Neuer Rahmen für die Therapie |
20.06.2018 11:32 Uhr |
Von Annette Mende / Die Empfehlungen zu Diagnose und Therapie der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) sind übersichtlicher geworden. Wo vorher verschiedene Leitlinien für Kinder und Jugendliche beziehungsweise Erwachsene nebeneinander existierten, gilt nun eine gemeinsame Leitlinie für alle Altersgruppen.
Die S3-Leitlinie »Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Kindes,- Jugend- und Erwachsenenalter« ist noch nicht veröffentlicht, liegt der PZ aber bereits vor. Sie ist ein Mammutwerk mit – in der Langfassung – 198 Seiten, an dem diverse Fachgesellschaften und Verbände mitgearbeitet haben. Koordiniert wurde das Ganze von Professor Dr. Tobias Banaschewski, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim.
Drei Kernsymptome
Kinder mit Arzneimitteln ruhigzustellen, ohne sich um sie zu kümmern, ist nicht das Therapieziel bei ADHS. Die Pharmakotherapie ist stets nur eine Komponente einer umfassenden Betreuung.
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Kennzeichnend für die ADHS sind laut der Leitlinie die drei Kernsymptome Aufmerksamkeitsstörung und/oder Impulsivität und Hyperaktivität, die bezogen auf das Alter und den Entwicklungsstand des Patienten das normale Ausmaß übersteigen. Die Symptome treten situationsübergreifend auf, also beispielsweise nicht nur in der Schule, sondern auch zu Hause und in der Freizeit. Eine weitere Voraussetzung für die Diagnose ist, dass der Betroffene deutlich unter der Störung leidet oder in seiner sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsfähigkeit eingeschränkt ist.
Solcherart betroffen sind in Deutschland etwa 5 Prozent der Kinder und Jugendlichen, was ziemlich genau dem internationalen Durchschnitt von 5,3 Prozent entspricht. Im Laufe der Entwicklung vom Kind zum Jugendlichen und weiter zum Erwachsenen verändert sich häufig die Symptomatik. Kinder mit ADHS fallen meist dadurch auf, dass sie nicht stillsitzen können. In der Pubertät legt sich diese äußere Hyperaktivität oft und geht in eine innere Unruhe und Fahrigkeit über, die auch im Erwachsenenalter weiter bestehen kann. Laut der Leitlinie zeigen 50 bis 80 Prozent der Kinder mit ADHS auch als Erwachsene noch Symptome, ein Drittel sogar das Vollbild der Störung.
Die Prävalenz von ADHS im Erwachsenenalter liegt in Deutschland etwa bei 2,5 Prozent, wobei unklar ist, wie groß in dieser Gruppe der Anteil derjenigen ist, die erst als Erwachsene Symptome entwickelt haben. Einem Bericht der »Ärzte Zeitung« zufolge mehren sich die Hinweise aus Beobachtungsstudien, dass Erwachsene und Kinder mit ADHS in der Regel unterschiedliche Personen sind. Hierzu äußert sich die Leitlinie nicht, »Studien zu im Erwachsenenalter beginnender ADHS ohne vorhergehende ADHS-Symptome in der Kindheit« wird aber als einer von mehreren Punkten mit bestehendem Forschungsbedarf genannt.
Forschungs-Wunschliste
Auf dieser Forschungs-Wunschliste der Leitlinienautoren tauchen auch »vergleichende Pharmakotherapiestudien (Head-to-Head-Studien) verschiedener zur Therapie der ADHS zugelassener Medikamente« auf. Hier stehen als Fertigarzneimittel momentan fünf Wirkstoffe zur Verfügung: die Stimulanzien Methylphenidat (Ritalin® und andere) und Dexamfetamin (Attentin®) beziehungsweise sein Prodrug Lisdexamfetamin (Elvanse®), die auf BtM-Rezept verordnet werden müssen, sowie die Nicht-Stimulanzien Atomoxetin (Strattera®) und Guanfacin (Intuniv®). Methylphenidat wirkt als Noradrenalin- und Dopamin-Wiederaufnahmehemmer, Dexamfetamin ist ein Sympathomimetikum, Atomoxetin verhindert selektiv die Noradrenalin-Wiederaufnahme und Guanfacin senkt als Derivat des Clonidins den Sympathotonus.
Vor allem Jungen mit ADHS haben einen übermäßigen Bewegungsdrang. Mädchen sind dagegen häufig verträumt und bekommen gar nicht mit, was um sie herum geschieht.
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In aller Regel erfolgt eine Pharmakotherapie bei ADHS zunächst mit Methylphenidat, wobei Ärzte und Eltern besonders auf Anzeichen der häufigen Nebenwirkungen Blutdrucksteigerung, Appetitminderung und Wachstumsstörung achten sollen. Die Amfetamin-Derivate dürfen erst nach Versagen von Methylphenidat verordnet werden und Guanfacin erst nach einem erfolglosen Behandlungsversuch mit Stimulanzien. Prinzipiell sollen Antipsychotika bei ADHS-Patienten nicht angewendet werden, bei stark ausgeprägter Impulskontrollstörung und aggressivem Verhalten kann aber die kurzfristige, befristete Gabe von atypischen Neuroleptika erwogen werden. Für eine Empfehlung anderer Wirkstoffe, etwa SSRI, Modafinil, Selegilin oder Bupropion reicht die vorhandene Evidenz laut der Leitlinie nicht aus. Gleiches gilt für Cannabis, das deshalb nicht eingesetzt werden soll.
Nicht einfach austauschen
Präparate mit Methylphenidat gibt es von diversen Herstellern als retardierte oder unretardierte Formulierungen. Langwirksame Zubereitungen müssen weniger häufig gegeben werden, was sie benutzerfreundlicher macht und deshalb unter Umständen die Adhärenz verbessert. Das kann vor allem relevant sein, wenn ansonsten eine Einnahme in der Schule notwendig wäre – Stichwort Stigmatisierung. Unretardierte Präparate ermöglichen dagegen eine höhere Flexibilität im Dosierungsschema, was vor allem in der initialen Titrierungsphase vorteilhaft sein kann. Explizit weist die Leitlinie darauf hin, dass sich die Freisetzungskinetik von Retardformen verschiedener Anbieter unterscheidet. Für Apotheker bedeutet das, dass sie nicht ohne Weiteres ausgetauscht werden können.
Die Gabe von Medikamenten sollen Ärzte laut der Leitlinie Patienten mit mittelschwer ausgeprägter Symptomatik alternativ zu oder in Kombination mit einer intensivierten psychosozialen Intervention anbieten. Bei schwerer ADHS soll nach einer intensiven Psychoedukation sogar primär eine Pharmakotherapie angeboten werden. Lediglich bei nur leicht ausgeprägter Symptomatik setzt die Leitlinie primär auf psychosoziale Methoden und sieht Arzneimittel nur in Einzelfällen vor.
Diese Empfehlungen zur medikamentösen Therapie gehen teilweise über die bisher geltenden hinaus – und werden deshalb höchstwahrscheinlich Kritiker auf den Plan rufen, die den angeblich zu leichtfertigen Einsatz der »Zappelphilipp-Pillen« anprangern. »Häufig wird angenommen, dass damit nur lebhafte Kinder ruhiggestellt werden sollen«, verteidigte Banaschewski gegenüber der »Süddeutschen Zeitung« bereits vorab die neue Leitlinie. »Aber bei einer echten ADHS darf auf eine effektive Therapie nicht verzichtet werden.«
Um der zu erwartenden Kritik zuvorzukommen, verweisen die Leitlinienautoren zudem auf das britische National Institute for Health and Care Excellence (NICE) und die US-amerikanischen Fachgesellschaften American Academy of Child and Adolescent Psychiatry und American Academy of Pediatrics. Sie alle empfehlen mittlerweile eine Pharmakotherapie unabhängig vom Schweregrad der ADHS. Verglichen damit müsse die deutsche Empfehlung als konservativ gelten.
Auffällige Kinder mit Medikamenten ruhigzustellen statt sich mehr um sie zu kümmern, ist jedenfalls nicht das Ziel der Leitlinie. Der Pharmakotherapie übergeordnet ist stets ein multimodales therapeutisches Gesamtkonzept, das die individuellen Stärken und Probleme des Patienten berücksichtigt. Kinder unter drei Jahren sollen generell nicht medikamentös behandelt werden und auch bei älteren Kindern ist bis zur Einschulung die psychosoziale Betreuung prinzipiell erste Wahl. Werden Medikamente gegeben, muss alle sechs Monate überprüft werden, ob die Fortsetzung der Therapie indiziert ist.
Abgrenzung ist wichtig
Großen Wert legt die Leitlinie auch auf die Abgrenzung zu anderen psychischen Auffälligkeiten wie Störungen des Sozialverhaltens, Tic- oder Tourette-Störungen, Intelligenzminderung, Autismus, aber auch Angststörungen, Depressionen und bipolaren Störungen, die sich teilweise ähnlich äußern wie ADHS. Zu beachten sei auch, dass organische Erkrankungen wie Seh- oder Hörstörungen, Anfallsleiden oder Schilddrüsenfunktionsstörungen ebenfalls Verhaltensweisen auslösen könnten, die als ADHS fehlinterpretiert werden können. /