Wenn Kindern nichts mehr Freude macht |
15.04.2008 11:33 Uhr |
Wenn Kindern nichts mehr Freude macht
Von Claudia Borchard-Tuch
Das Kind lässt in der Schule nach, das Lieblingsspielzeug steht einsam in der Ecke und Freunde rufen nicht mehr an. Manchmal steckt eine Depression dahinter. Bis zu 2,5 Prozent der Kinder und 8,3 Prozent der Jugendlichen leiden daran. Die Depression des Kindes und Jugendlichen unterscheidet sich deutlich von der des Erwachsenen.
Oft werden Depressionen bei Kindern und Jugendlichen nicht erkannt. Lange Zeit wurde angezweifelt, ob es diese Erkrankung bei Kindern überhaupt gibt. Eine Studie an der Universität Bremen ergab, dass 18 Prozent der befragten Jugendlichen bereits einmal daran gelitten hatten. Es zeigte sich, dass die Häufigkeit der Depression mit dem Alter zunimmt und während der Pubertät jene der Erwachsenen erreicht.
Bis zur Pubertät kommen Depressionen bei Mädchen und Jungen gleich oft vor, danach leiden Mädchen jedoch deutlich häufiger daran. Bei den Jugendlichen verändert sich das Verhältnis in Richtung der Erwachsenenverteilung: zwei zu eins bei Frauen zu Männern.
Je nach Lebensalter unterscheiden sich die Symptome. Kleinkinder zwischen einem und drei Jahren sind ängstlich, weinen schnell oder werden rasch zornig, haben keine Lust zu spielen, schlafen schlecht oder haben andere körperliche Symptome. Depressive Schulkinder können sich nicht konzentrieren, lernen schlecht, verspüren keinen Appetit, schlafen schlecht und sprechen manchmal über Selbstmord. Es ist tragisch, dass Suizide bereits bei Zehnjährigen vorkommen. Jugendliche hegen Selbstzweifel, sind lustlos oder hyperaktiv, apathisch oder aggressiv, fügen sich Verletzungen zu und ziehen sich immer mehr zurück. All dies kann auf eine depressive Störung hindeuten.
Ist mein Kind depressiv?
Die Erkrankung zu erkennen, ist ein entscheidender Schritt zu ihrer Bewältigung. Erschwert wird die Diagnostik dadurch, dass manche Angstgefühle, zum Beispiel Fremdeln mit acht Monaten, Trennungsängste mit 18 Monaten, Dunkelangst mit vier Jahren oder soziale Trennungsängste im fünften Lebensjahr, zur natürlichen Entwicklung zählen. Auch Schlafstörungen sind in manchen Entwicklungsphasen relativ häufig. Die Loslösung vom Elternhaus in der Pubertät kann zu einem gewissen Trennungsschmerz führen. Eine klinische Depression ist jedoch etwas völlig anderes als eine durch Lebensumstände bedingte Niedergeschlagenheit. Die krankhafte Schwermut raubt in viel stärkerem Maß die Lebenskraft. Viele Betroffene, auch Kinder und Jugendliche, quälen sich mit Selbstmordgedanken, Schuldgefühlen und tiefen Minderwertigkeitskomplexen.
Die Diagnose erfordert immer fachliche Hilfe. Erster Ansprechpartner ist meist der Kinder- oder Hausarzt, dem das Kind und die Familie vertraut sind. Er kennt auch Spezialisten, die weiterhelfen können: Kinderpsychiater und Psychotherapeuten.
Verschiedene Testverfahren ermöglichen es, den Schweregrad der Erkrankung einzuschätzen. Die Children's Depression Rating Scale (CDRS) wurde speziell für Kinder von sechs bis zwölf Jahren entwickelt. Typische Merkmale wie mangelndes Selbstwertgefühl, Rückzugsverhalten oder Selbstmordgedanken schätzt der Arzt aufgrund der Antworten der Kinder auf verschiedene Fragen ein, andere Symptome wie Sprachtempo beurteilt er anhand von Beobachtungen.
Die Montgomery Åsberg Tiefstand-Schätzskala (MÅDRS) wurde im skandinavischen Raum entwickelt (6). Zehn Merkmale werden auf der Grundlage eines Interviews und von Beobachtungen bewertet: sichtbare Traurigkeit, berichtete Traurigkeit, innere Spannung, Schlaflosigkeit, Appetitverlust, Konzentrationsschwierigkeiten, Untätigkeit, Gefühllosigkeit, pessimistische Gedanken, Selbstmordgedanken.
Puzzle der Pathophysiologie
Die Mechanismen der Depression sind nicht vollständig geklärt. Vermutlich sind die Gene beteiligt: Menschen mit depressiven Familienmitgliedern erkranken deutlich häufiger als andere. Auch neuroendokrinologische Veränderungen, die man bei depressiven Erwachsenen fand, sprechen dafür, dass biologische Faktoren eine Rolle spielen: Volumenverminderung des präfrontalen Kortex im Vergleich zum Gesamthirnvolumen, Störungen in neuronalen Schaltkreisen, die mit Noradrenalin oder Serotonin arbeiten, und Veränderungen der hormonellen Stressachse zwischen Hypothalamus, Hypophyse und Nebennierenrinde (3).
Es stellt sich die Frage, ob sich diese Befunde auf Kinder übertragen lassen. »Viele Forschungsergebnisse deuten darauf hin«, erklärt Professor Dr. med. Michael Huss, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, Universitätsklinikum Mainz. »Die Depression im Kindesalter scheint die gleiche zu sein wie die, die wir später im Erwachsenenalter sehen. Aber sie erscheint im Kindesalter in einem anderen Gewand.«
Wahrscheinlich gibt es einen Zusammenhang zwischen Depression und Noradrenalin-Mangel in Hirnsynapsen. Hierbei spielt der Locus coeruleus eine wichtige Rolle. Er ist das bedeutendste Noradrenalin produzierende Zentrum des Gehirns, die Hälfte der noradrenergen Neuronen des Gehirns hat hier ihren Sitz. Bei vielen Depressiven sind auffallend wenig Ab- und Umbauprodukte des Neurotransmitters messbar. Hierzu passt, dass man in der Hirnrinde depressiver Selbstmordopfer eine erhöhte Dichte bestimmter Noradrenalin-Rezeptoren festgestellt hat. Offenbar versucht der Organismus dadurch, den Neurotransmittermangel auszugleichen (9).
Es ist möglich, dass ein Mangel an Serotonin ein Absinken der Noradrenalin-Menge fördert. Serotonin produzierende Neuronen ziehen von den Raphe-Kernen des Hirnstamms zu verschiedenen Stellen von Gehirn und Rückenmark, darunter zu Nervenzellen, die Noradrenalin ausschütten oder seine Freisetzung kontrollieren. Sie schicken aber auch Ausläufer in viele Hirnbereiche, denen man eine Beteiligung an depressiven Symptomen zuschreibt. Hierzu zählen das Corpus amygloideum (wichtig für Emotionen), der Hypothalamus (unter anderem bedeutsam für Appetit, Libido und Schlaf) sowie Gebiete der Hirnrinde, die für kognitive und andere höhere Leistungen verantwortlich sind. In der Hirn-Rückenmark-Flüssigkeit depressiver Patienten hat man erniedrigte Spiegel des Hauptabbauprodukts von Serotonin gemessen, was auf eine verminderte Ausschüttung des Transmitters im Gehirn schließen lässt. Im Hirngewebe verstorbener depressiver Patienten tritt zumindest der Serotonin-Rezeptor Typ 2 in höherer Dichte auf. Dies könnte, ähnlich wie beim Noradrenalin, eine Maßnahme sein, den Mangel an Botenstoff auszugleichen (9).
Oft sind auch Schaltkreise im Gehirn gestört, die die Aktivität bestimmter Hormone kontrollieren. Der Hypothalamus im Zwischenhirn steht hier im Mittelpunkt. Depressive Patienten sprechen schlecht auf den hypothalamischen Botenstoff an, der die Abgabe des Wachstumshormons aus der Hypophyse anregt. Verringert ist auch die Reaktion auf das Thyreotropin-Releasing-Hormon, das die Sekretion des Hypophysenhormons Thyreotropin veranlasst, das wiederum die Schilddrüsenfunktion kontrolliert. Manchmal löst eine unerkannte Schilddrüsenunterfunktion eine Depression aus (9).
Anscheinend ist auch die hormonelle Stressachse zwischen Hypothalamus, Hypophyse und Nebennierenrinde gestört. Normalerweise bildet der Hypothalamus bei Gefahren vermehrt den Corticotropin-Releasing-Factor (CRF), der die Hypophyse zur Ausschüttung von Corticotropin veranlasst. Dieses bringt die Nebennierenrinde dazu, das Stresshormon Cortisol auszuschütten. Verschiedene Studien zeigten eine überaktive Stressachse bei Depressiven (9).
Es gibt somit genügend Hinweise, dass die Entwicklung der Krankheit, was immer den Anstoß gegeben haben mag, am Ende biochemische Veränderungen im Zentralnervensystem beinhaltet. Noch ist nicht klar, wie sich die verschiedenen Befunde über genetische Disposition, Neurotransmitter und Hormone zu einem einheitlichen Bild zusammenfügen lassen. Die eigentliche Ursache der Depression ist unbekannt. »Das Gehirn verarbeitet seine Informationen, indem es bestimmte Regelkreise von Thalamus und Kortex aktiviert«, sagt Huss. »In diesen Regelkreisläufen liegt eine neurobiologisch abbildbare Störung vor. Diese kann jedoch nicht einem einzelnen Neurotransmittersystem zugeordnet werden.«
Lebenskrisen als Auslöser
Weitere Modelle versuchen, die Entstehungsmechanismen der Depression zu erklären. Während biologische Modelle eine Depression als rein biologischen Vorgang deuten, führen emotionale Modelle diese auf eine mangelnde Gefühlsregulation zurück. Kognitive Modelle sehen den Ursprung in einer falschen Bewertung von Wahrnehmungsinhalten und als Folge eines verhängnisvollen Lernprozesses. Der Mensch musste erfahren, dass er eine Situation nicht beeinflussen konnte, gleichgültig wie sehr er sich anstrengte. Häufen sich solche Erlebnisse, entsteht das Gefühl, dem Schicksal machtlos ausgeliefert zu sein. Der US-amerikanische Psychologe Martin Seligmann prägte dafür den Begriff »erlernte Hilflosigkeit«, eine Empfindung, die anfällig für eine Depression macht.
Lebenskrisen können die Krankheit zum Ausbruch bringen. Hier spielen Familie, Freunde und Schule eine wichtige Rolle. Trennung oder Tod der Eltern, Armut, Leistungsdruck oder Mobbing in der Schule gelten als mögliche Auslöser.
Therapie auf mehreren Ebenen
Ersten Rat können sich Eltern, Angehörige und Freunde bei Erziehungs- und Familienberatungsstellen holen, die von Städten, Gemeinden und Wohlfahrtsverbänden finanziell unterstützt werden. Das Angebot ist meist kostenlos. Eltern können auch den Klassenlehrer oder den schulpsychologischen Dienst fragen, vor allem um herauszufinden, ob diese das Verhalten des Kindes ebenfalls auffällig finden.
Die meisten depressiven Kinder und Jugendlichen können ambulant behandelt werden. Die Psychotherapie umfasst verhaltenstherapeutische und psychodynamische Methoden, ergänzt durch Familienberatung und familientherapeutische Maßnahmen. Während der Patient bei der Verhaltenstherapie erlernt, wie er auf bestimmte alltägliche Lebenssituationen reagieren kann, sucht der psychodynamische Ansatz nach Ursachen und Zusammenhängen. Indem krankhafte psychische Reaktionen verstanden werden, sollen sie überwunden werden.
Eine stationäre Therapie ist nur selten erforderlich. Kündigt ein Kind beispielsweise einen Selbstmord an oder verletzt sich wiederholt absichtlich, kann es gefährdet sein. Um seine Sicherheit rund um die Uhr zu gewährleisten, kann die Einweisung in ein kinder- und jugendpsychiatrisches Krankenhaus nötig sein.
Kognitive Verhaltenstherapie
Im Gegensatz zu Erwachsenen gibt es nur wenige kontrollierte Therapiestudien mit Kindern. Dies gilt sowohl für die psychotherapeutische als auch für die medikamentöse Therapie (3). Mithilfe der Psychotherapie sollen die Patienten Problemlösefähigkeiten entwickeln und ihre soziale Kompetenz verbessern. Im Wesentlichen haben sich drei Verfahren als effektiv erwiesen: kognitive Verhaltenstherapie, interpersonale Therapie und Familientherapie.
Im Zentrum kognitiver Verfahren stehen Einstellungen, Gedanken, Bewertungen und Überzeugungen. Kognitive Therapieverfahren gehen davon aus, dass die Art und Weise, wie man denkt, darüber bestimmt, wie man sich fühlt, verhält und körperlich reagiert. Der Therapeut nimmt eine empathische aktive Rolle ein, indem er Fragen stellt. Hierbei geht es nicht um die Bearbeitung von Kindheitskonflikten, sondern um die Schwierigkeiten des Hier und Jetzt (3). »Durch eine Gegenüberstellung des Für und Wider seiner Argumente soll der Jugendliche dazu gebracht werden, seine fixierten Denkschemata zu erkennen, zu überprüfen und durch konstruktive, stärker an der Realität orientierte Gedanken zu ersetzen«, erklärt Professor Dr. med. Beate Herpertz-Dahlmann, Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, Universitätsklinikum Aachen.
Die Grundlagen der kognitiv-behavioralen Verhaltenstherapie beruhen auf dem Depressionsmodell von Aaron Temkin Beck. Er geht davon aus, dass die Depression eines Patienten auf einer sogenannten kognitiven Triade beruht: negatives Selbstbild, negatives Weltbild und negative Zukunftserwartung. Depressive Kinder und Jugendlichen denken geringschätzig und abwertend über sich selbst (negatives Selbstbild), sehen in der Interaktion mit ihrer Umwelt ausschließlich Misserfolge, Benachteiligung und Enttäuschung (negatives Weltbild) und gehen davon aus, dass ihre Niederlagen und Frustrationen kein Ende finden (negative Zukunftserwartung). Diese Überzeugungen führen zu dysfunktionalen Denkschemata, die keiner rationalen Überprüfung zugänglich sind. Ohne sichtbaren Beweis oder sogar trotz Gegenbeweis werden willkürlich Schlussfolgerungen gezogen, Ereignisse ohne klaren Grund auf sich selbst bezogen oder negative Ereignisse übertrieben und positive Ereignisse untertrieben.
Ziel der kognitiv-behavioralen Therapie, die in einer für Jugendliche angepassten Form erfolgt, ist es, dem Patienten zu vermitteln, dass Denkfehler und irrationale Annahmen zu Gefühlen von Minderwertigkeit und Bedrohung führen. Daher ist es wichtig, die negativen Gedanken zu identifizieren und infrage zu stellen. In der Folge kann der Patient alternative, genauere und angepasstere Gedanken entwickeln.
Die Aktivierung eines depressiven Kindes und Jugendlichen ist sehr wichtig. Oft hilft ein Stundenplan, in dem für das Kind angenehme Aktivitäten und Unternehmungen festgelegt sind. So kann es begreifen, dass ein Zusammenhang zwischen positiven Erlebnissen und Stimmungsaufhellung geschaffen werden kann. Ein soziales Kompetenztraining kann die oftmals bestehende unzureichende soziale Kompetenz verbessern.
Diese Therapie ist eingebunden in ein umfassendes Behandlungskonzept, in dem weitere Maßnahmen eine große Rolle spielen. Hierzu gehört das affektive Training. Dabei sollen depressive Kinder und Jugendliche sowohl bei sich selbst als auch bei anderen die ganze Spannbreite emotionalen Erlebens kennenlernen. In der Therapie können spielerisch, zum Beispiel durch das Aufdecken von Karten, Gefühle mithilfe von Mimik oder Gestik identifiziert werden.
Dass die kognitive Verhaltenstherapie wirksam ist, konnte bei Kindern und Jugendlichen mit leichten bis mittelschweren Depressionen nachgewiesen werden. Dagegen fehlen Therapiestudien bei Kindern mit schweren depressiven Störungen weitgehend (3).
Gespräch in der Familie
Eine weitere Behandlungsform, die sich bei depressiven Erwachsenen bewährt hat und in jüngster Zeit auch bei Heranwachsenden erfolgreich angewandt wird, ist die interpersonale Therapie. Ihre Schwerpunkte sind aktuelle zwischenmenschliche Konflikte, Probleme bei Übergängen zwischen sozialen Rollen und unzureichende Bewältigung von Verlusten (3).
Wichtig ist es, die Familie in die Behandlung einzubeziehen. Die Familientherapie sieht die Familie als eine Art »System«, dessen Teile die einzelnen Familienmitglieder sind. Zwischen ihnen wirken Systemkräfte, die das Verhalten und Erleben der einzelnen Systemmitglieder beeinflussen. Symptome und Erkrankungen eines Familienmitglieds werden als Ausdruck gestörter zwischenmenschlicher Beziehungen angesehen. Familientherapie bietet die Möglichkeit, krankhafte Beziehungsmuster transparent zu machen und zu verändern.
Nicht immer will oder kann der Patient mitarbeiten. Eltern, Angehörige und Freunde sollten niemals in ihrem Bestreben aufgeben, einen Zugang zu ihm zu finden. Ein ruhiges Gespräch unter vier Augen ist äußerst wichtig, um einen verzweifelten jungen Menschen zu unterstützen. Dabei müssen die Eltern der häufig anzutreffenden Zurückhaltung des Jugendlichen mit viel Geduld begegnen. Zuhören ist oberstes Gebot. Wichtigstes Ziel ist es zu erfahren, welche Dinge des Lebens noch Freude bereiten, um so einen Ausweg aus der schwierigen Lage zu finden.
Wann Medikamente nötig sind
Die Therapie depressiver Kinder und Jugendlicher mit Antidepressiva erachten viele Psychiater als notwendig. Gemäß den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie sollten Medikamente jedoch nur Teil des therapeutischen Gesamtplans sein (1). Für eine zusätzliche medikamentöse Behandlung sprechen ein hoher Schweregrad, eine chronische Depression, unzureichendes Ansprechen auf Psychotherapie und gravierende psychosoziale Stressoren (3). In die Entscheidung für eine medikamentöse Behandlung müssen Patient und Familie einbezogen werden. Eine umfassende Aufklärung des Patienten und der Eltern, auch über unerwünschte Wirkungen, ist notwendig.
Vor der medikamentösen Therapie sollten eine eingehende kinder- und jugendpsychiatrische Diagnostik und körperliche Untersuchung erfolgen. Pulsmessungen, Routine- und spezifische Laboruntersuchungen, EEG und EKG vor Therapiebeginn und zur Verlaufsdokumentation sowie die Kontrolle des Zahnstatus sind notwendig. Die Aufdosierung erfolgt in der Regel schrittweise. Die Medikation sollte zeitlich begrenzt sein, jedoch ausreichend lange, das heißt mindestens drei Monate erfolgen. Bei Nichtansprechen wird ein Wechsel zu einer anderen Medikamentengruppe empfohlen. Kombinationspräparate sollten vermieden werden. Das Medikament muss langsam abgesetzt werden (1).
Wie bei vielen Arzneimittelgruppen sind nur wenige Psychopharmaka für Kinder und Jugendliche zugelassen (Kasten), die meisten werden off-label eingesetzt. Für die meisten älteren Antidepressiva liegen keine überzeugenden Wirksamkeitsnachweise für diese Altersgruppen vor (3).
MAO-Hemmer sowie tri- und tetrazyklische Antidepressiva sind für Kinder und Jugendliche bis zum 18. Lebensjahr nicht zugelassen. Da es bisher nicht gelang, eine Wirksamkeit nachzuweisen und ein hohes Intoxikationsrisiko besteht, sollten diese Medikamente bei Depressionen im Kindes- und Jugendalter nicht gegeben werden.
Die meisten selektiven Serotonin- und Serotonin/Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer sind bei Minderjährigen nicht zugelassen, werden jedoch häufig off-label eingesetzt. Einen Wirksamkeitsnachweis und eine Zulassung gibt es jedoch für Fluoxetin bei Kindern ab acht Jahren. Auch der SSRI Fluvoxamin ist ab dem achten Lebensjahr zugelassen, allerdings nur für die Therapie von Zwangsstörungen.
Johanniskrautextrakte sind für Kinder ab 12 Jahren ohne Wirkungsnachweis zugelassen worden. Da kontrollierte Studien zu Johanniskrautpräparaten bei kindlichen Depressionen fehlen, ist Vorsicht geboten.
Lithiumsalze sind für Kinder ab 12 Jahren zur Behandlung bipolarer Störungen zugelassen. Um ungünstige psychosoziale Entwicklungsbedingungen zu vermeiden, ist ein frühzeitiger Einsatz empfehlenswert.
Diskussion um SSRI
Vergleichsweise viele Studien gibt es zu den Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (selective serotonin reuptake inhibitors, SSRI). Aufgrund zahlreicher Nebenwirkungen sind diese Stoffe in den letzten Jahren zunehmend in die Kritik geraten (12). Vor allem eine möglicherweise erhöhte Suizidalität stand im Mittelpunkt der Diskussion. Mittlerweile wurde der Verdacht relativiert. Trotzdem gibt es für SSRI nach wie vor keinen überzeugenden Wirksamkeitsnachweis und es muss von einer erhöhten Suizidalität ausgegangen werden. Als einziger SSRI ist Fluoxetin seit Sommer 2006 zur Behandlung von Depressionen bei Kindern und Jugendlichen ab acht Jahren zugelassen.
Die Treatment for Adolescents with Depression Study (TADS), die das National Institute of Mental Health 1999 initiierte, gehört zu den wenigen randomisierten kontrollierten Studien zur Behandlung der kindlichen Depression, in denen eine größere Anzahl von Teilnehmern (439 Adoleszente mit Major-Depression nach DSM-IV) über eine längere Zeit (36 Wochen) beobachtet wurde. Verglichen wurde die Wirkung von Fluoxetin mit einer Psychotherapie (11). Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass bei Jugendlichen mit schweren Depressionen die Therapie mit Fluoxetin die Erholung beschleunigte. Eine kognitive Behandlungstherapie war jedoch eher in der Lage, die Suizidalität auf Dauer zu mindern. Eine Kombination beider Therapien gewährte ein Höchstmaß an Wirksamkeit und Sicherheit (10, 11).
Die Experten sind sich nicht einig, ob selektive Serotonin/Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (serotonin/noradrenaline reuptake inhibitors, SNRI) wie Venlafaxin oder Duloxetin (Off-label-use) bei depressiven Kindern und Jugendlichen eingesetzt werden sollten. Als Nebenwirkungen treten Schlaflosigkeit, Schwindel, Mundtrockenheit, vermehrtes Schwitzen, Tachykardie und Miktionsbeschwerden auf (8). »Nur dann, wenn Psychotherapie und Gabe von Fluoxetin nicht ausreichen, sollten SNRI gegeben werden«, meint der Kinder- und Jugendpsychiater Huss.
Vorsicht mit Trizyklika
Trizyklische Antidepressiva hemmen sowohl die Noradrenalin- als auch die Serotonin-Wiederaufnahme durch Blockade der entsprechenden Transporter, sodass die noradrenerge und die serotonerge synaptische Übertragung verstärkt werden. Die meisten kontrollierten Studien konnten jedoch bei Kindern und Jugendlichen keine ausreichende Wirksamkeit der Trizyklika nachweisen. Darüber hinaus können nicht ungefährliche Nebenwirkungen auftreten. Noch bedeutsamer als anticholinerge Effekte sind kardiovaskuläre Störungen wie Blutdrucksenkung, Tachykardie und Überleitungsstörungen. Trizyklische Antidepressiva können zudem zu schweren zentralnervösen Störungen führen (8).
Vergiftungen wurden bei Kindern signifikant häufiger als bei Erwachsenen beobachtet. Das Vergiftungsbild entspricht weitgehend dem einer Atropin-Vergiftung: bedrohliche kardiovaskuläre Symptome wie starker Blutdruckabfall und Herzrhythmusstörungen sowie Hyperthermie, Delirien und Krampfanfälle. Besonders gefährlich ist die kardiotoxische Wirkung. In schweren Fällen kann es zu Herz- und Kreislaufstillstand kommen (8). Aufgrund des hohen Intoxikationsrisikos und nicht nachgewiesener Wirksamkeit sind trizyklische Antidepressiva nicht bei Depressionen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie indiziert (5).
Es ist zu erwarten, dass Trizyklika bei Kindern und Jugendlichen die Suizidalität erhöhen. Gleiches gilt für die tetrazyklischen Wirkstoffe, die ihnen in den meisten Eigenschaften weitgehend entsprechen. Nach derzeitigem Wissensstand können auch die Tetrazyklika wegen unzureichender Wirkung, Gefahr von Nebenwirkungen, Erhöhung des Suizidrisikos und hoher Toxizität bei Kindern und Jugendlichen nicht empfohlen werden (1).
Große Zurückhaltung ist bei Monoaminoxidase(MAO)-Hemmern wie Tranylcypromin und Moclobemid in höherer Dosierung wegen möglicher starker Nebenwirkungen und erhöhter Suizidgefahr geboten (1). Eine Kinderzulassung kann keiner der beiden Stoffe vorweisen. »Die therapeutische Breite der MAO-Hemmer ist bei Kindern und Jugendlichen zu gering, sodass sie hier nicht eingesetzt werden sollten«, erklärt Huss.
Johanniskraut in der Verordnung
Johanniskrautextrakte werden bei leichten bis mittelschweren Depressionen häufig eingesetzt. Die Extrakte sind für Kinder ab 12 Jahren ohne Wirkungsnachweis zugelassen worden (1). Da kontrollierte Studien zu Johanniskrautpräparaten bei kindlichen Depressionen fehlten, ist jedoch allgemein Zurückhaltung geboten. Trotz eines äußerst geringen Evidenzgrades ist Johanniskraut der in Deutschland am häufigsten für Minderjährige verordnete Wirkstoff (5).
Welche Inhaltsstoffe für die Wirkung verantwortlich sind, ist noch nicht bekannt. Hypericin, auf das die Extrakte früher standardisiert wurden, ist sehr wahrscheinlich nicht maßgeblich beteiligt. Dagegen wurde bei Hyperforin in Konzentrationen, die auch in vivo erreicht werden, an Nervenendigungen, die aus homogenisiertem Hirn oder Rückenmark gewonnen worden waren, eine unselektive Wiederaufnahmehemmung von Serotonin, Noradrenalin, Dopamin und GABA sowie, schwächer, von Glutamat nachgewiesen. Höchstwahrscheinlich sind in dem Extrakt weitere Substanzen enthalten, die zur Wirkung beitragen.
Problematisch ist, dass neben gut untersuchten und hoch dosierten Präparaten auch solche im Handel sind, die sehr unterschiedliche Extraktmengen enthalten und die nicht in Studien geprüft wurden. Bei der Beratung sollte der Apotheker zudem dringend darauf hinweisen, dass eine potenziell lebensbedrohliche Erkrankung wie die Depression, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, nicht auf eigene Faust behandelt werden darf.
Vorteilhaft ist die gute Verträglichkeit des Phytopharmakons. Als Nebenwirkung kann es besonders bei hellhäutigen Personen zu einer Fotosensibilisierung kommen. Die gleichzeitige Gabe von Johanniskrautextrakten mit Antikoagulanzien vom Dicoumarol-Typ (Beispiel Phenprocoumon), anderen Antidepressiva (Amitriptylin, Nefazodon, Nortriptylin, Paroxetin, Sertralin), Ciclosporin, Digoxin, Indinavir und anderen Proteaseinhibitoren, oralen Kontrazeptiva und Theophyllin kann deren Wirkung vor allem durch Induktion von CYP3A4 und P-Glykoprotein abschwächen (8).
Lithium bei bipolaren Störungen
Während US-amerikanische Studien ergaben, dass bipolare Störungen im Kindes- und Jugendalter relativ häufig vorkommen (11), kamen europäische Studien zu dem Ergebnis, dass diese Störungen selten sind. Obgleich der Wirkungsmechanismus nur teilweise bekannt ist, wird hier Lithium verordnet. Das Psychopharmakon ist zur Behandlung bipolarer Störungen bei Kindern und Jugendlichen ab dem 12. Lebensjahr zugelassen. Lithium-Ionen beeinflussen vor allem den Phosphatidylinositol-Stoffwechsel. Da sie die Abspaltung eines Phosphatrests vom Inositol hemmen, steht nicht mehr genügend Inositol zur Bildung des Membranphospholipids Phosphatidylinositol-4,5-diphosphat (PIP2) zur Verfügung. Dies hemmt die Aktivität von Neuronen mit Phospholipase-C-PIP2 gekoppelten Rezeptorsystemen (8).
Lithium hat nur eine geringe therapeutische Breite. Dies macht eine individuelle Dosierung und exakte Kontrolle des Serumspiegels erforderlich. Auch bei genauer Einstellung des Lithiumspiegels können Übelkeit, gastrointestinale Beschwerden, Muskelschwäche und feinschlägiger Tremor auftreten. Bei längerer Therapiedauer kann es zu Gewichtszunahme, Struma, Haut-, EEG- und EKG-Veränderungen kommen.
Wie bei vielen anderen chronischen Erkrankungen bekommen auch Kinder und Jugendliche mit Depressionen sehr häufig Arzneimittel, die für ihre Altersgruppe nicht zugelassen sind. In Zukunft sollten weitere Studien dazu beitragen, ihren Bedürfnissen angepasste Therapieverfahren zu entwickeln.
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Dt. Ges. f. Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (Hrsg.), Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter. Dt. Ärzte Verlag, 3. überarb. Aufl. 2007, S. 57-71.
Freisleder, F. J., Schlamp, D., Naber, G., Depression, Angst, Suizidalität. Zuckschwerdt, München, Bern, Wien, New York, 2001.
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Claudia Borchard-Tuch studierte Medizin an der Universität Düsseldorf, erhielt 1982 die Approbation und schloss ein Jahr später ihre Promotion ab. Nach einer Tätigkeit als Assistenzärztin studierte sie Informatik an der Fernuniversität Hagen und schloss mit dem Diplom ab. Seit 1983 ist Dr. Borchard-Tuch freiberuflich tätig als Fachjournalistin und bearbeitet naturwissenschaftliche und medizinische Themen für Fachzeitschriften und große Zeitungen. Zudem verfasst sie wissenschaftliche Publikationen für die Pharmaindustrie und ist Autorin mehrerer Bücher.
Dr. med. Claudia Borchard-Tuch
Forsthofweg 9
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