insulinspritzen durch den Pflegedienst. Auch die Hilfe beim Einnehmen nicht-verschreibungspflichtiger Arzneimittel durch den Pflegedienst muss die Krankenkasse bezahlen (Az: B3KR25/08R).
Therapeutische Alternativen
Der Grundsatz der Pharmakotherapie »Start low, go slow« gilt umso mehr bei der Therapie von Älteren. Teilweise ist eine Dosisreduktion um 30 bis 75 Prozent notwendig, zum Beispiel bei Antihypertonika. Wie stark die Dosis eines Arzneistoffs reduziert werden muss, wird anhand der Organfunktion individuell entschieden. Dennoch: Viele Wirkstoffe sind grundsätzlich zu meiden.
Nur auf den ersten Blick gut sortiert: Diese Medikamentenbox einer Patientin beinhaltet zwei Doppelmedikationen, drei Schmerzmittel und mehrere verfallene Medikamente.
Foto: T. Fiß
Als sinnvolle Ergänzung zur PRISCUS-Liste ist die vor zwei Jahren von Stefanacci unter Beteiligung von Beers und Kollegen veröffentlichte Liste von 13 geeigneten Medikamenten zur Behandlung psychiatrischer Alterskrankheiten empfehlenswert (14). In der Beratung mit dem Arzt kann der Apotheker auf Basis dieser Liste sinnvolle Änderungsvorschläge machen. Besonderen Wert haben die Autoren auf die Auswahl der Arzneiform gelegt und sprachen sich häufig für Formulierungen mit verzögerter Wirkstofffreisetzung aus.
Für die Behandlung der Depression werden die selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer Citalopram, Bupropion (nur als Retard-Formulierung) und Duloxetin empfohlen (Tabelle 4). Eine Reihe weitverbreiteter Antidepressiva ist laut Expertenmeinung schlichtweg durchgefallen, unter anderem Amitriptylin, Clomipramin und Imipramin. Bei Morbus Parkinson stehen Entacapon, Ropinirol und L-Dopa in Kombination mit Carbidopa als Alternativen zur Verfügung. Als Therapeutika bei Demenz sind Donepezil und Galantamin die erste Wahl. Für Patienten mit Schluckbeschwerden stehen manche Antidementiva auch als TTS, Tropfen oder Schmelztablette zur Verfügung.
Arbeiten im Netzwerk
Es gibt eine Reihe potenziell ungeeigneter Medikamente, Kombinationen und Arzneiformen, aber auch therapeutische Alternativen für geriatrische Patienten. Umfangreiche, weiterführende evidenzbasierte Informationen stehen in den Fachmedien zur Verfügung. Der Apotheker kann und sollte sein fundiertes Wissen in interdisziplinären Netzwerken zur Verfügung stellen. Mögliche Interventionen und Interventionsvorschläge sollte er dokumentieren und dem (Haus-)Arzt schriftlich zur Verfügung stellen. Hierfür hat der Erstautor dieses Titelbeitrags einen Dokumentationsbogen entwickelt und an 524 Hausbesuchspatienten getestet. Dieser Bogen kann kostenfrei bezogen und angepasst werden (E-Mail senden an: thomas.fiss(at)dzne.de).
Künftig sollte das Konzept des Medikationsmanagements unter Beteiligung des Hausapothekers gestärkt werden. Kürzlich erschien hierzu ein gemeinsames Statement und Konzept von ABDA und KBV, das dieser Forderung Nachdruck verleiht.
In einem nächsten Schritt ist die Entwicklung hin zu einem indikationsspezifischen Medikationsmanagement sinnvoll. Derzeit startet in Mecklenburg-Vorpommern die Studie DelpHi-MV, die vom CIDC, einer wissenschaftlichen Kooperation des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen und den Universitäten Rostock und Greifswald, organisiert wird. In dieser Cluster-randomisierten Interventionsstudie soll die Medikation bei etwa 1000 geriatrischen Demenz-Patienten in einem Netzwerk aus Hausarzt und lokaler Apotheke erfasst und optimiert werden.
Zudem ist es dringend notwendig, elektronische Verordnungssysteme mit einer Vernetzung der Heilberufler in der Praxis umzusetzen. Im Ausland gibt es bereits positive Erfahrungen, dass sich die Arzneimitteltherapiesicherheit dadurch deutlich verbessern lässt.
Trotz aller sozialrechtlichen »Unwegsamkeiten« ist festzuhalten: Die Entwicklung und Veröffentlichung der PRISCUS-Liste bedeutet einen wichtigen Schritt zur Verbesserung der Pharmakotherapie von alten Menschen. Nun gilt es, pharmazeutische Kompetenz im Alltag zu beweisen. /
Thomas Fiß studierte von 2001 bis 2005 Pharmazie in Greifswald und absolvierte von 2009 bis 2010 den Masterstudiengang Consumer Health Care an der Charité Berlin. Nach Diplom und praktischem Jahr in Essen beschäftigte er sich in seinem Promotionsstipendium mit Arzneimittel-bezogenen Problemen bei Hausbesuchspatienten. Seit 2010 arbeitet Dr. Fiß für das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen in der Helmholtz-Gemeinschaft und untersucht dort die Effektivität des Medikationsmanagements bei Demenzpatienten (Studie DelpHi-MV).
Charlotte Kloft studierte Pharmazie in Mainz und wurde an der FU Berlin promoviert (Ernst-Reuter-Preis). Von 1997 bis 1999 war sie in der Abteilung Clinical Pharmacokinetics bei Sanofi-Aventis in Frankfurt/M. tätig. 2002 und 2003 verbrachte sie mehrere Forschungsaufenthalte am Departement of Pharmaceutical Biosciences der Universität Uppsala. 2003 erhielt sie die Venia legendi im Fach Klinische Pharmazie und war von 2005 bis 2011 Professorin für Klinische Pharmazie in Halle-Wittenberg. Im April 2011 nahm sie einen Ruf an die FU Berlin an. Dort wird Professor Kloft ihren Forschungsschwerpunkt Systembiologische Pharmakometrie etablieren und in Forschungsverbünden, zum Beispiel dem EU-Projekt DDMoRe, weiter ausbauen sowie in der Lehre neue Akzente setzen.
Für die Verfasser:
Dr. Thomas Fiß
Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen
in der Helmholtz-Gemeinschaft e. V. (DZNE)
Teilstandort des Standortes Rostock/Greifswald
Ellernholzstraße 1-2
17487 Greifswald
thomas.fiss@dzne.de