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Doris Pfeiffer

Die gute Konjunktur hält nicht ewig

19.04.2017  10:32 Uhr

Von Jennifer Evans, Berlin / Seit fast zehn Jahren ist Doris Pfeiffer Chefin des Spitzenverbands der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Dabei war ihr Weg in die Gesundheitsbranche eher Zufall. Bereut hat sie ihn nie. Im Gegenteil: Sie brennt für die vielen Themen und Herausforderungen rund um die Nutzenbewertung von Arzneimitteln, Lieferengpässe und Digitalisierung.

PZ: Was wünschen Sie sich für die Versicherten von der neuen Bundes­regierung?

 

Pfeiffer: Erst mal, dass sie die gute Versorgung der Patientinnen und Patienten im Blick behält. Und das nicht nur als leere Formel, ­sondern der Patientennutzen sollte tatsächlich ihre Leitlinie darstellen – idealerweise natürlich der nachgewiesene Nutzen. Das Zweite wäre, den Gestal­tern von Versorgungsverträgen mehr Freiheiten zu geben. Dazu gehört auch, ihnen mehr Möglichkeiten im Wettbewerb zu gewähren.

Gleichzeitig sollte die Politik dann auch aushalten können, wenn die Ergebnisse nicht jeden Wettbewerber erfreuen, und nicht sofort wieder intervenieren, sobald ein Anbieter dadurch negative Auswirkungen zu befürchten hat. Und drittens sollte die neue Regierung die Kosten im Auge behalten – obwohl wir derzeit aufgrund der guten Beschäftigungs­situation eine so posi­tive Finanzlage in der gesetzlichen Krankenversicherung haben. Aber diese gute Konjunktur wird leider nicht ewig anhalten.

 

PZ: Deutschland sollte also mutiger werden?

 

Pfeiffer: Das ist das eine. Dieser Mut sollte aber auch von der Politik zugelassen werden. Mut muss ja nicht zwangsläufig mit höheren Kosten verbunden sein. Es geht darum, die Versorgung zu verbessern, indem man etwa sektor­übergreifend arbeitet. Zumindest besteht dann die Chance, dass die neuen Möglichkeiten genutzt werden. Wenn für das gleiche Geld eine bessere Versorgung gelingt oder die Versorgung mit neuen Ansätzen effizienter wird, ist das ein erstrebenswertes Ziel.

 

PZ: Welche Gesundheitsreform der vergangenen Jahre war die beste?

Pfeiffer: Ein Meilenstein war das Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz (AMNOG), ganz klar. In Deutschland hatten wir lange Zeit die beliebige Preisgestaltung durch die Industrie, bei der die Kassen keine Möglichkeiten hatten, mitzureden. Dann kamen die Festbeträge und Rabattverträge, die aber nicht für die neuen Wirkstoffe ­galten. Erst das AMNOG hat in Sachen Mondpreise bei tatsächlichen oder nur scheinbaren Innovationen eine wesentliche Veränderung gebracht, indem nun anhand der Zusatznutzenbewertung eine entsprechende Preisverhandlung geführt werden kann.

 

PZ: Hat das AMNOG noch Optimierungspotenzial?

 

Pfeiffer: Ja. Zunächst bin ich froh, dass es bei der vorgesehenen Preistrans­parenz für Arzneimittel bleiben soll. Die Kassen sind weiterhin der Ansicht, der Arzt sollte die Preise kennen, weil er nur so die Verantwortung für die Wirtschaftlichkeit der Verordnung übernehmen kann. Und wir wünschen uns natürlich, dass die Erstattungspreise auch rückwirkend ab dem Zeitpunkt der Markteinführung gelten. Heute ist es ja so, dass sogar für Medikamente, bei denen nach sechs Monaten feststeht, dass sie keinen Zusatznutzen haben, für weitere sechs Monate Mondpreise verlangt werden dürfen. Hier muss die Politik noch einmal grundsätzlich ran.

 

Eine nutzenorientierte Erstattung wie in Frankreich halte ich für eine gute Idee. Die Krankenversicherung dort hat die Möglichkeit, die Erstattung auf jene Patientengruppen zu begrenzen, die tatsächlich von einem Wirkstoff profitieren. Weil das in Deutschland nicht geht, brauchen wir einen Mischpreis, der auch die Patientengruppen ohne Zusatznutzen einbeziehen muss.

 

PZ: Viele Arzneimittel verschwinden vom Markt, weil sie keinen Zusatznutzen bescheinigt bekommen haben. Ein gefährlicher Trend?

 

Pfeiffer: Bisher haben die Hersteller 14 Wirkstoffe wieder durch ein sogenanntes Opt-out zurückgezogen – zum Glück ohne einen Schaden für die Pa­tien­ten, denn für keinen der Wirkstoffe hatte der Gemeinsame Bundesausschuss einen Zusatznutzen festgestellt. Darüber hinaus haben sich einige Unternehmen nach einer Preisfest­legung durch die Schiedsstelle dazu entschlossen, die Arzneimittel wieder vom Markt zu nehmen. Auch diese Arznei­mittel wiesen alle – mit einer Ausnahme – keinen Zusatznutzen auf. Die Versorgung der Versicherten bleibt jedoch durch zweckmäßige Alterna­tiven oder durch die Möglichkeit von Einzel­importen gewährleistet. Teilweise ziehen Unternehmen ihre Produkte auch aus anderen Gründen vom Markt zurück, beispielsweise weil die entsprechende Therapie durch wirksamere Therapien ersetzt wurde.

 

PZ: Wie reagiert die Gesetzliche Krankenversicherung auf das Problem der Lieferengpässe?

 

Pfeiffer: Hier haben wir kaum Handlungsmöglichkeiten. Es ist ein welt­weites Thema, weil die Arzneimittel­produktion sich stark konzentriert hat, sich Monopole gebildet haben und ­dadurch Risiken bei der Produktion entstanden sind. Über Frühwarnsys­teme kann man aber durchaus auf Liefer­eng­pässe regieren. Den Vorwurf aber, die deutschen Rabattverträge tragen ­daran Mitschuld, finde ich angesichts des globalen Problems ein bisschen albern. Gerade durch Rabattverträge haben Firmen ja sogar mehr Planbarkeit für ihre Produktion. Das Argu­ment, die Preise hierzulande seien zu niedrig, ist meiner Ansicht nach auch nicht haltbar. Die Firmen konzentrieren ihre Produktion ohnehin – egal, wie hoch die Preise sind. Höhere Preise würden lediglich die Gewinnmargen erhöhen und das zulasten der Solidargemeinschaft aller gesetzlich Versicherten.

 

PZ: Was ist gut am deutschen Gesundheitssystem und wo kann es sich im Ausland noch etwas abschauen?

 

Pfeiffer: Herausragend ist, dass wir einen breiten, einkommensunabhängigen und selbstverständlichen Zugang zu allen Gesundheitsleistungen haben. Es gibt faktisch keine Wartelisten wie in den Niederlanden oder Großbritannien. Höchstens, wenn man ein ganz bestimmtes Wunschkrankenhaus im Kopf hat. Nachteile sehe ich aber darin, wie sogenannte Innovationen hier auf den Markt kommen. Nicht nur Medizin­produkte, sondern auch neue Opera­tionsmethoden. Während diese etwa in Großbritannien oder in den USA bewertet werden, bevor sie angewendet werden dürfen, können sie in Deutschland einfach durchgeführt werden – solange sie nicht verboten sind. Das ist aus Qualitäts­sicht nicht ideal, zum Teil auch riskant für die Patienten. Trotzdem müssen sie finanziert werden, ohne dass ihr Nutzen belegt ist.

 

PZ: Apropos Nutzen für den Patienten: Stellen die Apotheker hierzulande ihr Licht zu sehr unter den Scheffel?

 

Pfeiffer: In puncto Arzneimitteltherapiesicherheit ist sicher viel Wissen nicht ausgeschöpft. Ich könnte mir vorstellen, dass die Apotheker sich mehr einbringen könnten, denn schließlich bezahlt die gesetzliche Krankenversicherung bereits für die Beratung bei jeder einzelnen Medikamentenpackung.

 

PZ: Im Sommer soll endlich der Rollout der Telematikinfrastruktur starten …

 

Pfeiffer: Ja, endlich! Das war ein langer Weg und ich sehe niemanden, der sich bei der Schuldfrage nicht auch an die eigene Nase fassen sollte. Seit über ­einem Jahr beispielsweise ist es die Indus­trie, die die versprochenen Komponenten nicht liefert. Darüber hinaus darf auch nicht vergessen werden, dass der Aufbau einer solchen Datenautobahn seine Entwicklungszeit braucht, um den Anforderungen an Daten­sicherheit und Datenschutz zu genügen. Als gesetzliche Krankenversicherung haben wir natürlich auch die Aufgabe, sicherzustellen, dass dieses Netz sicher ist.

 

PZ: War Ihr Einstieg in die Gesundheitsbranche Zufall oder Absicht?

 

Pfeiffer: Das war Zufall. Ich habe Volkswirtschaftslehre studiert mit dem Schwerpunkt Sozialpolitik und mich eigent­lich mehr mit der Alterssicherung beschäftigt. Als ich promoviert war, gab es 1989 eine Stelle in der Verbandspolitik beim AOK-Bundesverband und da habe ich zugegriffen. Die Entscheidung habe ich nie bereut und schnell meine Leidenschaft für das Gesundheits­wesen entdeckt. Der Bereich bleibt wegen der ständigen Reformen ja stets spannend.

 

PZ: Welche Kompetenzen brauchen Sie, um Ihre Position an der Spitze der GKV auszufüllen?

 

Pfeiffer: Ich glaube, mir helfen meine schnelle Auffassungsgabe und die Fähigkeit, mich in die Lage meines Gegenübers zu versetzen. So kann ich bei einer Verhandlung überlegen, was ein fairer Kompromiss sein könnte oder warum ein Gesprächspartner so argumentiert.

 

PZ: Mussten Sie als Frau in einer Führungsposition gegen Vorurteile kämpfen?

 

Pfeiffer: Viele Vorurteile werden mir gegenüber wohl erst gar nicht geäußert. Aber ich glaube schon, dass man als Frau in einer solchen Rolle immer bewei­sen muss, dass man den Job beherrscht, während bei Männern vielfach per se davon ausgegangen wird, dass sie es können. Ich habe bei erfolgreichen Frauen oft beobachtet, dass sie selbstkritischer sind und ihre Defizite stärker betonen als ihre Qualifikationen.

 

PZ: Was ist nun aber Ihre persön­liche Erfolgsformel?

 

Pfeiffer: Mir ist es in den letzten Jahren ganz gut gelungen, das richtige Verhältnis zwischen Anspannung und Entspannung zu finden. Das war nicht immer so und ich musste es auch erst lernen. Aber Gelassenheit, gepaart mit einer gesunden Portion Humor funktioniert für mich ausgezeichnet, um mit schwierigen Situationen besser umzugehen. Vor allem: sich selbst nicht so ernst zu nehmen. Das lässt sich im Beruf genauso umsetzen wie dann, wenn ich mit dem Auto im Stau stehe. /

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