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Krebsassoziierte Fatigue

Extreme Erschöpfung

12.03.2018  12:08 Uhr

Von Martina Schmidt und Karen Steindorf / Viele Krebspatienten leiden während der Therapie unter Fatigue, einer extremen Erschöpfung, die die Lebensqualität massiv einschränkt. Bei rund einem Drittel hält dieser belastende Zustand Monate oder gar Jahre nach Ende der Krebstherapie an. Jedoch wird die Fatigue oft unzureichend behandelt.

Die krebsassoziierte Fatigue ist eine der häufigsten Komplikationen während und nach einer Krebserkrankung und -therapie. Sie wird von den Patienten oft als anhaltendes Gefühl von starker Erschöpfung beschrieben, die sowohl im physischen als auch im emotionalen und/oder kognitiven Bereich liegen kann. Das National Comprehensive Cancer Network (NCCN) veröffentlichte 2013 eine Definition: »Krebsassoziierte Fatigue ist ein belastendes und andauerndes subjektives Empfinden physischer, emotionaler und/oder kognitiver Erschöpfung in Zusammenhang mit einer Krebserkrankung und deren Behandlung, das nicht proportional zu einer Aktivität steht und die Funktionen des Alltags beeinträchtigt.«

Tabelle 1: Mögliche Ursachen einer krebsassoziierten Fatigue

Faktoren Beispiele
Krebstherapie Chemotherapie, Bestrahlung, Medikamente
somatisch Anämie, Mangelernährung, Hormonungleichgewicht, Stoffwechselstörungen, Immunfunktion
psychisch Ängstlichkeit, Depressivität, emotionale Belastungen
Verhaltensfaktoren körperliche Aktivität, Ernährungsverhalten
Komorbiditäten (chronische) Schmerzen, Schlafprobleme, Infektionen, Organ­schäden, körperliche Dekompensation

Während einer Krebstherapie leiden etwa 70 bis 90 Prozent aller Patienten unter Fatigue. Bei rund einem Drittel hält dieses stark belastende Syndrom noch Monate oder gar Jahre nach Ende der Therapie an. Fatigue ist eine komplexe Symptomatik mit zahlreichen Einflussfaktoren. Sie tritt bei den meisten Krebsarten und verschiedenen ­Therapien, insbesondere bei der Chemotherapie auf.

 

Abzugrenzen ist die krebsassoziierte Fatigue von dem Fatigue-Begriff, der im sportwissenschaftlichen Bereich für die Ermüdung der Muskulatur durch körperliche Belastung verwendet wird, sowie vom chronischen Fatigue-Syndrom, auch Myalgische Enzephalomyelitis genannt. Die Symptome können sich jedoch überlappen. Auch Menschen aus der Allgemeinbevölkerung berichten über solche Erschöpfungssymptome; diese sind jedoch mit dem Alter assoziiert und meist deutlich geringer ausgeprägt als bei Krebspatienten. Während in der Allgemeinbevöl­kerung in allen Altersgruppen Frauen höhere Fatigue-Werte als Männer berichten, zeigt sich bei Krebspatienten bisher kein eindeutiger Einfluss des ­Geschlechts (1).

 

Fatigue ist extrem belastend und beeinträchtigt die Lebensqualität des Patienten und das soziale Umfeld (Partnerschaft, Familie, Freunde) stark. Sie ist ein häufiger Grund, dass Krebsüberlebende nicht mehr oder nur eingeschränkt berufstätig sind. Darüber hinaus ist sie auch klinisch relevant, da sie zu mangelnder Compliance oder gar Abbruch der Krebstherapie und somit zu einer schlechteren Prognose führen kann. Hohe Fatigue-Level in der Allgemeinbevölkerung zeigen zudem eine signifikante Assoziation mit erhöhter Mortalität, auch nach Adjustierung für weitere Einflussfaktoren (2).

Diagnostische Kriterien nach David Cella

A) Sechs (oder mehr) der folgenden Symptome bestehen täglich oder fast täglich während einer Zwei-Wochen-Periode im vergangenen Monat: 

  • Müdigkeit, Energiemangel oder ­unverhältnismäßig gesteigertes ­Ruhebedürfnis
  • Gefühl der allgemeinen Schwäche oder Gliederschwere
  • Konzentrationsstörungen
  • Mangel an Motivation, den normalen Alltagsaktivitäten nachzugehen
  • Schlaflosigkeit oder übermäßiges Schlafbedürfnis
  • Erleben des Schlafs als wenig ­erholsam
  • Gefühl, sich zu jeder Aktivität ­zwingen zu müssen
  • ausgeprägte emotionale Reaktion auf die Erschöpfung, zum Beispiel Niedergeschlagenheit, Frustration, Reizbarkeit
  • Schwierigkeiten bei der ­Bewältigung des Alltags
  • Störungen des Kurzzeit­gedächtnisses
  • nach körperlicher Anstrengung mehrere Stunden andauerndes ­Unwohlsein

B) Die Symptome verursachen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funk­tionsbereichen.

 

C) Aus Anamnese, körperlichen Untersuchungen oder Laborbefunden geht hervor, dass die Symptome Konsequenzen einer Tumorerkrankung oder ihrer Behandlungen sind.

 

D) Die Symptome sind nicht primär Konsequenz einer komorbiden psy­chiatrischen Störung, beispielsweise einer majoren Depression, einer Somatisierungs- oder somatoformen Störung oder eines Delirs.

Erfassung mit Fragebögen

 

Die Patienten nehmen eine Fatigue subjektiv unterschiedlich wahr. Es gibt keine eindeutigen objektiven Diagnostikmethoden. Darum wird sie im klinischen Screening und in wissenschaft­lichen Studien mittels Fragebögen erfasst.

 

Es gibt eine Reihe validierter Instrumente, die die verschiedenen Dimensionen der Fatigue mit mehreren Fragen wie »Hat es Ihnen an Energie gefehlt?« oder »Fiel es Ihnen schwer, Dinge in Angriff zu nehmen?« erfassen. Beispiele sind der neu entwickelte Fragebogen EORTC-FA12 der European Organisation for Research and Treatment of Cancer, der Multidimensional Fatigue Inven­tory (MFI-20), der Fatigue Assessment Questionnaire (FAQ) und der Brief ­Fatigue Inventory (BFI). Dabei schätzt der Patient pro Frage den Schweregrad seiner Betroffenheit ein, woraus ­Summenscores für die verschiedenen Dimensionen, beispielsweise die phy­sische, emotionale und kognitive ­Fatigue, sowie die Gesamtbelastung gebildet werden.

 

Darüber hinaus entwickelten David Cella und Kollegen bereits 1995 diagnostische Kriterien für krebsassoziierte Fatigue, die sich als gut praktikabel und hilfreich für den klinischen Alltag erwiesen haben (Kasten). Die Kriterien werden auch in Deutschland in Fatigue-Sprechstunden als Richtschnur verwendet. Eine klare Diagnosestellung anhand definierter ICD-Kriterien gibt es nicht und auch mit den Kriterien von David Cella ist dies nur bedingt möglich (3).

 

Wie können Apotheker Hinweise auf eine mögliche krebsassoziierte Fatigue bei ratsuchenden Patienten erkennen? Wenn Krebsbetroffene während oder auch lange Zeit nach der Therapie klagen, dass sie sich oft müde und erschöpft fühlen, das Gefühl haben, sich zu jeder Aktivität zwingen zu müssen, keine wirkliche Erholung durch Schlaf finden, unter Gedächtnis- oder Konzen­trationsschwierigkeiten leiden oder sich die Erschöpfung auch psychisch niederschlägt, könnte eine Fatigue vorliegen. Wenn diese Symptome häufig oder gar andauernd auftreten und keine klare andere Ursache, etwa eine akute Erkrankung, erkennbar ist, brauchen die ­Betroffenen unbedingt eine genauere Fatigue-Diagnostik beim Arzt.

Pathophysiologie ­weitgehend unklar

 

Die genauen Ursachen und die Pathophysiologie der krebsassoziierten Fatigue sind noch weitgehend unklar. Jedoch gilt als sicher, dass verschiedene Ursachen und Einflussfaktoren zugrunde liegen können, zum Beispiel der Tumor selbst, die Krebsbehandlung und Folgeprobleme wie Anämie oder hormonelle Störungen, psychische Faktoren wie Angst und Depressivität, Schlafprobleme und eine ­reduzierte körperliche Leistungs­fähigkeit (4). Auch Neben- und Wechselwirkungen pharmakologischer Therapien und Komorbiditäten müssen als Ursachen berücksichtigt werden (Tabelle 1).

 

Auf molekularer Ebene können sowohl zentrale als auch periphere Funktionen gestört sein. Derzeit wird vor allem diskutiert über eine Dysregulation inflammatorischer Zytokine, immunologische Faktoren, Dysregulation der Hypothalamus-Hypophyse-Nebennieren-(HPA)-Achse, Störungen des zirkadianen Rhythmus und des Schlaf-Wach-Rhythmus, neuro-muskuläre Faktoren, Aktivierung vagal afferenter Nerven sowie metabolische oder endokrine Störungen (5).

 

Insgesamt sind die Erkenntnisse zu Ursachen und Pathophysiologie von Fatigue noch sehr diffus und unzureichend. Ein Grund dafür könnte sein, dass sich hinter dem Symptom Fatigue in Wirklichkeit eine Vielzahl von unterschiedlichen Erschöpfungszuständen mit verschiedenen Charakteristika, Verläufen und Pathophysiologie verbirgt, die derzeit aber von Patienten, Ärzten und Wissenschaftlern unter den allgemeinen Begriff »krebsassoziierte Fatigue« subsummiert wird.

 

Neue Untersuchungen der Verläufe, Ausprägungen und Determinanten von Fatigue bei Brustkrebs-Patientinnen während und etwa ein Jahr nach der adjuvanten Therapie stützen die Hypothese von verschiedenen Fatigue-Subtypen (Abbildung 1). So konnte in Stu­dien eine akute physische Fatigue während der Krebstherapie identifiziert werden, die anschließend meist wieder abklang. Abzugrenzen war eine lang anhaltende Fatigue, die sich in physischer, emotionaler und kognitiver Dimension manifestierte (4).

 

Diese verschiedenen Ausprägungen waren mit unterschiedlichen Einflussfaktoren assoziiert (Abbildung 1). Generell kristallisieren sich als Faktoren für persistierende Fatigue Übergewicht/Adipositas, körperliche Inaktivität, (vorbestehende) psychische Probleme, Schlafstörungen und fehlende Sozialkontakte heraus. Auch Menopause-Symptome, eventuell ein Indikator für durch die Krebstherapie ­erniedrigte Estrogenspiegel, schienen bei den Frauen mit verstärkter Fatigue einherzugehen.

 

So früh wie möglich ­behandeln

Um einer Chronifizierung vorzubeugen, sollte Fatigue so früh wie möglich verhindert sowie behandelt werden, in der Regel meist schon während der Krebstherapie. Nach den aktuellen Empfehlungen sind dabei nicht-pharmakologische Verfahren aufgrund ­ihrer nachgewiesenen Wirksamkeit in den Vordergrund zu stellen, die jedoch in begründeten Einzelfällen durch eine pharmakologische Behandlung ergänzt werden können (6).

 

Die derzeit vielversprechendsten nicht-pharmakologischen Therapie­ansätze sind Sport und Bewegungs­therapien sowie psychologische Interventionen (Abbildung 2). Eine aktuelle Metaanalyse über 113 randomisiert-kontrollierte Interventionsstudien ergab signifikant bessere Effekte von Sport sowie psychologischen Inter­ventionen im Vergleich zu Medikamenten (7).

 

Darüber hinaus gibt es zahlreiche weitere nicht-pharmakologische Ansätze, die symptomorientiert zur Linderung von Fatigue beitragen könnten, etwa Ernährungsberatung bei Kachexie, Übergewicht oder Mangelerscheinungen, Schlaftraining oder Entspannungsübungen. Akupressur verbesserte in einer randomisiert-kontrollierten Studie mit 270 Brustkrebs-Überlebenden signifikant persistierende Fatigue und Schlafstörungen (8). Auch Akupunktur ist ein möglicher Ansatz (9). Mehrere randomisierte kontrollierte Studien zeigten zudem positive Wirkungen von Yoga. Allerdings schlossen die meisten Studien nur Brustkrebs-­Patientinnen ein, sodass Erkenntnisse zu anderen Krebsarten und insbe­sondere zu Männern noch ausstehen (6, 10).

Tabelle 2: Vielfältige Effekte von Bewegung, körperlichem Training und Sport gegen Fatigue

Ebene Effekte auf (Beispiele)
körperlich Ausdauerleistung, Kraft, Fett- und Muskelmasse
psycho-sozial Gruppenerlebnis, Aufmerksamkeit, aktiv werden, ­Selbstwirksamkeit
psychisch Depression, Ängstlichkeit, Distress
biologisch Entzündungswerte, Immunfunktion, Hormonregulation, Cortisol/HPA-Achse

Psychologische Interventionen

 

Die Psychoedukation soll das Selbstmanagement fördern und dem Patienten helfen, die Folgen von Fatigue zu bewältigen. Ein aktueller Cochrane-Review (11) kommt zu dem Schluss, dass Psychoedukation ein sinnvoller unterstützender Ansatz ist, jedoch aufgrund der Komplexität der Fatigue-Symptomatik nicht als alleinige Behandlung ausreicht (Abbildung 2).

 

Kognitive Verhaltenstherapien (KVT) zielen auf Einstellungen, Gedanken, ­Bewertungen und Überzeugungen in Bezug auf Fatigue ab, zum Beispiel Angst vor einem Fortschreiten der Krebserkrankung oder fehlende soziale Unterstützung. Die Leitlinie des National Comprehensive Cancer Network (NCCN) zu Fatigue bewertet die Evidenz für positive Wirkungen von kognitiven Verhaltenstherapien und psychoedukativen Therapien während einer Krebstherapie als hoch (6).

 

Zur Minderung von Fatigue nach einer Krebstherapie erwähnt das NCCN noch Mindfulness-based Stress Reduction (MBSR) und supportive expressive Therapien. Die MBSR-Methode enthält unter anderem Übungen zur Körperwahrnehmung, Achtsamkeit, Meditation und Yogastellungen. Bei supportiven expressiven Therapien soll der Patient mithilfe eines Therapeuten oder in einer Gruppe angeregt werden, seine Emotionen auszudrücken und so negative Gefühle ­besser verarbeiten zu können.

Die besondere Rolle ­ von Sport

 

Mehrere große Metaanalysen mit bis zu 70 randomisiert-kontrollierten Interventionsstudien ergaben, dass sowohl Ausdauer- als auch Krafttraining signifikante Effekte hinsichtlich Fati­gue während und nach der Krebstherapie haben können (Abbildung 2). Jedoch waren die Effektstärken meist im niedrigen bis mittleren Bereich (7).

 

In unseren eigenen randomisierten Sportinterventionsstudien für Brustkrebs-Patientinnen unter adjuvanter Therapie konnten wir zeigen, dass die positiven Effekte von Sport zur Vorbeugung beziehungsweise Linderung von Fatigue über die psychosozialen Effekte einer supervidierten Sportgruppe hinausgehen. Dieses Ergebnis erlaubt Rückschlüsse auf direkte physiologische Wirkmechanismen von körperlichem Training (12).

 

Die allgemeine Empfehlung lautet daher, Krebspatienten so früh wie möglich zu mindestens 150 Minuten körperlicher Aktivität pro Woche zu motivieren. Dabei sind Aktivitäten von mindestens moderater Intensität anzustreben, beispielsweise Radfahren oder Nordic Walking.

 

Zahlreiche Studien deuten darauf hin, dass intensivere sportliche Aktivität größere Effekte ergibt. Generell sollte das Training fachkundig begleitet und individuell auf den Gesundheitszustand des Patienten ausgerichtet sein. Dazu ist eine (sport-)medizinische Sporttauglichkeitsuntersuchung anzuraten. Mitunter ist Training nicht oder nur in Absprachen mit dem behandelnden Arzt möglich. Das gilt zum Beispiel bei schweren Begleiterkrankungen, ungewollter starker Gewichtsreduktion, bruchgefährdeten Knochenmetastasen, Anämie, akuten Infekten/Fieber oder starken Schwindelanfällen. Weiterführende Informationen finden sich im Ratgeber zu Sport, Bewegung und Krebs des Krebsverbands Baden-Württemberg (siehe Linkliste).

 

Medikamente als Add-on

Da die genauen Ursachen und Wirkmechanismen von Fatigue weitgehend unklar sind, erfolgt eine pharmakologische Behandlung meist symptomorientiert. So gelten Anämien als eine mögliche Ursache von Fatigue und sollten behandelt werden. Die Gabe von Erythropoese-stimulierenden Medikamenten oder Bluttransfusionen muss dabei gegen mögliche Risiken abgewogen werden.

 

Endokrine Störungen wie Diabetes, Hypothyreose, Hypogonadismus oder Niereninsuffizienz können ebenfalls zu Fatigue-artigen Symptomen beitragen. Sie sollten nach entsprechender (Labor-)Diagnostik leitliniengemäß behandelt werden. Das Gleiche gilt für Mangelernährung, Störungen im Elek­trolythaushalt, Infektionen und chronische Schmerzen.

 

Da Fatigue stark assoziiert ist mit Schlafstörungen, depressiven Symptomen und kognitiven Problemen, geht man davon aus, dass eine Reduktion dieser Symptome zur Verminderung der Erschöpfung beitragen kann. Daher wurden Antidepressiva, Psychostimulanzien, Schlafmedikamente, Gluco­corticoide sowie Phytotherapeutika untersucht, die auf serotonerge oder dopaminerge Systeme des Zentralnervensystems abzielen.

 

Derzeit empfiehlt das NCCN, während oder nach einer Krebstherapie den Einsatz von Methylphenidat zur Behandlung von Fatigue zu erwägen, wenn andere Ursachen ausgeschlossen wurden (6). Zu Modafinil nach Abschluss der adjuvanten Therapie wird nicht geraten; für eine Anwendung während der Krebstherapie reicht die Datenlage nicht aus. Bei Patienten mit einer fortgeschrittenen Erkrankung kann ein vorsichtiger Einsatz von Methylphenidat gegen Fatigue erwogen werden (6). Glucocorticoide, insbesondere Dexamethason, zeigten einige ­Effekte, die weiter erforscht werden müssen (13).

 

In Deutschland sind diese Medikamente im Hinblick auf Fatigue bislang nur in wissenschaftlichen Studien erlaubt. Ob Tranquilizer zur Verringerung von Schlafproblemen auch die Fatigue verbessern, ist nicht belegt. Potenzielle Nebenwirkungen durch falschen oder übermäßigen Gebrauch, zum Beispiel Tagesschläfrigkeit, Entzugssymptome, Rebound-Insomnie oder Gedächtnisprobleme, sind sorgsam gegen einen potenziellen Nutzen abzuwägen. Bei Schlafproblemen sollte eine professionelle Beratung und Unterstützung bezüglich Art der Störungen und Schlafhygiene im Vordergrund stehen.

 

Zu Nahrungsergänzungsmitteln, ­Vitaminen, Phytotherapeutika oder anderen Arzneimitteln der besonderen Therapierichtungen gibt es wenig klare Evidenz (6). Nur für Ginseng gibt es einige Hinweise auf eine mögliche Wirksamkeit. Amerikanischer Ginseng (Panax quinquefolius) verbesserte in einer großen doppelblinden randomisiert-kontrollierten Studie die Fatigue (14). Auch der asiatische Ginseng (Panax ginseng), der in Deutschland als Arzneimittel gegen Erschöpfung zugelassen ist, reduzierte signifikant die Beschwerden. Ein aktueller Review schätzte die Evidenz für eine positive Wirkung von Panax ginseng als gut ein (15). Darüber hinaus gibt es Hinweise auf mögliche positive Effekte von Guaranà (Paullinia cupana) (15).

 

Was bedeutet das für die Praxis?

Derzeit gibt es keine deutschlandweit einheitliche Leitlinie zur Vorbeugung oder Behandlung von krebsassoziierter Fatigue. Patienten können sich an die Psychoonkologischen Beratungsdienste wenden. Im Krebsverband Bayern, aber auch an vielen Kliniken, etwa an der Charité Berlin, gibt es spezifische Fatigue-Sprechstunden (siehe Linkliste).

 

Entsprechend der NCCN-Leitlinien sollten alle Krebspatienten regelmäßig sowohl während als auch in den Jahren nach der Therapie auf Fatigue gescreent werden. Falls es Anzeichen gibt, sollte eine ausführliche Differenzial­diagnose erfolgen, die primäre Einflussfaktoren wie Anämie, endokrine Störungen, Elektrolytstörungen, Mangelernährung, Schlafstörungen oder Depression abklärt. Bei Bedarf ist ­symptomorientiert zu behandeln. Darüber hinaus sollten – je nach Ausprägung der Fatigue (eher physisch oder eher ­affektiv/kognitiv) und persönlichen ­Präferenzen und Möglichkeiten des Patienten – eine Sporttherapie und ein ­Training bei einem speziell für Krebspatienten geschulten Anbieter oder eine psychoedukative oder kognitiv-behaviorale Therapie empfohlen werden.

 

Auch Apotheker können ratsuchenden Patienten helfen. Ein erster wichtiger Schritt ist Information und Aufklärung. Viele Krebspatienten wissen nicht, was Fatigue ist und sprechen ihre Erschöpfung beim behandelnden Arzt nicht an. Hier ist es hilfreich, den Patienten deutlich zu machen, dass sie mit dieser Erschöpfungssymptomatik nicht alleine sind, sondern sehr viele Patienten daran leiden. Es gilt auch, die häufige Angst abzubauen, dass ­Fatigue ein Zeichen für eine fortschreitende Erkrankung ist. Apotheker können die Patienten und ihre Angehörigen ermuntern, mit ihrem Arzt über die Beschwerden zu sprechen und bei einer Fatigue-Sprechstunde oder einem psychoonkologischen Dienst Rat zu suchen.

 

Wichtig ist zudem, die aktuelle Medikation zu überprüfen, da Müdigkeit auch als Nebenwirkung von Medikamenten auftreten kann. Dies gilt zum Beispiel für Patienten unter L-Thyroxin-Behandlung, da während einer Chemotherapie durch metabolische Verän­derungen eine Dosisanpassung für ­L-Thyroxin nötig sein kann.

 

Insbesondere sollten Apotheker den Patienten zu körperlicher Bewegung und geeigneten Sportprogrammen raten. Neben supervidiertem Kraft- und Ausdauertraining sowie Yoga gibt es zahlreiche Möglichkeiten wie gemeinsames (Nordic) Walking oder Tanztherapien. Gerade Menschen, die vor der Diagnose keinen Sport getrieben haben, haben oft eine Hemmschwelle, die es durch Motivation und gute Angebote zu überwinden gilt. Die Patienten sollten verstehen, dass es jederzeit gut ist, mit Sport und Bewegung (wieder) zu beginnen.

 

Kurz gesagt: Eine Fatigue ist häufig und die Patienten brauchen eine effektive, individuell ausgerichtete Behandlung dieses belastenden Symptoms. Dazu ist eine differenziertere Betrachtung und Identifizierung pathophysiologisch unterschiedlicher Subtypen von Fatigue dringend geboten – sowohl in der Forschung als auch im klinischen Alltag. /

Weiterführende Links und Literatur

Tumor-Fatigue-Sprechstunde der Bayerischen Krebsgesellschaft: www.bayerische-krebsgesellschaft.de/index.php?presse/projekte

 

Tumor-assoziierte Fatigue an der Charité Berlin: https://immunologie.charite.de/patientenversorgung/tumorfatigue_sprechstunde/tumor_assoziierte_fatigue

 

Krebsverband Baden-Württemberg: www.krebsverband-bw.de/mehr-wissen-besser-leben/praevention

 

Heim, M. E., Weis, J., Fatigue bei Krebserkrankungen. Schattauer 2015. ISBN 978-3-7945-2946-9

Literatur 

  1. Wang, X. S., et al., Prevalence and characteristics of moderate to severe fatigue: a multicenter study in cancer patients and survivors. Cancer 2014;120(3):425-432.
  2. Basu, N., et al., Fatigue is associated with ­excess mortality in the general population: results from the EPIC-Norfolk study. BMC medicine 2016;14(1):122.
  3. Donovan, K. A., et al., A systematic review of research using the diagnostic criteria for cancer-related fatigue. Psycho-oncology 2013;22(4):737-744.
  4. Schmidt, M. E., et al., Determinants of physical, affective, and cognitive fatigue during breast cancer therapy and 12 months follow-up. Int J Cancer 2017.
  5. Saligan, L. N., et al., The biology of cancer-related fatigue: a review of the literature. Supportive care in cancer 2015;23(8):2461-2478.
  6. Berger, A. M., et al., Cancer-Related Fatigue, Version 2.2015. J Nat Comprehensive Cancer Network. JNCCN 2015;13(8):1012-1039.
  7. Mustian, K. M., et al., Comparison of Pharmaceutical, Psychological, and Exercise Treatments for Cancer-Related Fatigue: A Meta-analysis. JAMA oncology 2017;3(7):961-968.
  8. Zick, S. M., Set al., Investigation of 2 Types of Self-administered Acupressure for Persistent Cancer-Related Fatigue in Breast Cancer Survivors: A Randomized Clinical Trial. JAMA oncology 2016.
  9. Posadzki, P., et al., Acupuncture for cancer-related fatigue: a systematic review of randomized clinical trials. Supportive care in Cancer 2013;21(7):2067-2073.
  10. Buffart, L. M., et al., Physical and psychosocial benefits of yoga in cancer patients and survivors, a systematic review and meta-analysis of randomized controlled trials. BMC cancer 2012;12:559.
  11. Bennett, S., et al., Educational interventions for the management of cancer-related fatigue in adults. The Cochrane database of systematic reviews 2016;11:CD008144.
  12. Steindorf, K., et al., Randomized, controlled trial of resistance training in breast cancer patients receiving adjuvant radiotherapy: results on cancer-related fatigue and quality of life. Ann Oncol/ESMO 2014;25(11):2237-2243.
  13. Yennurajalingam, S., et al., Reduction of cancer-related fatigue with dexamethasone: a double-blind, randomized, placebo-controlled trial in patients with advanced cancer. J Clin Oncol 2013;31(25):3076-3082.
  14. Barton, D. L., et al., Wisconsin Ginseng (Panax quinquefolius) to improve cancer-related fatigue: a randomized, double-blind trial, J Nat Cancer Inst 2013;105(16):1230-1238.
  15. Rossi, E., et al., Add-On Complementary Medicine in Cancer Care: Evidence in Literature and Experiences of Integration. Medicines 2017;4(1).

Die Autorinnen

Karen Steindorf leitet die Abteilung »Bewegung, Präventionsforschung und Krebs« am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) und am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) in Heidelberg. Sie studierte Statistik und Theoretische Medizin an den Universitäten Dortmund und Sheffield, Großbritannien. Ihre wissenschaftliche Tätigkeit setzte sie als Epidemiologin am DKFZ und am National Cancer Institute in Bethesda, USA, fort, unterbrochen von einer mehrjährigen Tätigkeit in der pharmazeutischen Industrie. 1995 wurde sie an der Universität Dortmund promoviert. 2007 habilitierte sich Steindorf an der Medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg und wurde 2011 zur (apl.) Professorin ernannt. Neben ihrer Forschung zu krebsrisikosenkenden Effekten von körperlicher Aktivität leitet sie zahlreiche randomisierte, klinische Interventionsstudien zur Erforschung der positiven Effekte von Bewegungstherapien für Krebspatienten.

 

Martina Schmidt studierte Mathematik mit Nebenfach Biologie an der Universität Mainz (1995 Diplom) und arbeitete anschließend drei Jahre als Data Analyst und Statistikerin in einem Auftragsforschungsinstitut (Pharmaceutical Research Associated, PRA Mannheim). Von 1999 bis 2001 war sie am Fred Hutchinson Cancer Research Center in Seattle, USA, als Statistical Research Assistant im Bereich Klinischer Studien tätig. Nach ihrer Rückkehr wurde sie im Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) im Bereich Epidemiologie promoviert und forscht seitdem mit Karen Steindorf zusammen auf dem Gebiet Körperliche Aktivität und Lebensqualität bei Krebs mit einem besonderen Fokus auf krebs­assoziierter Fatigue.

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Dr. Martina Schmidt und Professor Dr. Karen Steindorf, Abteilung Bewegung

Präventionsforschung und Krebs, ­Deutsches Krebsforschungszentrum (DKFZ) und Nationales Centrum für ­Tumorerkrankungen (NCT)

Im Neuenheimer Feld 581
69120 Heidelberg
E-Mail: m.schmidt@dkfz.dek.steindorf@dkfz.de

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