Pharmazeutische Zeitung online
Cannabis

Rauschmittel mit Augenmaß

18.04.2018  10:24 Uhr

Von Hannelore Gießen, München / Seit einem Jahr können Ärzte cannabishaltige Arzneimittel für Patienten mit einer schwerwiegenden Erkrankung verordnen. Heilberufler zogen auf dem Suchtforum in München eine erste Bilanz.

»Cannabishaltige Arzneimittel sind eine sinnvolle Ergänzung für Patienten mit bestimmen schweren Erkrankungen, vor allem für Tumorpatienten«, sagte Dr. Heidemarie Lux, Suchtbeauftragte des Vorstandes der Bayerischen Landesärztekammer. Bei Cannabis handle es sich aber um ein Rauschmittel, das mit Augenmaß verordnet werden muss. Es könne verordnet werden, wenn eine schwerwiegende Krankheit vorliegt, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Therapie nicht zur Verfügung steht oder nicht angewandt werden kann. 

 

Zudem müsse Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome bestehen. »Das sind vage Vorgaben, die den einzelnen Arzt oft vor schwierige Abwägungen stellen«, gab Lux zu bedenken (lesen Sie dazu auch Seite 8).

 

Cannabis kann legal jedem Patienten verordnet werden, der es selbst ­bezahlt. Sollen die Therapiekosten von der Gesetzlichen Krankenversicherung übernommen werden, muss der Pa­tient einen Antrag auf Kostenübernahme stellen. Im ersten Jahr gingen bei den großen Kassen mehr als 16 000 Anträge ein, von denen mehr als 60 Prozent genehmigt wurden.

 

Vor einer unkritischen Verwendung von Cannabis, vor allem bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen, warnte Professor Dr. Oliver Pogarell von der LMU München. Der Psychiater stellte das LMU-Forschungsprojekt CaPRis vor, das erneut die begrenzte Datenlage zu Wirksamkeit, Verträglichkeit und Sicherheit von Cannabis erkennen ließ (siehe Kasten).

 

Cannabis kann als Fertig- oder Rezepturarzneimittel verordnet werden. Cannabisblüten können derzeit nur aus dem Ausland importiert werden, aktuell aus den Niederlanden und Kanada. Mit der im Gesetz vorgesehenen Einrichtung einer Cannabisagentur soll innerhalb der nächsten zwei bis drei Jahre auch in Deutschland eine Produktion aufgebaut werden.

 

In Cannabis wurden insgesamt mehr als 400 Inhaltsstoffe nachgewiesen, die je nach Sorte in unterschiedlichen Mengen enthalten sind. Zurzeit gibt es Medizinalcannabis in 25 verschiedenen Sorten, die die beiden Leitsubstanzen THC und Cannabidiol in unterschiedlichen Verhältnissen enthalten und die unterschiedliche Wirkungen aufweisen.

 

Dosis langsam steigern

 

»Cannabis ist kein Wundermittel für die Lösung therapeutischer Probleme und den Firstline-Medikamenten in der Regel nicht überlegen«, fasste Apotheker Dominik Bauer, Sprecher der Sektion Pharmazie der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, den aktuellen Stand zusammen. Cannabis sei jedoch ein Add-on zur Standardtherapie, von dem spezielle Patienten in speziellen Situationen profitieren. Aufgrund der oft beträchtlichen Nebenwirkungen riet Bauer, sich vorsichtig an die optimale Dosis heranzutasten: »Start low, go slow.« /

Das CaPRis-Projekt

PZ / Das Forschungsprojekt »Cannabis: Potenzial und Risiken« (CaPRis) wurde von Forschern der LMU München geleitet und vom Bundes­gesundheitsministerium gefördert. Ziel war unter anderem, den aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand zu den Potenzialen von Cannabis als Arzneimittel zu analysieren und darzustellen. Nach Sichtung von mehr als 2100 wissenschaftliche Publikationen kamen die Forscher zu folgenden ­Erkenntnissen:

 

  • Bei chronischen Schmerzen sind Cannabis-Arzneimittel gegenüber Placebo überlegen. Für eine sub­stanzielle Schmerzreduktion liegt keine Evidenz vor. Die bei Schmerzen am besten untersuchte Cannabisarznei ist Nabiximols (Sativex®).
  • Bei Multipler Sklerose und Para­plegie-assoziierter Spastizität liegen keine ausreichend objektivierbaren Hinweise für eine Besserung vor. Für die Wirksamkeit von Nabiximols bei kurzfristiger Applikation (2 bis 6 Wochen) liegen Belege vor.
  • Bei Morbus Crohn und Reizdarmsyndrom konnte keine Verbesserung der Primärsymptome gezeigt werden.
  • Bei HIV/Aids können vier von fünf Studien eine gewichtsstimulierende Wirkung feststellen. Außerdem wirkt Cannabis auch hier wie bei der Chemotherapie gegen Erbrechen und Übelkeit.

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