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EU-Verordnung

Mit Zuckerbrot und Peitsche

02.06.2009  10:32 Uhr

Da die abbauenden Enzyme bei Neugeborenen (0 bis 27 Tage) aber noch nicht ausgereift sind, kann eine körpergewichtsadaptierte Chloramphenicol-Erwachsenendosis bei ihnen zur Überdosierung beziehungsweise Chloramphenicol-Vergiftung führen. Das sogenannte Grau-Syndrom äußert sich durch bleiche (»graue«) Hautfarbe, einen aufgetriebenen Leib und Herzkreislaufkollaps.

 

Auch Unterdosierung möglich

 

Andererseits kann im Säuglingsalter (1 bis 24 Monate) auch das Problem der Unterdosierung auftreten. Der Grund: Während das Körpervolumen noch klein ist, ist die Ausscheidungsgeschwindigkeit eines Arzneistoffs bereits sehr hoch (siehe dazu Abbildung). »Um die gleiche Wirkung zu erzielen, brauchen wir in diesem Fall also höhere Dosen«, so Läer. So hatte eine im »European Journal of Clinical Pharmacology« (2001, Band 15, Seiten 181 bis 182) veröffentlichte Untersuchung ihres Teams ergeben, dass zum Beispiel ein Erwachsener mit 2 mg/kg Körpergewicht Sotalol auskommt. Dagegen benötigt ein Säugling im Alter von fünf Monaten bis zu 7,8 mg/kg Körpergewicht, um in den therapeutischen Bereich zu gelangen.

 

Im Folgenden machte Läer deutlich, dass ein Blick in die Fachinformation nicht unbedingt die Lösung bringt, wenn man nach Dosierungsangaben für Kinder sucht. Bei Kardiaka zum Beispiel gebe es schwerpunktmäßig überhaupt keine gesicherten Informationen für die Dosierung bei Kindern unterschiedlicher Altersgruppen. Der Off-Label-Gebrauch sei hier eher die Regel als die Ausnahme. »Je kleiner und je kränker die Kinder sind, desto höher ist der Prozentsatz an Off-Label-Verordnungen«, fasste Läer zusammen. Auf einer Neugeborenen-Intensivstation liege er zum Beispiel bei 90 Prozent.

 

Paradigmenwechsel im Jahr 2007

 

»Eine Studie im Jahr 2000 ergab, dass etwa die Hälfte der zur Behandlung bei Kindern eingesetzten Arzneimittel nicht an Kindern geprüft und auch nicht für Kinder zugelassen sind«, konkretisierte Dr. Andreas Franken vom Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller (BAH). Bis 2007 habe es auch keine verbindliche Verpflichtung gegeben, Arzneimittel für Kinder zu entwickeln. »Anreizsysteme, die eine entsprechende klinische Erforschung interessant gemacht hätten, gab es jedoch auch nicht«, informierte Franken. Mit der Verordnung 1901/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Kinderarzneimittel hat sich das grundlegend geändert. Die Durchführung von klinischen Studien an Kindern bei neuen Arzneimitteln ist nun grundsätzlich verpflichtend. Dazu muss ein pädiatrisches Prüfkonzept (PIP), das die geplante Erforschung des Arzneimittels für die Anwendung bei Kindern beschreibt und alle pädiatrischen Altersgruppen berücksichtigt, vorliegen. »Dieses muss genehmigt und dann genau befolgt werden«, so Franken. Einzige Ausnahmen seien die Freistellung, zum Beispiel bei fehlender Relevanz für pädiatrische Bevölkerungsgruppen, und die Zurückstellung. Letztere sei zum Beispiel möglich, wenn noch eine Studie mit Erwachsenen vor Kinderstudien angezeigt ist.

 

Verlängerter Patentschutz

 

Auch bei bereits zugelassenen Arzneimitteln können Studien mit Kindern nun verpflichtend sein. Und zwar dann, wenn ein Arzneimittel noch patentgeschützt ist, und ein Antrag auf Genehmigung neuer Indikationen einschließlich pädiatrischer Indikationen, neuer Darreichungsformen oder neuer Verabreichungswege gestellt wird. »Diese Verpflichtung erstreckt sich dann sowohl auf die bestehenden als auch auf die neu beantragten Indikationen, Darreichungsformen und Verabreichungswege«, informierte Franken. Ausnahmen bestehen unter anderem für Generika, traditionelle pflanzliche Arzneimittel und Homöopathika.

 

Für neue Arzneimittel und für patentgeschützte Arzneimittel gilt: Wenn alle Maßnahmen des gebilligten pädiatrischen Prüfplans durchgeführt wurden, das Arzneimittel in allen Mitgliedstaaten zugelassen ist und einschlägige Informationen über die Ergebnisse von Studien in den Produktinformationen angeführt sind, wird eine sechsmonatige Verlängerung des Schutzzertifikats gewährt. »Da der Bonus für die Durchführung von pädiatrischen Studien und nicht für den Nachweis gewährt wird, dass ein Arzneimittel bei Kindern unbedenklich und wirksam ist, wird er auch dann erteilt, wenn die pädiatrische Indikation nicht zugelassen wird«, so Franken. In diesem Fall muss der Zulassungsinhaber aber einschlägige Informationen über die Verwendung in pädiatrischen Bevölkerungsgruppen in die Produktinformation des Arzneimittels aufnehmen. Bei Orphan Drugs wird die zehnjährige Marktexklusivität sogar um zwei Jahre verlängert, wenn den Anforderungen an die Daten zur Verwendung bei Kindern voll entsprochen wird.

 

Last but not least eröffnet die Verordnung über Kinderarzneimittel auch »alten« Arzneimitteln, für die keine gewerblichen Schutzrechte mehr gelten, die Möglichkeit, eine eigenständige Kinderzulassung zu erhalten. Einer solchen »Zulassung für die pädiatrische Verwendung« (PUMA) stehe sogar der Weg zum zentralen Zulassungsverfahren für ganz Europa offen. Vorgelegt werden können zum Beispiel Daten in Übereinstimmung mit einem gebilligten pädiatrischen Prüfkonzept, die aus der veröffentlichten Fachliteratur oder aus neuen Studien stammen.

 

Erfreulicherweise ist die Zahl der Zulassungen seit Inkrafttreten der Verordnung deutlich gestiegen. Doch längst sind nicht all Lücken in der »Kinderapotheke« geschlossen.

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