Herausforderung Insel-Apotheke |
18.06.2014 10:44 Uhr |
Von Christiane Berg, Helgoland / Die Insel-Apotheke auf Helgoland ist 365 Tage im Jahr rund um die Uhr dienstbereit. In Notfällen holen die Insulaner ihren Apotheker auch schon mal aus der Chorprobe. Inseltauglichkeit ist eine Grundvoraussetzung für diesen Job. Die PZ sprach mit dem ehemaligen Apothekenleiter und seinen Nachfolgern über die besonderen Herausforderungen der Arzneimittelversorgung mitten im Meer.
Ohne das Apothekennotdienst- Sicherstellungsgesetz (ANSG) und die Einführung der Notdienstpauschale hätten die Helgoländer jetzt ein Problem. Sie hätten keine Apotheke mehr. Nach 41 Jahren ist Insel-Apotheker Lutz Neumcke zum 1. April dieses Jahres in den Ruhestand gegangen. Die Nachfolgeregelung gestaltete sich schwierig. »Ob über Mund-Propaganda oder Chiffre: Wir haben lange gesucht«, sagte Neumcke im Gespräch mit der PZ. Als einziger Apotheker auf dem circa 60 Meter hohem roten Felsen 54° 11' nördlicher Breite und 7° 53' östlicher Länge in offener See müsse man nicht nur inseltauglich, sondern auch rund um die Uhr erreichbar sein. »Für die meisten Festländer ist das nicht vorstellbar.«
Schließlich, so Neumcke, habe sich auf eine Stellenanzeige die Braunschweiger Apothekerin Isolde Maiwald-Hase gemeldet. Sie habe eine Sommer-Saison lang in der Insel-Apotheke gearbeitet und die 62 Kilometer nordwestlich der Elbmündung gelegene Nordsee-Insel wie schließlich auch ihr Mann, ebenfalls Pharmazeut, kennen und lieben gelernt. Maiwald-Hase und Carsten Hase haben nach reiflicher Überlegung die Zelte in ihrer Heimat abgebrochen und die Insel-Apotheke übernommen. Neumcke: »Hätten wir keinen Nachfolger gefunden, hätte es nur die Schließung der Apotheke gegeben«.
Neumcke selbst hat die Liebe zum Insel-Apotheker-Dasein von seinem Vater geerbt. Als aus Dresden Zugereister hatte dieser 1962 die Lummen-Apotheke auf dem Helgoländer Unterland gepachtet. In der väterlichen Apotheke lernte Lutz Neumcke nach seinem Studium der Pharmazie in Karlsruhe seine Frau Helga kennen, die damals bereits in der Lummen-Apotheke als PKA gearbeitet hat. Gemeinsam zogen sie 1973 mit neuem Namen in neue Räume aufs Oberland. 365 Tage im Jahr rund um die Uhr gewährleisteten sie dort über vier Jahrzehnte die pharmazeutische Betreuung und Versorgung der Inselbewohner mit Arzneimitteln.
Mit dem Patienten per Du
Man kennt sich auf dem 1,7 Quadratkilometer autofreien Eiland, auf dem »platt« oder »halunder«, das heißt im Helgoland eigenen Friesisch gesprochen wird. Mit den meisten Kunden und Patienten sind Neumckes, die direkt über der Apotheke wohnen, per Du. Auch in Zeiten ohne Handy wussten die Insulaner stets, wo Lutz Neumcke zu finden ist. Im Notfall haben sie ihn auch schon mal aus der Chorprobe oder vom Abendessen aus dem Restaurant geholt. Als die Töchter klein waren, konnte er mit der Familie sonnige Nachmittage am Strand der Düne, der Helgoland vorgelagerten Badeinsel, oder im eigenen Boot schippernd auf dem Wasser verbringen. Neumcke: »Das sind hier ja alles keine Entfernungen. Bei Bedarf war ich immer in kurzer Zeit zurück«.
Nicht zuletzt um den oftmals gefürchteten Arztbesuch zu umgehen, hätten die Insulaner zunächst meist ihm ihre Sorgen und Symptome geschildert. Im akuten Krankheitsfall, so Neumcke, hat er diese häufig selbst zu einer der zwei Allgemeinarzt-Praxen beziehungsweise in die auf Helgoland ansässige Paracelsus-Klinik gebracht. Das Vertrauensverhältnis sei stets eng gewesen.
Nachschub per Airline
Zwar ist die Paracelsus-Klinik auf die Behandlung neurologischer Bewegungsstörungen von Parkinson-Patienten spezialisiert. Doch übernimmt sie im Notfall auch die medizinische und (unfall-)chirurgische Betreuung sowohl der Insulaner als auch der Ferien-, Kur- und Tagesgäste. Die Insel-Apotheke ist für die Versorgung der Klinik mit Arzneimitteln zuständig. Dreimal in der Woche werden die Medikamente von den Fahrern des Rettungswagens abgeholt.
Ob Regel- oder Notfall: Während die am Vorabend bestellten Arzneimittel früher mit dem ersten Schiff vom Festland auf die Insel gelangten, kommen diese jetzt täglich mit der Airline der Ostfriesischen-Flug-Dienst GmbH aus Büsum oder Bremerhaven. Die zweimotorigen Maschinen landen auf der Düne. Zwischen Hauptinsel und Düne wiederum pendelt eine Fähre. Hier werden die Medikamente von der Insel-Apotheke übernommen und mit dem für Helgoland typischen Handkarren aufs Oberland gebracht.
Im Sommer wird der Alltag der Apotheke entscheidend auch von den Ankunftszeiten der Fähren aus Hamburg oder Cuxhaven geprägt. So kamen in den früheren Jahren täglich circa 10 000 Touristen. Heute, da die Anziehungskraft zollfreier Waren nachgelassen hat, sind es immer noch 2500 pro Tag. Vorbei an den berühmten Hummerbuden ergießen sich dann Menschenströme über Unter-, Mittel- und Oberland.
Bei Dünung und Seegang kann es bei der Anreise übers Meer heftig schaukeln. Wer mit dem Bäderschiff kommt, muss kurz vor der Insel in ein sogenanntes »Börteboot« umsteigen. Auch das kann schon mal zu quälenden Übelkeitsattacken führen. Viele Tagesgäste decken sich daher während des Inselrundgangs in der Apotheke nicht nur mit Sonnenschutzcremes, sondern auch mit Medikamenten gegen Reiseübelkeit ein.
Sonnen- und Lippenschutzcremes hat Neumcke wie einige andere Spezialitäten bis vor wenigen Jahren noch selbst hergestellt. Überhaupt seien es die Herstellung und Abgabe von Arzneimitteln sowie die soziale und menschliche Komponente, sprich die Beratung, Information und pharmazeutische Betreuung der Patienten gewesen, die ihn gemäß des Vorbildes seines Vaters bewogen hätten, den Apothekerberuf zu ergreifen.
Im Laufe der Jahre sei die Zeit für diese Berufsinhalte durch rechtliche Auflagen mehr und mehr beschnitten worden. Zu viel Bürokratie sei der Grund, warum er seinen eigenen Kindern von »der Apothekerei« abgeraten hat.
Nur vier Monate Saison
Überbordende bürokratische Maßnahmen sind es, die auch seinen Nachfolgern sowohl das Berufsleben als auch den Gang in die Selbstständigkeit erschweren. »Im Grunde genommen ist ein solcher Schritt heutzutage unzumutbar. Es ist kein Wunder, dass niedergelassene Ärzte und Apotheker über Nachwuchsprobleme klagen«, so Hase. Lange hätten er und seine Frau das Für und Wider erwogen.
»Eine durchschnittliche Apotheke versorgt 4000 Menschen, hier sind es nur 1300. Die Saison ist nur vier Monate lang«. Zu bedenken war auch, dass die Apotheke jetzt zwei Approbierten-Gehälter abwerfen muss. Hase betont, dass sich die Übernahme der Insel-Apotheke ohne Einführung der Notdienstpauschale für ihn und seine Frau betriebswirtschaftlich nicht gerechnet hätte. Sie hätten den Sprung schließlich dennoch gewagt, da auf der Insel nicht zuletzt auch für ihr persönliches Lebensgefühl mit Stille, Natur, Himmel, Weite, Licht und Meer vieles zusammenkommt.
In der Apotheke will das Ehepaar Hase bis auf einige organisatorische Abläufe zunächst alles so belassen, wie es ist. Es sei ihnen wichtig, nach außen »Konstanz und Kontinuität« zu zeigen. Daher, so Hase, seien sie auch froh über die Unterstützung der zwei, den Helgoländern seit Jahr(zehnt)en bekannten PTA, Silke Siemens und Birga Geuther.
Mehr denn je, so Hase, schlage er sich seit Übernahme der Apotheke mit Auflagen, Papieren, Protokollen und Formularen herum. Insbesondere die Präqualifizierung zur Hilfsmittelversorgung könne jeden Spaß am Berufsleben vereiteln. Auch die gemäß Apothekenbetriebsordnung erforderliche Dokumentation sprenge jeden vernunftgemäßen Rahmen. »Reichte für die Dokumentation der Fertigarzneimittelprüfung zuvor eine Zeile, so muss jetzt eine ganze Seite ausgefüllt werden. Das sind mal eben 300 Seiten mehr Schreibarbeit im Jahr.«
Überbordende Bürokratie
Da die Medikamentenlieferung wetterbedingt vor allem im Frühjahr und Herbst oftmals ausfällt, muss die Lagerhaltung der Insel-Apotheke umfangreich sein. Von Haus aus aufwendig wird sie durch die Rabattverträge noch zusätzlich verkompliziert, so Hase. Auch wenn der Vermerk »Dringend« beziehungsweise »Rabattarzneimittel zurzeit nicht verfügbar« im gegebenen Fall begründet werden kann, bedeute die Diskussion mit den Krankenkassen unter Umständen einen erheblichen Mehraufwand.
Gedanken, so Hase, mache er sich schon heute auch über die Personalfrage. »Geht Birga Geuther im Herbst in den Ruhestand, so wird es nicht einfach sein, eine neue PTA zu finden, die ebenfalls dauerhaft auf Helgoland bleiben will. Doch auch da wird sich eine Lösung finden.« Grundsätzlich, so Hase, hängt die Zukunft der Apotheke auf Helgoland vor allem davon ab, »dass die Bürokratie und der Dokumentationswahn nicht noch mehr überhandnehmen, dass die Politik in Berlin nicht noch weitere abenteuerliche beziehungsweise unerfüllbare Vorschriften erlässt und dass die (Notdienst-)Vergütung der Apotheker nach sowieso nur langsamer und unzureichender Anpassung in den nächsten Jahren nicht möglicherweise gar wieder gedeckelt wird«. /
Kritiker bezweifeln, dass der Versandhandel Apotheken auf dem Land bedroht.
Foto: Imago/imagebroker
Unter dem Logo Kennzeichen A startet die PZ eine neue Serie, in der Apotheken vorgestellt werden, die ihre Patienten unter besonderen Bedingungen mit Arzneimitteln versorgen. Den Auftakt macht die Insel-Apotheke auf Helgoland.