Kostbare Jahre |
28.03.2018 10:13 Uhr |
Von Anna Pannen / Wie sehr nützt ein neues Medikament schwer kranken Patienten und was darf es kosten? Diese Fragen sind ethisch heikel und nicht leicht zu beantworten. Einige Industriestaaten berechnen den Nutzen von Arzneimitteln mit sogenannten qualitätskorrigierten Lebensjahren (QALY). In Deutschland sieht man das kritisch.
Neue Medikamente gegen schwere Krankheiten wie Krebs sind heiß ersehnt. Patienten und ihre Angehörigen hoffen, dass die Präparate Leiden mindern und dem Kranken ein längeres Leben ermöglichen. Doch nicht immer ist der Gewinn durch ein Medikament derart offensichtlich. Viele Arzneimittel können nur kleine Besserungen bewirken. Dennoch ist ihre Entwicklung aufwendig und teuer.
Wie ein Mensch die Qualität seines Lebens bewertet, hängt stark von seiner Persönlichkeit ab. Gesunde und Ärzte beurteilen völlig anders als Betroffene.
Foto: iStock/FlairImages
Um zu entscheiden, ob ein neues Präparat tatsächlich innovativ ist, untersuchen viele Industriestaaten, wie viel das Mittel den Patienten tatsächlich bringt und wägen den Nutzen gegen die Kosten ab. In Deutschland gibt es dafür seit 2011 das Verfahren der frühen Nutzenbewertung. Es funktioniert zweistufig: Zunächst schätzen Experten den medizinischen Nutzen des Präparats ein. Erst danach verhandeln Hersteller und Krankenkassen über einen adäquaten Preis.
Andere Länder wenden andere Methoden an. Um Bewertungsverfahren weniger aufwendig und teuer zu machen, arbeitet etwa Großbritannien mit einer indikationsübergreifenden Kennzahl: Das britische National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) rechnet mit sogenannten qualitätskorrigierten Lebensjahren (quality-adjusted life years, kurz QALY). Eine Indexzahl, mit der Gesundheitsökonomen Lebenserwartung und Lebensqualität gegeneinander aufrechnen. Auch die Niederlande und Schweden greifen auf QALY zurück.
Die Berechnung funktioniert so: Auf generischen Gesundheitsfragebögen mit kryptischen Namen wie EQ-5D oder SF-36 machen Patienten Angaben zu ihrer Mobilität, ihrer Eigenständigkeit im Alltag, zu Schmerzen und zum Gemütszustand. Daraus entsteht ein Faktor zwischen 0 und 1, der die gesundheitsbezogene Lebensqualität ausdrücken soll. Um den QALY-Wert zu errechnen, wird er mit der Zahl von Monaten oder Jahren multipliziert, die die Patienten mithilfe einer bestimmten Therapie überleben.
Lebt ein Patient etwa mit der Standardtherapie noch zwei Jahre bei einer Lebensqualität von 0,6, hat die Behandlung ein QALY von 1,2. Eine neue Therapie, bei der der Erkrankte noch drei Jahre lebt, aber nur mit einer Lebensqualität von 0,5, bekäme einen Wert von 1,5 – ein Plus von 0,3 QALY gegenüber der Standardtherapie. Anhand des Ergebnisses legt dann das NICE fest, ob sich die Kostenübernahme einer neuen Therapie lohnt. Dafür nutzt die britische Behörde einen Schwellenwert: Neue Medikamente dürfen nicht mehr als etwa rund 30 000 Pfund pro gewonnenem QALY kosten. Diese Zahl ist allerdings inoffiziell und nirgendwo festgeschrieben.
Sicht des Ethikrats
In Deutschland sieht man diese Methode kritisch. Schon die Anwendung generischer Fragebögen funktioniere nicht bei jeder Indikation gleich gut, erklärt dazu der gemeinsame Bundesausschuss (G-BA). Etwa immer dann nicht, wenn die Selbsteinschätzung von einer Krankheit beeinträchtigt ist oder eine Therapie die vorübergehenden Einschränkungen der Lebensqualität bewusst in Kauf nimmt. Der Deutsche Ethikrat weist darauf hin, dass Lebensqualität ohnehin schwierig zu bewerten ist. Wie ein Mensch die Qualität seines Lebens empfindet, hänge schließlich stark von seiner Persönlichkeit und seinen Erfahrungen ab. Gesunde beurteilen Krankheitszustände anders als Betroffene. Und wem es bereits sehr schlecht geht, der freut sich oft schon über kleine Verbesserungen, die anderen marginal erscheinen.
In Deutschland ist das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) mit dem medizinischen Teil der Nutzenbewertung betraut. Die Fachleute untersuchen, ob sich der Gesundheitszustand der Patienten dank des neuen Medikaments bessert (Morbidität), sie länger leben (Mortalität) und eine bessere Lebensqualität erwarten können. Diese drei Faktoren werden als »patientenrelevante Endpunkte« bezeichnet. Die IQWIG-Experten sind sich der Pro-blematik insbesondere bei der Berechnung der Lebensqualität jedoch bewusst. Immer wieder reflektieren sie deshalb die eigenen Methoden oder schlagen neue Verfahren vor.
2013 etwa führte das IQWiG zwei Pilotprojekte durch, um zu erproben, wie die Interessen der von einer Krankheit betroffenen Patienten noch besser in die Bewertung von Medikamenten einfließen können. Dabei kam heraus, dass Patienten die Relevanz bestimmter Therapieziele häufig ganz anders einordneten als Ärzte oder Gesunde. Während befragte Mediziner es als am wichtigsten einstuften, dass ein neues Medikament Symptome einer Depression langfristig möglichst stark verringert, bewerteten depressive Patienten es am erheblichsten, dass ein Mittel möglichst schnell wirkt – auch, wenn es die Sym-ptome nur abschwächt. Die Wissenschaftler am IQWiG bemühen sich deshalb, Wirkstoffe möglichst nah an den betroffenen Menschen zu beurteilen.
Dazu vergleicht das IQWiG anders als als das NICE Kosten-Nutzen-Verhältnisse jeweils nur für eine Indikation, teilweise auch nur für eine bestimmte Patientengruppe. Auch die verschiedenen Aspekte einer Therapie betrachtet es getrennt. Wenn ein Medikament also als Nebenwirkung Durchfall verursacht, ein anderes dafür den Appetit hemmt, werden diese Punkte gesondert bewertet. Auch einen Schwellenwert gibt es in Deutschland nicht.
Scheinbar objektiv
Die Methoden des IQWiG sind deshalb aufwendiger und vermutlich auch teurer als die des NICE. QALY wären für Deutschland jedoch keine Alternative, da sind sich die Experten hierzulande einig. Sie befürchten, dass Patienten durch QALY diskriminiert werden könnten. Etwa, weil an bestimmten Krankheiten bestimmte Menschengruppen leiden, die sich in Alter, Geschlecht oder der Anzahl der Betroffenen unterscheiden. Oder weil sich verschiedene Aspekte von Krankheiten schlichtweg nicht miteinander vergleichen lassen.
All diese Aspekte würden durch die scheinbar objektive Kennzahl des QALY verschleiert, vermuten die Fachleute. Nicht zuletzt würde ein Schwellenwert auch dem Prinzip der Gleichbehandlung widersprechen. So ist die Entwicklung von Medikamenten gegen seltene Erkrankungen oft sehr aufwendig, entsprechend hoch der Herstellerabgabepreis. Dass dieser über dem veranschlagten Schwellenwert liegt, ist also viel wahrscheinlicher als bei Medikamenten gegen weit verbreitete Krankheiten. »Ein Schwellenwert stünde nicht im Einklang mit dem deutschen Sozialgesetzbuch«, heißt es deshalb in einer IQWiG-Publikation von 2009.
Der damalige IQWiG-Leiter Peter Sawicki bezeichnete die britische Herangehensweise als »Gewinnmaximierungs-Ethik«. Sie führe dazu, dass Krebspatienten ein teures Präparat wie Avastin® nicht bekommen, weil die Kosten im Vergleich zur gewonnenen Lebensqualität als zu hoch erscheinen. Diabetespatienten würden Insulin-analoga jedoch trotz fraglichen Zusatznutzens erstattet bekommen – weil die Kosten im Vergleich zum vermeintlichen Zugewinn an Lebensqualität als angemessen erschienen. »So etwas würde hierzulande als ungerecht wahrgenommen«, so Sawicki. /