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Helmholtz-Zentrum

Klotzen mit Klötzchen

22.03.2011  15:04 Uhr

Von Werner Kurzlechner / Die Wissenschaftler am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig betreiben Grundlagenforschung. Sie liefern dadurch wichtige Bausteine für die Entwicklung von Medikamenten und für den Arzneimittelmarkt.

Ein bisschen wie Mikado, ein bisschen wie Lego. So charakterisiert Dr. Michael Strätz einen wesentlichen Teil der Arbeit am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig.

Ein bisschen wie Mikado läuft laut Strätz, der die Abteilung Drittmittelcontrolling leitet, die naturwissenschaftliche Grundlagenforschung am Institut ab. Es geht zum Beispiel um ungeklärte Fragen zu Grippeepidemien. Warum stecken sich in einer Schulklasse zehn Schüler an und zehn nicht? Übertragen auf die Labore in Niedersachsen: Weshalb greifen die Viren die Lungenzellen der weißen Mäuse an, nicht aber jene der braunen? Die Forscher nehmen dabei neben allerlei anderen Einflüssen den genetischen Hintergrund der Betroffenen ins Visier, die unterschiedliche Struktur der Proteine. Vorsichtig ziehen sie quasi Stäbchen um Stäbchen aus dem großen Ganzen, um zu entdecken, welche gemeinsamen Merkmale immer wieder übrig bleiben.

 

Diese dürften mitverantwortlich sein für Ansteckung oder Nichtansteckung und liefern eine faktische Grundlage für den nächsten Arbeitsschritt: die Suche nach therapeutischen Ansätzen. Nach dieser Methode werden Infektionskrankheiten wie die Grippe untersucht, aber auch die Krebsforschung hat in Braunschweig ihren Platz.

 

Ein bisschen wie Lego funktioniert in aller Regel die Übertragung der neuen Erkenntnisse in die medizinische Anwendung. Aus dem HZI kommen meist keine fertigen Spielzeughubschrauber – also komplette neue Arzneimittel. Sondern leicht zu übersehende, aber dennoch elementare Bauklötze – beispielsweise innovative Verfahren für Labortests. »Wir wollen dazu beitragen, Deutschland wieder zur Apotheke der Welt zu machen«, sagt Strätz. »Dafür liefern wir Bausteine.«

 

Der Wunschtraum der Forscher am Institut sei immer die große, bahnbrechende Entdeckung eines Wirkstoffs. Dieser Traum hat sich bislang einmal erfüllt. Auf dem am Institut entdeckten und erforschten Naturwirkstoff Epothilon basiert das Brustkrebsmedikament Ixempra von Bristol Myers Squibb (BMS), das seit 2007 in USA zugelassen ist. »Wir wollen beweisen, dass unsere Forschung ganz im Sinne der Helmholtz-Mission tatsächlich hilft, konkrete Probleme in unserer Gesellschaft zu lösen«, formuliert der kommissarische wissenschaftliche Geschäftsführer, Professor Dr. Dirk Heinz, einen Anspruch des Instituts. Im Falle Epothilon ließ er sich direkt einlösen.

Meistens gelangen HZI-Erkenntnisse aber über Umwege in die pharmazeutische Anwendung. So werden Verfahren entwickelt und patentiert, die für die industrielle Arzneimittelforschung interessant sein können – als Bausteine in der Entwicklung von Medikamenten eben. Bei der Verwertung neu entwickelter Technologien arbeitet das HZI wie drei weitere Helmholtz-Zentren mit der Patent-Management-Agentur Ascenion zusammen. Sie betreut Erfindungen, meldet Schutzrechte an und kümmert sich um die Nutzung.

 

Hervorgegangen ist das HZI aus dem 1965 mit finanzieller Unterstützung der Volkswagen-Stiftung gegründeten Zentrum für Molekularbiologische Forschung, das der Bund und das Land Niedersachsen im Jahr 1976 als Gesellschaft für Biotechnologische Forschung (GBF) übernommen haben. Zwischen 2002 und 2006 wurde umstrukturiert: Die Bioverfahrenstechnik wanderte an das Institut für Toxikologie und Experimentelle Medizin der Fraunhofer-Gesellschaft in Hannover; auf dem Braunschweiger Campus konzentrierten sich die Forscher auf die Infektionsforschung. Derzeit sind am HZI rund 250 Wissenschaftler und 350 weitere Mitarbeiter beschäftigt.

 

Das Forschungsspektrum reicht von Mikrobiologie, Immunologie und Strukturbiologie über Chemie bis hin zu Genetik und Impfstoffforschung. Hier ist ein Spezialgebiet die Verbesserung von Adjuvanzien, um Vakzinen wirksamer zu machen. Ansatzpunkt in der Abwehr von Infektionskrankheiten ist die Zelle – sowohl der Bakterien als auch des Wirts. Weitere Schwerpunkte sind chronische Infektionen, die etwa in Krankenhäusern bei Patienten mit geschwächtem Immunsystem auftreten, und das Entwickeln von Wirkstoffen auf Basis von Naturstoffen wie Heilpflanzen, Pilzen oder Bakterien, die im Falle von Antibiotika-Resistenzen helfen sollen. Ein Ziel dabei sei es, den deutschen und europäischen Arzneimittelmarkt zu bereichern, berichtet Strätz. Denn eine Zulassung wie im Epothilon-Beispiel für die USA gibt es in dieser Form hierzulande nicht.

 

Über 500 Patente angemeldet

 

Nach den vorläufigen Zahlen des HZI beträgt der derzeitige Gesamtbestand erteilter Patente und lebender Patentfamilien 547. Davon sind 45 in Deutschland angemeldet. Im vorigen Jahr konnte das HZI fünf Erstanmeldungen von Patenten tätigen, eine davon hierzulande. Das HZI hat 363 Lizenzvereinbarungen mit Unternehmen, 26 davon in Deutschland. Die daraus resultierenden Lizenzeinnahmen betrugen im Jahr 2010 rund 538 000 Euro. Davon stammten 64 000 aus Deutschland. Das Institut finanziert sich vornehmlich über Drittmittel, im vergangenen Jahr flossen 17,6 Millionen Euro. Zu 5 Prozent beteiligte sich die pharmazeutische Industrie daran mit 940 000 Euro. Den Löwenanteil von sieben Millionen Euro steuerte das Bundesforschungsministerium bei, auch die Europäische Union und das Land Niedersachsen gaben Geld. Jeweils rund drei Millionen kamen von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren (HGF).

 

Vereinzelt machen sich sogar junge HZI-Forscher mit guten Ideen selbstständig. Vor einem Jahrzehnt habe es eine erste kleine Ausgründungswelle von etwa einer Handvoll Firmen gegeben, berichtet Strätz. Jüngste HZI-Ausgründung ist das Unternehmen Inscreenex der jungen Wissenschaftler Dr. Tobias May und Dr. Roland Schucht, das schaltbare Zelllinien für Medikamententests liefert. Die beiden Forscher haben Systeme reproduzierbarer Tumorzellen entwickelt, deren Tumoreigenschaft sich über einen Genschalter an- und ausknipsen lässt. Das Versprechen an die Pharmaindustrie: Diese Innovation mache eine Reihe kostspieliger und fragwürdiger Tierversuche überflüssig. Die Jungunternehmer nutzten weiterhin die Labore des Instituts für ihre Arbeit, sagt Strätz. Überhaupt veranschaulicht dieses Ausgründungsbeispiel das »Legoprinzip«: Der Nutzen des HZI für die pharmazeutische Industrie sind weniger innovative Wirkstoffe als Verfahrensbausteine, die der Arzneimittelforschung von Nutzen sein können.

 

Neue Wirkstoffe gegen Infektionen

 

Neben Kooperationen mit der Industrie und eigenen Ausgründungen sorgen andere Formen der Zusammenarbeit dafür, dass die naturwissenschaftliche Grundlagenforschung aus Braunschweig anwendbar wird. »Wir sind keine Einzelkämpfer«, betont Abteilungsleiter Strätz. So gründeten das HZI und die Medizinische Hochschule Hannover vor drei Jahren das Translationszentrum Twincore, ein als GmbH organisiertes Zentrum für Experimentelle und klinische Infektionsforschung. Gemeinsam setzen die beiden Partner ein Forschungsprogramm um, bei dem die HZI-Forscher Fragen aus der klinischen Praxis auf den Grund gehen. Im Vorfeld klinischer Tests liefern sie auch eine wissenschaftliche Basis, um vorhandene Risiken abzuschätzen. So sollen Hürden bei der Genehmigung leichter genommen werden.

 

Als Brückenkopf zur anwendungsorientierten Forschung betreibt das HZI seit 2009 das Helmholtz-Institut für Pharmazeutische Forschung Saarland (HIPS) in Saarbrücken. Diese Außenstelle fußt auf einer strategischen Allianz mit der Universität des Saarlandes. Die Wissenschaftler dort wollen Wirkstoffe aus natürlichen Quellen identifizieren, sie durch Veränderungen ihrer chemischen Struktur für einen pharmazeutischen Einsatz optimieren und den Wirkstofftransport untersuchen. Das HIPS mit Abteilungen für Mikrobielle Naturstoffe, Wirkstoffdesign und Optimierung sowie Wirkstofftransport ist das erste öffentlich geförderte Institut in Deutschland, das explizit der Pharmazie gewidmet ist. »Es wäre wunderbar«, sagt Strätz, »wenn wir eines Tages weitere Wirkstoffe gegen die großen Infektionskrankheiten finden könnten.«  /

Tag der offenen Tür

Am 21. Mai 2011 informiert das Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig über seine Arbeit. Für Besucher ist zwischen 11 und 18 Uhr geöffnet. Nähere Informationen unter www.helmholtz-hzi.de.

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