Wer nicht lesen kann, wird krank |
23.05.2018 10:18 Uhr |
Von Ulrike Abel-Wanek / Beipackzettel, Hygienevorschriften oder Therapieempfehlungen: Wer sie nicht lesen kann, gefährdet seine Gesundheit. 7,5 Millionen Erwachsene zählen in Deutschland zu den sogenannten funktionalen Analphabeten, die Mühe haben, zusammenhängende Texte zu verstehen. Ein Kooperationsprojekt der Stiftung Lesen und des AOK-Bundesverbands will das ändern.
»Beim Projekt »Heal« kommen Gesundheits- und Bildungswesen zusammen«, sagt Dr. Kai Kolpatzik, Leiter der Abteilung Prävention beim AOK-Bundesverband und Mit-Initiator des Projekts. Heal steht für Health Literacy im Kontext von Alphabetisierung und Grundbildung. Literacy oder deutsch: »Literalität«, heißt so viel wie Lese- und Schreibfähigkeit beziehungsweise Bildung. Fehlen kulturell fest verankerte Kompetenzen wie das Lesen und Schreiben, sprechen Fachleute von sogenannter Illiteralität.
Mehr als 54 Prozent der Menschen in Deutschland haben Probleme, Gesundheitsinformationen zu verstehen.
Foto: Fotolia/Antonioguillem
Im Rahmen von »Heal« trafen sich letzte Woche zahlreiche Experten aus dem Bildungs- und Gesundheitssektor zur ersten von zwei Fachtagungen in Berlin mit dem Ziel, Handlungsempfehlungen zu entwickeln, um dem funktionalen Analphabetismus in Deutschland entgegenzuwirken.* Die Initiative steht unter dem Dach der 2016 ausgerufenen Alpha-Dekade, mit der sich Bund, Länder und Partner aus Wissenschaft, Kultur und Gesundheit für die Verbesserung der Grundbildung in Deutschland einsetzen. Das Kooperationsprojekt und die Fachtagungen werden vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert.
Dass Illiteralität kein Einzelphänomen, sondern ein drängendes gesellschaftliches Problem ist, das struktureller Lösungen bedarf, brachte schon 2011 die ebenfalls vom BMBF geförderte Leo-Studie (Level-One-Studie) der Universität Hamburg an den Tag. Die Datenerhebung ergab, dass mit 7,5 Millionen Menschen zweimal mehr Erwachsene zwischen 18 und 64 Jahren mit Lese- und Schreibschwierigkeiten in Deutschland lebten als bis dahin angenommen wurde. 14,5 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung sind betroffen, davon gehen 60 Prozent einem Beruf nach. »Diese Menschen fallen kaum auf, haben geschickte Ausweichmechanismen aufgebaut und kommen auf den ersten Blick gut zurecht«, weiß Kolpatzik. Die Mehrheit der Betroffenen hat Deutsch als Muttersprache. Die Bildungsbiografie spielt eine große Rolle beim funktionalen Analphabetismus. 50 Prozent der Betroffenen besitzen keinen oder einen niedrigen Schulabschluss, in vielen Fällen konnten schon die Eltern nicht richtig lesen und schreiben.
Im Gegensatz zu den rund 700 000 Analphabeten, die es in Deutschland gibt, verfügen funktionale Analphabeten über rudimentäre Kenntnisse des Lesens und Schreibens. Diese Kompetenzen sind aber zu gering, um sie »funktional« einzusetzen, das heißt, sie können damit nicht kommunizieren und sich keine Informationen beschaffen, um sie in ihren Alltag zu integrieren und beispielsweise ihre Lebensqualität zu erhöhen. Die Abfahrtszeit im Fahrplan heraussuchen, Speisekarten im Restaurant lesen oder einen Kassenbon im Supermarkt kontrollieren, stellt funktionale Analphabeten vor große Probleme. Ähnlich verhält es sich mit den Fragen zu Gesundheitsthemen. »Wie einfach ist es für Sie, die Informationen des Apothekers oder Arztes zu verstehen oder Informationen zur psychischen Gesundheit zu finden?« Eine 2012 auf EU-Ebene durchgeführte Fragebogen-Erhebung ergab, dass etwa jeder zweite der befragten EU-Bürger Probleme hatte, Gesundheitsinformationen zu finden, zu verstehen und zu werten. In Deutschland betrifft das 54,3 Prozent der Bevölkerung, so das Ergebnis einer repräsentativen Studie der Universität Bielefeld aus dem Jahr 2016.
Alfa-Telefon:
Die Kostenlose Hotline 0800 53334455 des Bundesverbands Alphabetisierung und Grundbildung bietet anonyme Beratung für Menschen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten und ihre Angehörigen.
Häufig in der Notaufnahme
Die Menschen mit niedriger Gesundheitskompetenz haben eine geringere Lebenserwartung als besser gebildete. Sie nehmen weniger Präventionsmaßnahmen in Anspruch, gehen häufiger zum Arzt und suchen öfter die Notaufnahme im Krankenhaus auf. Das macht laut Weltgesundheitsorganisation WHO drei bis fünf Prozent der Gesundheitsausgaben aus. »Für Deutschland heißt das: Neun bis 17 Milliarden der 342 Milliarden Euro, die wir im Jahr ausgeben, entfallen auf den Bereich der mangelnden Gesundheitskompetenz«, kritisiert Kolpatzik.
Die Grundkompetenzen von Literalität müssen wachsen, nicht nur aus Kostengründen. Angesichts voranschreitender Entwicklungen in allen Lebensbereichen, immer schneller werdenden Informationsflüssen, einschließlich Fehlinformationen, und einem komplexer werdenden Gesundheitssystem brauchen Menschen ausgeprägte Schriftsprachfähigkeiten, um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können und um sich gesundheitskompetent zu verhalten. »Der Auftrag, den wir vom BMBF bekommen haben, setzt bei diesen Grundkompetenzen an«, so Kolpatzik.
Navigationssysteme im Krankenhaus
»Das Thema Gesundheit geht jeden etwas an, egal ob er krank ist oder nicht«, sagt Dr. Simone Ehmig. Sie ist die Leiterin des Instituts für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen und vertritt als Mit-Initiatorin von »Heal« die Bildungsseite des Projekts. »Der Gesundheitsbereich bietet viele Anknüpfungspunkte für die Förderung von Lesen und Schreiben«, so die Bildungsexpertin. Ernährung, Bewegung und Sport seien Themen, mit denen man viele Menschen in der Erwachsenenbildung erreichen könne. Zudem seien sie wichtiger Bestandteil für die Krankheits-Prävention. »Wenn man sie mit Themen abholt, die ihren Alltag betreffen, lernen die Menschen Lesen und Schreiben fast beiläufig«, ist auch Kolpatzik überzeugt.
Die Gesundheitskompetenz von Menschen stärken, aber auch die Akteure im Gesundheitswesen für das Thema »Lese- und Sprachbarriere« sensibilisieren, sind die Ziele des Kooperationsprojekts. Wie kommt man beispielsweise in Krankenhäusern vom MRT zum Ultraschall, wenn man nicht lesen kann? »Einfache Navigationssysteme können Menschen mit niedrigen Lesekompetenzen hier helfen«, weiß Kolpatzik. Als einer von zehn Experten einer WHO-Arbeitsgruppe entwickelt er Konzepte, um das Gesundheitsverhalten von Organisationen und ihren Mitarbeitern zu steigern. Deutschland stehe da aber noch am Anfang. »International ist beispielsweise die sogenannte Teach-Back-Methode in Patienten-Gesprächen schon sehr verbreitet, das heißt, alles, was gesprochen wird, wird in freundlicher Form vom medizinischen oder pharmazeutischen Personal beim Patienten nachgefragt, ob es verstanden wurde«, erläutert der Experte. Sein Tipp für die Apotheke: Broschüren, Flyer und andere Kundeninformationen auf ihre Laienverständlichkeit hin überprüfen. Ist die Schrift der Texte groß genug? Würden Schaubilder und Grafiken den Inhalt der Informationen vielleicht verdeutlichen, damit auch Menschen mit geringen Lesekompetenzen ihn verstehen?
»Das Projekt soll weitreichende Impulse setzen«, sagt Kolpatzik. »Wir erarbeiten konkrete Handlungsempfehlungen gemäß des »Health in all Policies«-Ansatzes, die für alle gesellschaftlichen und politischen Bereiche Relevanz haben, nicht nur für die Bundesministerien für Gesundheit und für Bildung und Forschung.« Auch das Bundeskanzleramt sei bereits sehr interessiert an dem Thema. /
*) Fachtagung Health Literacy, 16. Mai 2018, Berlin; Fachtagung Food Literacy, 27. November 2018, Berlin
Von Ulrike Abel-Wanek / Wer bereits in jungen Jahren über Gesundheitskompetenz verfügt, erhöht auch seine Chancen auf ein gesundes Erwachsenenalter. Gesundheitsförderung sollte deshalb möglichst schon im Vorschul- und Grundschulalter beginnen.
Studentinnen des Studiengangs Diätologie der österreichischen Fachhochschule St. Pölten entwickelten für diese Altersstufe zwei Spiele, die es bis zur Marktreife brachten.
»FooDuo« und »FooMove« bringen Fünf- bis Sechs- beziehungsweise Acht- bis Zehnjähren das Thema gesunde Ernährung altersgerecht und unterhaltsam näher. Bei beiden Spielen wurde bei den Kindern während einer kleinen Pilotstudie ein Wissenszuwachs hinsichtlich ernährungsrelevanter Themen beobachtet.
Das Projekt basierte auf der wissenschaftlichen Methode »Game-based-learning«, das Bildungsinhalte anhand von Spielen mit fachspezifischen Inhalten vermittelt. »FooDuo« für Kinder im Vorschulalter funktioniert nach dem Prinzip eines Memory-Spiels und bildet die ursprüngliche Form eines Lebensmittels und seine verarbeiteten Produkte ab, beispielsweise Kuh und Milch oder Biene und Honig. Pro Bilderpaar unterstützen Hintergrundgeschichten und Fragen den Wissenserwerb der Spielenden: Was ist Calcium?
Wo ist es enthalten? Wofür ist es gut?
Das zweite Spiel für die acht- bis zehnjährigen Kinder ist ähnlich aufgebaut wie das bekannte »Activity« und wird durch Bewegungsübungen ergänzt. Die motorische Geschicklichkeit der Kinder hatte sich nach der mehrmonatigen Test- und Evaluierungsphase des Spiels ebenso verbessert wie der Wissenszuwachs zum Thema gesunde Ernährung.
Seit mehr als zehn Jahren gibt es darüber hinaus Im Nachbarland Österreich das Projekt »Gesunde Schule« mit dem Ziel, Gesundheit und Wohlbefinden schon im Kindesalter zu fördern.
Projektwebsite der FH St. Pölten: https://www.fhstp.ac.at/de/ forschung/projekte/gesunde- ernaehrung-ist-kinderleicht
Link zu den Spielen und Bestellmöglichkeiten: http://foomove.feldundhof.at