Pharmazeutische Zeitung online
Individualisierte Medizin

Der Wert von Biomarkern

14.05.2012  15:22 Uhr

Von Theo Dingermann / Erkenntnisse der Genomforschung und der Molekularbiologie werden die Medizin grundlegend verändern: von der Behandlung von Krankheiten hin zur Behandlung des individuellen Patienten. Biomarker ebnen den Weg zu einer individualisierten Medizin.

In der heutigen Schulmedizin wird »personalisiert«, aber kaum »individualisiert« behandelt. Denn Arzneimittel sind für Krankheiten zugelassen und folglich werden in erster Linie Krankheiten behandelt. Moderne Biomarker eröffnen neue Wege. Sie tragen dazu bei, die individuelle genetische Ausstattung eines Patienten zu erkennen, auf deren Basis sich eine Krankheit entwickelt hat, die ihrerseits typische genetische Charakteristika aufweisen kann.

Biomarker sind die modernen Werkzeuge einer individualisierten oder stratifizierten Medizin. Doch was bedeuten diese Begriffe eigentlich genau? Leider werden sie häufig synonym verwendet. In diesem Artikel wird »personalisiert« so verwendet, dass bei jeder Therapie persönliche anamnestische Daten in die Diagnose und die Therapie­ent­scheidung einfließen. »Individualisiert« be­deu­tet streng genommen, dass ein Wirk­stoff für einen einzelnen Patienten entwickelt wurde. Dabei kann es sich beispielsweise um einen Impfstoff handeln, der aus dem Tumor eines Patienten entwickelt wurde. Als »stratifizierte« Medizin bezeichnet man eine Gruppenbildung, um Patienten zu identifizieren, die aggressiver oder weniger aggressiv behandelt werden sollten, um Responder von Non-Respondern im Vorfeld einer Therapie zu unterscheiden oder um Patienten zu erkennen, die eine bestimmte Therapie nur schlecht oder gar nicht vertragen.

 

Genetische Daten werden mehr denn je Therapieentscheidungen leiten. Dabei sind zwei genetische Programme zu beachten:

 

Das eine ist abgelegt im sogenannten Keimbahngenom. Darunter versteht man die Kombination der zu gleichen Teilen von Vater und Mutter ererbten genetischen Information, die in allen etwa 1014 Zellen des Körpers identisch hinterlegt ist.

 

Das oder die anderen Programme sind Varianten des Keimbahngenoms, die durch zufällig erworbene Muta­tionen in einer einzelnen Zelle entstehen. Diese somatischen Mutationen können die Zelle und ihr Verhalten im Zellverband chaotisch verändern.

 

Diese genetischen Daten und die davon abgeleiteten Expressionsmuster können als Basis für eine Patienten-bezogene, eine individualisierte Therapie dienen. Somit werden genetische Biomarker in den Mittelpunkt der Diagnostik treten. Doch der Begriff »Biomarker« scheint zu polarisieren: Für die einen verbirgt sich dahinter eine Sammlung von Indikatoren, die für Therapieentscheidungen künftig unentbehrlich sind. Für die anderen ist der Begriff eine »Mogelpackung«, die von interessierten Kreisen benutzt wird, um immer teurere Therapiekosten zu rechtfertigen.

 

Forscher sind sich einig, dass Biomarker zu den wichtigsten Treibern pharmazeutischer Entwicklungen gehören. Biomarker helfen, Innovationen zu fördern, die Effizienz zu verbessern, Kosten einzusparen und sich gegenüber Konkurrenten besser zu positionieren.

 

Was sind Biomarker?

 

Ursprünglich verstand man unter Biomarkern physiologische Kenngrößen wie Körpertemperatur, Blutdruck oder Herzfrequenz, die ein physiologisches Ungleichgewicht bei einem Patienten signalisierten und als Symptome einer Krankheit anerkannt waren. Später weitete sich die Bedeutung aus auf bildgebende Verfahren, die Probleme mit bestimmten Organen oder Körperfunktionen aufzeigten.

 

Heute definiert man Biomarker meist als Moleküle, die aus Blut oder anderen Körperflüssigkeiten bestimmt werden, als eine Gensequenz oder eine Mutation, als ein mRNA-Expressionsprofil oder ein Proteinmuster – eine molekulare Signatur –, über die man Rückschlüsse auf den physiologischen Zustand eines Organismus ziehen kann. Das National Institute of Health (NIH) definiert Biomarker als Parameter, mit denen sich »eine Eigenschaft objektiv messen lässt, um sie als Indikator für normale biologische Prozesse, pathogene Prozesse oder pharmakologische Antworten auf eine therapeutische Intervention heranzuziehen« (1).

 

Hat eine Arzneimittelzulassungsbehörde einen Biomarker als Surrogat-Endpunkt anerkannt, kann dieser als Ersatz für einen klinischen Endpunkt verwendet werden. Beispiele sind der HI-Virustiter, der auf das Krankheitsstadium eines HIV-positiven Menschen schließen lässt, der LDL-Wert als Maß für das kardiovaskuläre Risiko, der Blutdruck als Grad der Gefährdung für einen Schlaganfall oder der HbA1C-Wert, über den sich die Einstellung eines Diabetes mellitus überprüfen lässt. Molekulargenetische Marker und Signaturen wie ein komplexes Proteinmuster oder ein Muster von mRNAs haben in aller Regel diesen Level noch nicht erreicht. Schließlich sind prognostische, prädiktive und pharmakodynamische/pharmakokinetische Biomarker zu unterscheiden (Grafik 1).

Ein prognostischer Biomarker bezieht sich auf bereits erkrankte Personen und erlaubt Aussagen über den zu erwartenden Krankheitsverlauf. Er identifiziert beispielsweise Patienten mit einem hohen Rezidivrisiko, die gegebenenfalls aggressiver zu behandeln sind als Patienten ohne diesen Marker.

 

Ein prädiktiver Biomarker erlaubt es, das Ansprechen eines individuellen Patienten auf spezielle Wirkstoffe vorherzusagen. Man untersucht Zielstrukturen für Wirkstoffe, zum Beispiel Enzyme, Ionenkanäle und Rezeptoren, um Abweichungen zu identifizieren, die die Interaktion des Wirkstoffs mit der Zielstruktur verändern. Oder man sucht nach Zielstrukturen für Arzneistoffe, die vorliegen müssen, wenn die Therapie mit einem bestimmten Arzneimittel sinnvoll sein soll; ein Beispiel ist eine Überexpression des Her2/neu-Rezeptors als Voraussetzung für die Gabe von Trastuzumab.

 

Ein pharmakodynamischer/pharmakokinetischer Biomarker ermöglicht es, individuelle Variationen in der Pharmakokinetik zu erkennen, um gegebenenfalls die Wirkstoffdosis individuell anzupassen. Dazu untersucht man die Gene, deren Produkte an der Resorption, Verteilung, Metabolisierung und Ausscheidung eines Wirkstoffs beteiligt sind. Solche Verände- rungen können die Homöo­stase von Wirkstoffen verändern, was entweder Unwirksamkeit (bei zu schneller Ausscheidung) oder Unverträglichkeit (bei verzögerter Ausscheidung) nach sich zieht.

 

Spätestens seit der FDA-Empfehlung 2003 zur Erhebung von pharmakogenetischen Daten in klinischen Studien (1) hat das Interesse der Pharmaindus­trie an der Entwicklung von diagnostischen Tests zugenommen. Mittlerweile werden in fast allen klinischen Studien genetische Daten analysiert. Bei manchen Medikamenten sind die Ergebnisse bereits im Beipackzettel dokumentiert und helfen bei der Pa­tien­ten­aus­wahl und der Dosierung. Beispiele sind Cetuximab und Panitumumab (EGFR-Expression, nicht-mutierte Form von K-ras), Erlotinib (EGFR-Mutation), Imatinib mesylat (c-kit-Expression) oder Trastuzumab (Her2/neu-Überexpression).

 

Die individualisierte Pharmakotherapie verspricht für den Patienten geringere Nebenwirkungen und höhere Wirksamkeit sowie für die Krankenkassen niedrigere Kosten. Damit könnte sie einen wichtigen Beitrag zur Effizienzverbesserung des Gesundheitssystems leisten.

 

Neue Dimension der Diagnostik

 

Diagnostik galt bisher als ein Verfahren, um eine bestehende oder vermutete Krankheit festzustellen. Heute ist sie durch das neue Instrumentarium der Gendiagnostik zunehmend in der Lage, bedenkliche Zustände im Vorfeld einer Krankheit oder einer Therapie, das heißt bei noch gesunden Menschen aufzudecken. Ferner lassen sich im Krankheitsfall anhand genetischer Informationen immer zuverlässiger Aussagen zum Verlauf einer Krankheit machen. Dies wird generell als vorhersagende (prädiktive) Diagnostik bezeichnet.

 

Ein prädiktiver Test in diesem Sinne zielt darauf ab, Genmutationen zu identifizieren, die sich nicht unmittelbar, sondern künftig auswirken können. Entweder kommt es wegen der Genommutation zu einem späteren Zeitpunkt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einer Krankheit, zum Beispiel der Chorea Huntington (prädiktiv-deterministische Diagnostik), oder das Eintreten einer bestimmten Krankheit wie familiärer Brustkrebs oder Morbus Alzheimer wird wahrscheinlicher (prädiktiv-probabilistische Diagnostik). Diese Tests sind äußerst umstritten, da sie bei gesunden Personen durchgeführt werden. Daher wird ihr Einsatz im Gendiagnostik-Gesetz (GenDG) restriktiv geregelt (2).

 

Prädiktive Gendiagnostik kann auch im Bereich der Arzneimittelwirksamkeit und -verträglichkeit eingesetzt werden (3). Durch eine möglichst umfassende Typisierung der individuellen biochemischen Parameter, die für die Verstoffwechselung von Arzneistoffen relevant sind, könnte man viele Probleme in der Arzneitherapie vermeiden. Dieser Ansatz ist als prädiktiv-deterministisch einzustufen. Sehr häufig lässt sich klar vorhersagen, welche Arzneimittel bei einem Patienten wirken oder nicht wirken können und welche gut vertragen oder teils schwere Nebenwirkungen auslösen werden.

Heißes Eisen: Prognostische Tests

Noch umstrittener als prädiktive sind prognostische Biomarker. Sie beanspruchen, Aussagen über den zu erwartenden Krankheitsverlauf zu treffen, um auf dieser Basis Patienten für Therapiealternativen zu stratifizieren.

 

Zwei komplexe prognostisch-dia­gnostische Tests (Oncotype DX® und MammaPrint®) erfassen genetische Informationen, die Ärzten helfen sollen, ein bestmögliches Behandlungsschema für Brustkrebspatientinnen auszuwählen. Der Test-Kit Oncotype DX® analysiert 16 Gene; damit soll es möglich sein zu erkennen, ob Frauen mit einem bestimmten Brustkrebstyp von einem bestimmten Therapieschema profitieren (4, 5, 6). Mit dem Test-Kit MammaPrint®, der das Expressionsmuster von 70 Genen misst, lässt sich das Risiko für die Entwicklung von Fernmetastasen bei Frauen mit Mammakarzinom ermitteln (7). Auf dieser Basis kann festgelegt werden, ob eine Chemoprophylaxe ausreichen wird oder ob wegen eines hohen Rezidivrisikos aggressiver therapiert werden sollte. Weitere Tests sind zum Beispiel CompanDx® und Mammostrat®.

Dieser Test ist unabhängig von einer Krankheit. Daher spricht nichts dagegen, dass ihn nicht nur Ärzte – wie bei einer krankheitsrelevanten Diagnostik – veranlassen und interpretieren sollten, sondern auch Apotheker. Als Arzneimittelfachleute verfügen sie über das nötige Know-how.

 

Prädiktive Tests in der Onkologie

 

Zu den mit Abstand bekanntesten Wirkstoffen, die einer individualisierten/stratifizierten Medizin zuzuordnen sind, gehören Trastuzumab (Hercep­tin®) mit HER2 als Zielstruktur und die beiden Antikörper gegen den Epidermalen Wachstumsfaktor-Rezeptor (EGFR), Cetuximab (Erbitux®) und Panitumumab (Vectebix®). Weder die Dia­gnose Mammakarzinom für Trastuzumab noch Kolonkarzinom für Cetuximab und Panitumumab sind hinreichende Kriterien für den Einsatz der Wirkstoffe. Vielmehr muss überprüft werden, ob es sich beim Mammakarzinom um eine Subpopu­lation des Tumors handelt, die den HER2/neu-Rezeptor stark überexprimiert. Dies ist nur bei 20 bis 30 Prozent der Mammakarzinome der Fall. Beim Kolonkarzinom ist zu überprüfen, ob EGFR nachweisbar ist, da es natürlich nur dann sinnvoll ist, einen Antikörper zu applizieren, der gegen diesen Rezeptor gerichtet ist.

 

Die mäßigen klinischen Erfolge, die trotz großer Plausibilität mit den EGFR-Antikörpern erzielt wurden, induzierten intensive Subgruppenanalysen. Dabei zeigte sich, dass Patienten deutlich besser von der Behandlung profitierten, wenn sie das Proto-Onkogen K-ras in der nicht-mutierten Variante (»Wildtyp«) hatten. Lag eine mutierte Variante vor, in deren Folge das Proto-Onkogen zum Onkogen umgewandelt wurde und damit permanent Wachstumssignale in den Zellkern schickte, sprach der Darmkrebs ganz schlecht auf die Anti-EGFR-Antikörper an (Grafik 2). Die klinische Bedeutung des neuen Biomarkers wurde so klar gezeigt, dass die Zulassungsbehörden die Indikation für die Antikörper daran anpassten.

Heute muss als Voraussetzung für den Einsatz von Cetuximab und Panitumumab bei Patienten mit Kolonkarzinom individuell gezeigt werden, dass der Tumor einerseits den EGFR exprimiert und andererseits die beiden K-ras-Genkopien in der Wildtyp-Sequenz, das heißt ohne aktivierende Mutationen trägt (8, 9). Dies halbiert nahezu die Gruppe der Patienten, für die die Antikörper infrage kommen. Andererseits sind die Erfolge statistisch gesehen deutlich größer, weil eine große Zahl funktioneller Non-Responder vorab identifiziert und von der Antikörpertherapie ausgeschlossen wurde.

 

In all diesen Fällen wird das pathologische Gewebe oder das durch erworbene, somatische Mutationen stark veränderte Keimbahngenom auf relevante Biomarker hin untersucht, bevor eine Therapieentscheidung getroffen wird. Es gibt aber auch Variationen im Keimbahngenom und damit im Genom aller Zellen, die pharmakokinetische Vorhersagen erlauben.

 

Pharmakokinetische Tests

 

Diese Diagnostik zielt auf das metabolische Potenzial eines Menschen. Es geht um Mutationen in Genen, die für Proteine kodieren, die Arzneistoffe entweder aktiv transportieren oder chemisch verändern. Eine chemische Modifikation kann in vivo nötig sein, um einen Arzneistoff für die Ausscheidung vorzubereiten oder einen inaktiven Wirkstoff (Prodrug) zu aktivieren.

 

Im Allgemeinen ist die »aktive Gendosis« – die Zahl der Gene, die für ein aktives Metabolisierungsenzym, zum Beispiel Cytochrom-P450-Enzyme, kodieren – proportional zur Metabolisierungsrate. Im Normalfall liegt je eine Genkopie für ein aktives Enzym auf den beiden homologen Chromosomen vor. Man bezeichnet diese Person für die betreffende chemische Reaktion als »extensive metabolizer (EM)«. Ist eine der beiden Genkopien so mutiert, dass sie für ein inaktives Enzym kodiert, sprechen wir von einem »intermediate metabolizer (IM)«. Sind beide Genkopien mutiert, resultiert der »poor metabolizer (PM)“-Phänotyp. Es kann auch vorkommen, dass eine Genkopie dup­liziert oder amplifiziert wurde: der »ultra rapid metabolizer (UM)“-Phänotyp (Tabelle).

Tabelle: Auswirkungen verschiedener CYP-Phänotypen auf die Arzneistoffgabe

CYP-Phänotyp Definition Mögliche Konsequenz bei Verabreichung einer aktiven Substanz ...eines Prodrugs
langsame Metabolisierer (PM) keine Enzymaktivität, zwei inaktive Allele mehr Nebenwirkungen bei normaler Dosis, da reduzierter Metabolismus und erhöhte Plasmakonzentration kein Ansprechen auf die Therapie, da weniger aktiver Metabolit als erwartet
intermediäre Metabolisierer (IM) verminderte Enzym­aktivität, ein inaktives Allel oder zwei mutierte Allele ähnliche, aber abgeschwächte Konsequenzen wie bei PM dito
extensive Metabolisierer (EM) normale Enzymaktivität, zwei Wildtyp-Allele erwartetes Ansprechen auf die Standarddosis dito
ultraschnelle Metabolisierer (UM) sehr hohe Enzym­aktivität, duplizierte aktive Allele therapeutische Plasmakonzentrationen mit Standarddosis nicht erreichbar, da Metabolismus verstärkt mehr Nebenwirkungen bei normaler Dosis, da erhöhte Plasmakonzentration des aktiven Metaboliten

Je nachdem, ob das Substrat für ein Metabolisierungsenzym ein Prodrug oder ein aktiver Wirkstoff ist, ergeben sich unterschiedliche Konsequenzen. So muss die Dosis eines Prodrugs bei einem PM-Phänotyp erhöht, bei einem UM-Phänotyp jedoch reduziert werden, um eine annähernd normale Wirksamkeit und Verträglichkeit zu erzielen. Umgekehrt ist es bei einem aktiven Wirkstoff. Bei einem Patienten mit PM-Phänotyp müsste die Dosis reduziert, bei einem UM-Phänotyp deutlich erhöht werden (10, 11).

 

Die Gene, die hier relevant sind, kodieren für Enzyme der Phase-I- und Phase-II-Metabolisierung. Das sind vor allem Cytochrom-P450-Isoenzyme (CYP), N-Acetyltransferase (NAT), Thiopurin-Methyltransferase (TPMT), Dihydropyrimidin-Dehydrogenase (DPD) und andere (Grafik 3). Einige weisen häufig Mutationen auf. Diese polymorphen Enzyme sind besonders zu beachten, wenn man individuelle Probleme bei der Arzneimittelwirksamkeit und -verträglichkeit verhindern will. Dazu einige Beispiele.

 

Aktivierung eines Prodrugs: Beispiel Tamoxifen

 

Der alte, sehr bewährte Wirkstoff Tamoxifen ist ein Prodrug, das im Organismus durch Cytochrom-P450-Enzyme in die Wirkform Endoxifen umgewandelt wird. Endoxifen blockiert den Estrogenrezeptor, der bei Mamma- und Ovarialkarzinomen eine ähnliche Rolle spielt wie der EGFR beim Kolonkarzinom: Er vermittelt Wachstumssignale.

Tamoxifen ist bei Frauen indiziert, die nach der Operation eines Estrogenrezeptor-positiven Tumors »chemopräventiv« behandelt werden sollen. Die Idee: Wenn Estrogenrezeptoren keine Wachstumsstimuli mehr in den Zellkern senden können, wird das Wachstum von Resttumorzellen blockiert. Die Frauen nehmen das Medikament jahrelang ein. Diese Strategie ist sehr erfolgreich – aber nicht so, wie theoretisch zu erwarten (12, 13). Denn einige Frauen können Tamoxifen nicht in die Wirkform Endoxifen umwandeln, weil ihre CYP2D6-Isoenzyme unzureichend aktiv sind.

Große retrospektive Studien haben gezeigt, wie dies fatal für die Frau sein kann. Die FDA empfiehlt inzwischen die genetische Testung von Patientinnen vor dem Einsatz von Tamoxifen. In Europa ist man hier deutlich zurückhaltender.

 

CYP2D6 und seine Substrate

 

Das Isoenzym CYP2D6 ist erheblich polymorph und kann daher vielfältige Probleme verursachen. Mindestens drei Mutationen führen zum kompletten Verlust der enzymatischen Aktivität: das CYP2D6*3-Allel, dem ein Nuk­leotid an Position 2549 fehlt (1 bis 4 Prozent der Kaukasier tragen diese Mutation), das CYP2D6*4-Allel, das an Position 1846 eine Mutation von Guanin zu Adenin trägt, wodurch ein Intron nicht mehr entfernt werden kann (12 bis 21 Prozent der Kaukasier) und das CYP2D6*5-Allel, das bei 1 bis 7 Prozent der Kaukasier komplett fehlt.

 

Ferner ist das CYP2D6UM-Allel relevant: Aufgrund einer Genduplikation wird besonders viel Enzym synthetisiert. Daraus resultiert ein UM-Phänotyp. Die Patienten müssen höhere Konzentrationen an Wirkstoff erhalten, aber eine geringere Dosis eines Prodrugs, da dieses sehr effizient in die aktive Form überführt wird.

 

Wie wichtig diese Mutationen beim Einsatz von Antidepressiva oder Neuroleptika sind, zeigt eine Arbeit von Kirchheiner und Mitarbeitern. Sie untersuchten viele Wirkstoffe und errechneten Dosisanpassungen (14) (Grafik 4). Daran erkennt man, wie stark die wirkäquivalenten Dosen je nach Metabolisierer-Phänotyp abweichen können.

Diagnostik – und erst recht Gendiagnostik – bekommt hier eine neue Qualität. Das klassische Terrain der krankheitsbezogenen Analyse wird ergänzt durch eine Diagnostik, die Aussagen darüber macht, ob und wie Arzneimittel bei einer bestimmten Person wirken können.

 

Veränderter Abbau von CYP2B6-Substraten

 

Mit starken unerwünschten Arzneimittelwirkungen müssen HIV-Patienten rechnen, die Efavirenz (zum Beispiel Atripla® und Sustiva®) einnehmen und Träger des CYP2B6*6-Allels sind. Die inaktive Variante führt dazu, dass Efavirenz deutlich langsamer metabolisiert und somit schlechter vertragen wird. Vor allem zentralnervöse Nebenwirkungen wurden beobachtet.

 

Das CYP2B6*6-Allel ist unter Afrikanern weiter verbreitet als unter Kaukasiern (15, 16).

 

Bedeutung des HLA-B*5701-Allels für HIV-Patienten

 

Ein ganz wichtiger Biomarker für HIV-Patienten ist das HLA-B*5701-Allel, das 5 bis 8 Prozent tragen. Erhalten sie den Wirkstoff Abacavir (zum Beispiel in Ziagen®, Trizivir®, Kivexa®), kann es zu einer potenziell tödlichen Multi-Organsystem-Hypersensitivität kommen. Im April 2008 legte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) fest, dass der Arzt durch einen Gentest das Vorhandensein dieses Markers ausschließen muss, bevor der Patient Abacavir bekommt.

 

Das BfArM zog damit Konsequenzen aus der PREDICT-1-Studie (Prospective Randomized Evaluation of DNA Screening in a Clinical Trial) (17). Diese hatte klar gezeigt, dass die genetische Variante im humanen Leukozytenantigen-System HLA-B*5701 eine wesentliche Ursache für schwere Überempfindlichkeitsreaktionen im Zusammenhang mit Abacavir ist. Die ermittelte »Number Needed to Screen« von 14 wurde als kosteneffektiv angesehen.

 

Auch für andere Medikamente könnten oder sollten Tests auf pharmakogenetische Marker empfohlen werden. Kandidaten sind 6-Mercaptopurine (TPMT-Mutationen), Irinotecan (UGT1A1*28-Allel), Marcumar (CYP2C9- und VKORC1-Varianten), trizyklische Antidepressiva (CYP2D6-Mutationen) und Carbamazepin (HLA-B*1502-Allel).

 

Die FDA geht dieses Problem wesentlich offensiver an. Die Liste der Wirkstoffe, für die die FDA einen genetischen Test vorschlägt, hat einen beachtlichen Umfang (18). In Deutschland ist man extrem zurückhaltend. Ob dies immer noch angemessen ist, sollte mit pharmazeutischem Sachverstand hinterfragt werden. Hier sind auch und vor allem die Apotheker gefragt. Können wir es uns leisten, auf potenziell lebensrettende Informationen zu verzichten, die leicht zu erheben sind? /

Literatur

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Der Autor

Theodor Dingermann studierte Pharmazie in Erlangen. Nach der Approbation 1976 folgten Promotion und 1987 Habilitation. Seit 1991 ist er geschäftsführender Direktor des Instituts für Pharmazeutische Biologie an der Goethe-Universität, Frankfurt am Main. Dingermann war von 2000 bis 2004 Präsident der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft, arbeitet in zahlreichen wissenschaftlichen Gremien, leitete seit 1992 die Arbeitsgruppe »Biotechnologisch hergestellte Arzneimittel« der Arzneibuch-Kommission beim BfArM und ist war bis 2010 Mitglied der Kommission. Ende 2009 wurde Dingermann zum »Professor des Jahres« in der Kategorie Naturwissenschaften und Medizin gewählt. Die Apotheker kennen ihn zudem als Referenten bei Fortbildungstagungen sowie als Autor und Co-Autor mehrerer Lehrbücher. Seit April 2010 ist er externes Mitglied der Chefredaktion der PZ. Seine Hauptforschungsgebiete umfassen Konzepte für die Verbesserung heutiger Gentherapie-Vektoren sowie die Identifizierung von Zielproteinen von Arzneistoffen durch Arzneistoff-Proteomik.

 

Professor Dr. Theo Dingermann, Institut für Pharmazeutische Biologie, Biozentrum, Marie-Curie-Straße 9, 60439 Frankfurt am Main, E-Mail: Dingermann(at)em.uni-frankfurt.de

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