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Evidenzbasierte Selbstmedikation

Den Einzelfall im Blick haben

16.03.2016  08:59 Uhr

Von Iris Hinneburg, Köln / Noch immer hält sich das Gerücht, evidenzbasierte Pharmazie propagiere »Kochbuch«-Lösungen. Ein Workshop im Rahmen der Jahrestagung des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin in Köln räumte mit diesem Vorurteil auf.

Die Forderung nach Evidenzbasierung ist auch bei der Beratung in der Selbstmedikation angekommen. So beschreibt es etwa das Perspektivpapier »Apotheke 2030«. Doch wie lässt sich eine evidenzbasierte Pharmazie, die sich am Patienten orientiert, in der Praxis umsetzen? Dieser Frage gingen die Teilnehmer des Workshops »Evidenzbasierte Patientenberatung in der Apotheke« unter Leitung von Dr. Oliver Schwalbe von der Apothekerkammer Westfalen-Lippe und André Wilmer vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) nach.

Schwalbe und Wilmer machten deutlich, dass die evidenzbasierte Pharmazie nicht nur auf klinischen Studien beruht, sondern dass neben der pharmazeutischen Erfahrung vor allem auch die Wünsche und Präferenzen des Patienten eine Rolle spielen. »Es ist immer eine individuelle Beratungssitua­tion, bei der man abwägen muss«, sagte Schwalbe.

 

Eigene Meinung bilden

 

Allerdings spielt die Evidenz aus klinischen Studien dabei eine wichtige Rolle, zu der sich der Apotheker eine eigene Meinung bilden muss: »Wichtig ist, dass wir uns nicht von der Pharma­industrie vorschreiben lassen, was gut ist, sondern dass wir es selbst bewerten können.« Wilmer wies da-rauf hin, dass man sich bei der Bewertung nicht von Surrogat-Parametern blenden lassen darf, sondern immer fragen muss: »Was hilft dem Patienten?« Das Ergebnis dieser Bewertung muss dann an den Patienten kommuniziert werden, damit dieser eine eigene Entscheidung treffen kann. Dabei muss der Apotheker, so Schwalbe, aber kritisch prüfen, ob sich die vorhandene Evidenz auf den jeweiligen Patienten und seine Situa­tion überhaupt anwenden lässt.

 

Schwalbe demonstrierte am Beispiel einer Studie mit Analgetika zur Linderung von Kopfschmerzen, dass sich anhand der Evidenz nicht immer eine eindeutige Aussage treffen lässt. Die Studie verglich zwei Kopfschmerzpräparate mit identischem Wirkstoff im Hinblick auf die Geschwindigkeit der Schmerzlinderung. Allerdings ließ das Studiendsign einige Fragen offen. So wurde die Wirksamkeit zur Schmerzbehandlung in einem Modell untersucht, bei dem den Probanden ein Weisheitszahn entfernt wurde. Zwar akzeptiert die Europäische Arzneimittelagentur dieses Modell als Wirksamkeitsnachweis für Analgetika im Rahmen der Zulassung bei akuten Schmerzen von schwacher oder moderater Intensität. Doch ist damit nicht zweifelsfrei belegt, ob bei Patienten mit Kopfschmerzen das neuere Präparat tatsächlich auch schneller helfen würde als das alte und wie groß der Zeitvorteil dann tatsächlich ausfiele.

 

Die Teilnehmer diskutierten, dass in einer solchen Situation der Apotheker den Patienten über diese Unsicherheit informieren sollte. Dann kann dieser selbst entscheiden, ob ihm die möglicherweise schnellere Linderung der Kopfschmerzen den höheren Preis wert ist. Selbstverständlich steht es ihm auch frei, sich gegen das neuere Präparat zu entscheiden, wenn er nicht bereit ist, für einen unsicheren Vorteil mehr Geld auszugeben.

 

Valide Sekundärliteratur

 

Wie kann der Apotheker für eine bestimmte Beratungsfrage die bestverfügbare Evidenz finden? »Es ist gefährlich, sich allein auf die vom Hersteller zitierte Literatur zu verlassen«, warnte Wilmer. Gleichzeitig gibt es aber das Problem, dass eine ausführliche Recherche von Primärliteratur im Apothekenalltag meist nicht umsetzbar ist. »Dafür fehlt in der Offizin häufig die Zeit«, so Schwalbe. So lange es eine evidenzbasierte OTC-Datenbank nicht gibt, ist es deshalb sinnvoll, in der Praxis valide Quellen der Sekundärliteratur nutzen. Schwalbe und Wilmer verwiesen auf deutschsprachige kostenfreie Quellen wie Cochrane Kompakt oder das IQWiG-Portal www.gesundheits information.de, in denen sich relevante Informationen für die Beratung in der Apotheke fänden. Zudem biete die Pharmaziebibliothek des Fachbereichs Evidenzbasierte Pharmazie im Deutschen Netzwerk Evidenzbasierte Medizin weitere Links zu evidenzbasierten Quellen. Für individuelle Fragen, die sich in der Apotheke stellen, seien die regionalen Arzneimittelinformationsstellen der Kammern gute Ansprechpartner.

 

Für die Kommunikation mit dem Patienten können grafische Darstellungen hilfreich sein, um die Größe des Therapieeffekts zu verdeutlichen. Besonders bei der Beratung zu Nebenwirkungen ist Fingerspitzengefühl gefragt: Der Apotheker sollte mögliche Risiken weder pauschal herabspielen noch den Patienten beunruhigen. In jedem Fall ist es wichtig, die individuellen Risikofaktoren des Patienten bei der Beratung zu berücksichtigen. /

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