Kranksein nur zum Schein |
16.05.2006 13:36 Uhr |
Kranksein nur zum Schein
von Claudia Borchard-Tuch, Zusmarshausen
Wenn Menschen Krankheiten vortäuschen oder selbst verursachen, steckt oft der Wunsch nach Zuwendung dahinter. Da medizinische Kenntnisse und der Zugang zu Medikamenten Voraussetzung sind, werden solche Krankheiten häufiger von Menschen aus Gesundheitsberufen vorgetäuscht. Die PZ sprach mit Professor Dr. Marc D. Feldman von der Universität in Alabama, USA.
PZ: Sie unterscheiden vier Formen vorgetäuschten Krankseins: die artifizielle Störung, das Münchhausen-Syndrom, das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom und die Simulation. Was sind deren charakteristische Merkmale?
Feldman: Bei der artifiziellen Störung simuliert oder löst der Betroffene eine Erkrankung aus, um sich die Zuwendung seiner Umgebung zu sichern. Das Münchhausen-Syndrom ist eine besonders schwer und chronisch verlaufende Form der artifiziellen Störung, bei der die gesamte Lebensführung auf das vorgespielte Kranksein eingestellt ist. Beim Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom täuscht ein Mensch die Erkrankung eines anderen, zumeist eines Kindes, vor oder löst sie aus, um diesen pflegen zu können. Auf diese Weise will derjenige Achtung und Aufmerksamkeit für sich beanspruchen und zugleich die Kontrolle über einen anderen Menschen gewinnen. Bei der Simulation versuchen sich Menschen durch Vortäuschen einer Krankheit ihrer Pflichten oder Strafe zu entziehen.
PZ: Sie vermuten, dass in den USA jährlich 10 bis 20 Milliarden Dollar für sinnlose medizinische Maßnahmen ausgegeben werden. Wie hoch beziffern Sie die Ausgaben für Deutschland?
Feldman: Die Ausgaben sind proportional zur Bevölkerung. In den USA leben zurzeit etwa 280 Millionen Menschen, in Deutschland sind es 82 Millionen. Daher kann davon ausgegangen werden, dass in Deutschland jährlich etwa 2,4 bis 4,8 Milliarden Euro für nutzlose medizinische Aktionen aufgewendet werden. Schätzungen zufolge entfallen davon 240 bis 480 Millionen Euro auf Medikamentenausgaben für vorgetäuschtes Kranksein.
PZ: Warum wird den vorgetäuschten Krankheiten so wenig Beachtung geschenkt, obwohl sie von hoher wirtschaftlicher Bedeutung sind?
Feldman: Betrügerisches Krankspielen steht nicht auf dem Lehrplan von Ärzten. Zudem wird das Phänomen vom Großteil der Bevölkerung vollkommen ignoriert. Vielleicht kann dies durch Internet-Foren verändert werden.
PZ: Warum wurde bislang so wenig Forschung betrieben?
Feldman: Ich glaube, dass es unbequem ist, sich mit dieser Thematik zu befassen. Oft bringen die Patienten Ärzte in eine peinliche Lage, und viele Ärzte wollen nicht eingestehen, dass sie sich geirrt und kostspielige Ressourcen unnütz verbraucht haben. Bislang haben weder die US-amerikanische noch die deutsche Regierung einen einzigen Cent für die Erforschung der artifiziellen Störung oder des Münchhausen-by-proxy-Syndroms ausgegeben. Selbst die amerikanische National Alliance for the Mentally Ill, die seit 1979 für die Interessen psychisch Kranker eintritt, ignorierte alle meine Versuche, ihre Mitglieder auf das Problem aufmerksam zu machen. Artifizielle Störung und Münchhausen-by-proxy-Syndrom sind Verhaltensabweichungen, die lieber versteckt werden.
PZ: Welche Therapieoptionen gibt es?
Feldman: Die beste Therapie scheint die unterstützende Psychotherapie zu sein, wobei zumeist bestehende schwere Persönlichkeitsstörungen der Patienten berücksichtigt werden müssen. Das Problem besteht darin, dass nur wenige zu therapeutischen Maßnahmen bereit sind. Die Patienten leugnen standhaft, dass sie eine artifizielle Störung oder ein Münchhausen-by-proxy-Syndrom haben, obwohl deutliche Anzeichen erkennbar sind.
PZ: Wie sollte der Arzt dem Patienten die Diagnose mitteilen?
Feldman: Der harte Konfrontationskurs, bei dem der Arzt dem Patienten schonungslos mitteilt, dass er ihn durchschaut hat, scheint ganz und gar nicht zu funktionieren: Die Patienten verlassen das Krankenhaus und gehen an einen anderen Ort, wo sie erneut das Kranksein vortäuschen. Wesentlich besser funktioniert die unterstützende Konfrontation. Bei ihr lässt der Arzt den Patienten wissen, dass dieser tatsächlich unter einer schweren Erkrankung leiden würde, nur sei es eine andere Krankheit, als der Patient vorgebe.
PZ: Kann der Patient medikamentös behandelt werden?
Feldman: Es gibt keine einheitlichen Angaben, welche Medikamente eingesetzt werden sollen. Falls der Patient unter Depressionen leidet, können Antidepressiva hilfreich sein. Viele Patienten zeigen auch Angststörungen, welche mit Anxiolytika wie Benzodiazepin wirksam therapiert werden können.
PZ: Welche Therapieerfolge können realistischerweise erzielt werden?
Feldman: Falls ein Arzt die Krankenaufenthalte und Arztbesuche auf die Hälfte reduzieren kann, hat er ein ausgezeichnetes Ergebnis erzielt.
Patienten mit artifiziellen Störungen sind keine Hypochonder. Während Hypochonder tatsächlich glauben, krank zu sein und gesund werden wollen, wollen Patienten mit artifiziellen Störungen auf Dauer krank bleiben und sich so die Zuwendung ihrer Umgebung sichern.
Auch das Vortäuschen von Krankheiten oder Selbstverletzungen gehört nicht zu den artifiziellen Störungen. Zwar simulieren diese Personen ebenfalls, sie haben aber ein konkretes Ziel im Auge wie Wehrdienstverweigerung et cetera und unterliegen keinem inneren Zwang, immer weiterzumachen. Menschen mit artifiziellen Störungen oder mit dem Münchhausen-Syndrom können dagegen ihr Verhalten nicht mehr richtig kontrollieren.